Geschichten aus dem Wiener Wald - Alexander Nerlichs Horváth-Inszenierung am Hans Otto Theater Potsdam
Nach Menschenart
von Hartmut Krug
Potsdam, 10. April 2015. "Jetzt malt er ein ganzes Volk" schrieb Alfred Kerr, als Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald" 1931 am Deutschen Theater uraufgeführt wurden. Die Menschen in diesem Stück haben ein sentimentales Sehnen nach dem Leben und zugleich ein Sentiment nach dem Tod. Von Angst umgetrieben, wollen sie im Leben etwas ganz für sich erleben. Marianne, seit Kindesbeinen dem jungen Fleischhauer Oskar versprochen, dessen Küsse ihr weh tun, verfällt dem Rennplatz-Hallodri Alfred. Mit ihrer Unbedingtheit überrennt sie Alfred, der sich bisher von der älteren Witwe und Trafikantin Valerie aushalten ließ. Doch Arbeit und Geld hat das junge Paar nicht, worauf Alfred Marianne verlässt und Alfreds Oma das Kind der beiden in der Wachau sterben lässt. Was bleibt für Marianne, ist die zupackend erdrückende Liebe des Fleischhauers.
Man kann das als ein österreichisches, ja wienerisches Gesellschaftspanorama sehen, das eine Zeit und ihre Menschen entlarvt. Und das zeitlos übertragbar scheint. Und so kamen viele Inszenierungen der letzten Jahre, seien sie von Gotscheff, Marthaler oder Langhoff, als große Entlarvungs-Kunststücke daher. Man sah, was man zu wissen glaubte.
Kleine Schmerzen, große Egoismen
Horváths Kleinbürger werden gern noch einmal durchleuchtet, und was wir aufgedeckt bekommen, sind unwohl gruselige Haltungen. Gemütlichkeit erscheint gedankenvoll gedankenlos, und im überströmenden Gefühl schwimmen vor allem Selbstmitleid und Hartherzigkeit. Wenn im Stück dem Zauberkönig, also dem Inhaber eines Ladens mit Zauberartikeln, gesagt wird, "du bist ein dämonischer Mensch", dann versucht diese Behauptung zu verschmieren, wie in des Zauberkönigs kleinem Schmerz schon der große Egoismus und die mächtige Angst vor gesellschaftlichem Abstieg stecken, wie sie später Qualtingers Herr Karl wortmächtig verkörperte. Und wie sie die Pegida-Menschen umtreiben, wie das Potsdamer Programmheft behauptet.
Horváths Zeitdiagnose von Menschen wirkt immer aktuell, da braucht es keine Heurigen-Gemütlichkeit. Sie sind Menschen und können zugleich stille Monster sein. Nun gut, nicht alle, doch viele gesellschaftliche Bedingungen und Probleme, in die Horváths Menschen gebettet sind, "passen" heute. Als da sind Nationalismus, Kriegsbegeisterung und –bereitschaft, Militarismus, Antisemitismus, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit. Doch es braucht eigentlich gar keine zeitgeistige Aktualisierung von Horváths Stück, um es schrecklich heutig erscheinen zu lassen.
Schritte durch Pfützen
Bei Regisseur Alexander Nerlich wird am Potsdamer Hans Otto Theater nicht "geösterreichelt", sondern einfach Theater gespielt. Das heißt, hier ist die Uneigentlichkeit szenisches Programm. Ein überzeugender Einfall. Denn nun spielen alle ein bisschen vor sich selbst und sehr viel vor den anderen, ohne es zu wissen. Wir Zuschauer aber sind uns dessen stets bewusst. Wolfgang Menardi hat einen herrlich abgeranzten Tintgeltangel-Saal gebaut. Hoch oben thront der stets aktive Pianist Tilman Ritter in einer Art Ratten-Kostüm, unten ist der Boden des Saals für ein pfützenhaftes Wasserbecken aufgerissen.
Im Unterboden der Saalbühne haust Marianne und steigt zum umsorgten Gerippe auf die Bühne, das dort in einem erleuchteten Glaskasten steht. Wenn man in die Wachau oder in den Nachtklub geht, in dem sich Marianne im doppelten Sinne entblößt, senken sich entsprechende Bildvorhänge herunter. Wie so im steten Wechsel auf zwei Ebenen gespielt wird, ist nicht nur virtuos, sondern verneint mit seiner spielerischen Mehrdeutigkeit auch jeden direkten Realismus. Und wird so Horváth gerecht.
