Gehen oder Der zweite April - Um den Freitod im Alter kreisen Jean-Michel Räbers Stück und Frank Abts Uraufführung in Potsdam
Gehen Gegangen
Von Janis El-Bira
Potsdam, 18. Januar 2019. Alles auf dem Weg: Fast einhundert Minuten lang schleicht an diesem Abend im Potsdamer Hans Otto Theater die weit aufgerissene Bühne um die eigene Achse und mit ihr ein Küchenverhau aus zwei Wänden, Herd und Spüle, Tisch und Ofen. Eine Ahnung von Kulisse, ein Hauch von Eigenheim, sicherlich nicht schön, eigentlich nicht einmal gemütlich. Ein Klavier fährt auch noch mit, mehr Nutzinstrument als Requisite. Das alles dreht und exzentriert sich also, verliert seinen festen Ort. Manchmal kommt das Ensemble herbei, schiebt und wendet die Küchenzeile – es hilft nichts, denn die Zeit will nicht stille stehen, die Welt nicht wieder in die Fugen finden. Nur vorne rechts herrscht Ruhe. Denn dort sitzen zwei Puppen, nackt und faltig, als Abbilder von Frau und Mann geschaffen, nicht gezeugt, und damit keiner Vergänglichkeit unterworfen. Ganz anders Arne (Joachim Berger) und Lore (Rita Feldmeier), die gelegentlich mit den Puppen spielen. Denn Arne und Lore sind seit fast einem Menschenleben ein Paar. Sie sind zusammen alt geworden – und jetzt wollen sie sterben.
Alle-haben-ihre-Gründe-Stück
Es ist ein schönes, poetisches Dispositiv, das Bühnenbildner Michael Köpke für die Uraufführung von Jean-Michel Räbers "Gehen oder Der zweite April" gefunden hat. Dabei ist das Stück die Theatralisierung einer realen, mithin bitteren und nur mit einiger Mühe poetisch zu nennenden Angelegenheit. Vor drei Jahren las der Autor im Magazin der Süddeutschen Zeitung eine lange Geschichte des Journalisten Stephan Hille. Darin schildert dieser minutiös den gemeinsamen Freitod der Eltern eines engen Freundes. Der Vater leidet an Parkinson, die Mutter ist kerngesund. Der Tod könnte also noch lange auf sich warten lassen, doch weil die Eltern – bestes Schweizer Großbürgertum – ihre lange Ehe als "Kunstwerk" betrachten, wollen sie ihr Leben gegen den Widerstand des Sohnes nun selbst "fertig machen". Gemeinsam nehmen sie Gift. Unausdenkbar grausame Ironie: Die gesunde Mutter stirbt plangemäß, der kranke Vater überlebt. Seine Reise zu ihr führt schließlich über einen Schweizer Sterbehilfe-Verein.
Hilles Geschichte ist ein Text wie aus Glas gebaut. Schonungslos präzise, klar bis an den Rand der Kälte – und damit in vielem das Gegenteil von Räbers Stück, das die Familie um mehrere, unterschiedlich verständnisvolle Kinder erweitert und somit eine redliche Alle-haben-ihre-Gründe-Dramaturgie etabliert, die gelegentlich die Herkunft des Autors aus dem Kinder- und Jugendtheater verrät. Räbers Interesse gilt weniger den existentiellen Fragen am Lebensende als dem Aufbrechen diesseitiger Konflikte, wenn der Tod wie ein runder Hochzeitstag geplant wird: Haben die Eltern der durchs Leben stolpernden Jule (Laura Maria Hänsel) zu selten gesagt, dass sie klug und schön ist? Ist die akut Burn-Out-gefährdete Anna (Katja Zinsmeister) zu viel gefördert und gefordert worden? Und ist der Mansplainer Jan (Arne Lenk) nicht das radikalisierte Ebenbild eines Vaters, der noch im hohen Alter darauf besteht, die Kastanien im Garten selbst zu fällen?
Zu flitterregentraurig für die großen Fragen
Leicht wird das Fortgehen hier niemandem gemacht. Auch deshalb muss Frank Abts Inszenierung einiges an Standpunktverhandlungstheater wegarbeiten. Wo endet die Verantwortung für die anderen, die weiterleben müssen, und wo beginnt jene Freiheit, deren Formen und Grenzen wir nur noch mit uns selbst ausmachen können? Dazwischen setzt der Regisseur kleine Inseln lyrischer Besinnung, zu denen der Liedermacher Francesco Wilking am Bühnenrand hauchzarte Weisen singt. Das ist anrührend, etwa wenn Joachim Berger als Arne in dementer Versonnenheit lange seine Brille poliert. Anderes jedoch kommt brühwarm und magensaftresistent aus der Schöner-Sterben-Küche.
Einmal, spät, fällt allerdings ein hellwacher Satz: "Die Würde des Menschen besteht nicht darin, dass er sich selbst den Arsch abwischen kann." Hier müsste das Theater eigentlich ins Denken, wenigstens ins Fragen kommen. Worin besteht sie also, diese Würde? Bedeuten Leiden und Schwäche notwendigerweise Kontroll- und damit Freiheitsverlust? Was gilt uns der kranke Mensch, was gilt er sich selbst – und wie hängt beides zusammen? Vielleicht sind dieses Stück und seine Uraufführung zu binnentheatral angelegt, zu warm gedacht und flitterregentraurig, um diese Fragen wirklich an sich heranzulassen. Anders als in der realen Vorlage trinkt hier am Ende niemand mit großer Gelassenheit ein Becherchen Natrium-Pentobarbital in einem Schweizer "Sterbezimmer". Schließlich gibt es noch Kastanien zu fällen. Das behauptet jedenfalls die Kunst.
Gehen oder Der zweite April
von Jean-Michel Räber
Uraufführung
Regie: Frank Abt, Bühne und Kostüme: Michael Köpke, Komposition und Liedtexte: Francesco Wilking, Puppenbau: Judith Mähler, Dramaturgie: Alexandra Engelmann
.
Mit: Rita Feldmeier, Joachim Berger, Arne Lenk, Katja Zinsmeister, Laura Maria Hänsel, Josefa Heinsius, Renée Carlotta Gerschke, Francesco Wilking, Moritz Krämer.
Premiere am 18. Januar 2019
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.hansottotheater.de
Dieses Stück "sticht hinein ins Wespennest Familie, in all die unausgesprochenen Verletzungen, die sich über Jahre aufstauen und sich nun – im Angesicht des Todes – Bahn brechen", so Heidi Jäger in den Potsdamer Neuesten Nachrichten (online 20.1.2019). Frank Abts Inszenierung finde die richtige Balance, um nicht gefühlsüberladen in Betroffenheit zu ersticken. "Dafür sorgen auch die wunderbar agierenden Schauspieler Rita Feldmeier und Joachim Berger, die die Symbiose des zusammen alt gewordenen Paares in großer Gelassenheit, ja auch Heiterkeit erzählen."
Die Inszenierung von Frank Abt setze "wohltuend auf Minimalismus", schreibt Frank Starke in der Märkischen Allgemeinen Zeitung (21.1.2019). "Zwei weiße Puppen am Bühnenrand, die immer mal wieder in die Gespräche einbezogen werden, zeigen das Modellhafte der Aufführung. Was auch von den musikalischen Akzenten, die Francesco Wilking an Gitarren und Piano einbringt, unterstrichen wird. Das Premierenpublikum nimmt die bedenkenswerte Uraufführung mit viel Beifall auf."
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