Ohne dass sie entlarvt werden, sind die Menschen einfach, wie sie sind. Eben Vorspieler ihrer selbst und ihrer unterdrückten Wünsche. Holger Bülow steckt seinen Alfred körpersprachlich virtuos in ein Korsett von egoistischen Gefühlen und einem Gut-sein-wollen. Und wie Zora Klostermann die Marianne einfach nur sein lässt und sich dabei in ihrer Unbedingtheit selbst gefährdet, dass fasst die Figur und greift den Zuschauer an. Hier spielt keiner ein Horváth-Klischee, sondern alle sind Theaterfiguren nach Menschenart. Ob Andrea Thelemann als Valerie, ob Florian Schmidt als Oskar, ob Peter Pagel als Rittmeister, ob selbst Michael Schrodt als allzu forcierender Zauberkönig: Sie alle sind von überschießend disziplinierter Spielfreude.
Gewehr im Mund
Wir sehen, wie und warum sie uns etwas vorspielen. Dass sie manchmal ein Mikrofon benutzen, ist einer dieser unnützen Einfälle, mit denen Regisseur Nerlich seine eigentlich so klare und spielerisch deutliche Aufführung beschwert. Dass hier mehrfach mit erotischen Klischee-Zweideutigkeiten aufgetrumpft wird (so muss Valerie vor dem jungen Militaristen Erich kaum bekleidet herumkrabbeln und sich genüsslich dessen Gewehr in den Mund stecken lassen!), und dass die Oma in der Wachau von einem Mann gespielt sind, sind entbehrliche Albernheiten. Insgesamt aber schafft Nerlich mit vielen schönen szenischen und spielerischen Ideen eine Inszenierung von, ja, Poesie und Schwung. Leider verliert sie letzteren nach der Pause etwas, wenn sich der Regisseur in Ausmalungen verliert. Das ändert nichts daran, dass Alexander Nerlichs Horváth sehenswertes Schauspielertheater bietet.
Geschichten aus dem Wiener Wald
von Ödön von Horváth
Regie: Alexander Nerlich, Bühne: Wolfgang Menardi, Kostüme: Wolfgang Menardi, Sebastian Thiele, Musik: Tilman Ritter, Choreografie: Anja Kozik.
Mit: Zora Klostermann, Holger Bülow, Andrea Thelemann, Michael Schrodt, Florian Schmidtke, Sabine Scholze, Bernd Geiling, Alexander Finkenwirth, Peter Pagel, René Schwittay, Axel Sichrovsky, Tilman Ritter, Lina Bey/Renée Gerschke.
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause
www.hansottotheater.de
Kritikenrundschau
Peter Hans Göpfert schreibt auf der Intenetseite des Kulturradios im RBB (11.4.2015): Bühne und Inszenierung nähmen Horváths Bezeichnung "Volksstück" ernst. Zu Beginn und später gelegentlich habe es "seinen Reiz", die Personen des Stücks als "handelnde Figuren", gleichzeitig auch als "Schaubilder und ihr eigenes Publikum" zu sehen, das "sich selbst betrachtet und zuhört". Der Einfall trage jedoch keine drei Stunden. Die Inszenierung vergröbere sich zunehmend und erfinde "Plattitüden". Horváths geniales Stilmittel, die Sprache, in der der Zwiespalt zwischen Fühlen und Denken hörbar werde, gerate in Vergessenheit. Nerlich zeige weder "Enge" noch wirtschaftliche Not, auch keinen "Abgrund". Die "wirkliche Tragödie" werde "kleingespielt".
Georg Kasch schreibt in der Berliner Morgenpost (12.4.2015), den Kitsch, den Horváths Personal immerfort aufrufe, überhöhe Nerlich mit seiner sentimental kongenialen Klangspur, "die geschickt das Geschehen kommentiert". Ein "spannendes Konzept", zumal Nerlich dazu "große, oft opernhafte Bilder" komponiere: Stiche und Gemälde, deren Prospekte aus dem Bühnenhimmel sausen, markierten Ortswechsel. Dass sich dennoch "kein großer Abend" runde, liege an den Schauspielern. Wie hier Abgründe "vor allem behauptet" und mit Macken aufgemotzt würden, grenze an "Fahrlässigkeit". Ein "Gruselkabinett der hysterischen Textabsolvierer. Schade."
Ariane Lemme schreibt auf pnn.de dem Portal der Potsdamer Neuesten Nachrichten (13.4.2015): Das "unangenehme Chaos" auf der Bühne sei das System, "das alle Figuren so giftig durchdringt und in dem die Gründe für ihre Bosheit liegen". Als Kulisse für das "frivole Picknick der Krisen-Gesellschaft" diene ein schnell und schief heruntergelassenes Kitschbild vom Wiener Wald, das die eigentlich heitere Stimmung eher konterkariere denn unterstreiche. Das sei nur einer von vielen "gekonnten Brüchen", die sich Nerlich und sin Bühnenbildner Menardi ausgedacht hätten. Horvaths Figuren, die keine Worte gelernt hätten, für das, was sie meinen und die sich mit "Schablonen aus Sprichwörtern und Floskeln" behelfen müssten würden mit "großer Lässigkeit" von den perfekt besetzten Schauspielern umgesetzt.
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Und die ausführliche Kritik 'Ein Leben zwischen Bestien' in der MOZ?