Geld oder Kinder?

von Jan Fischer

Braunschweig, 23. Oktober 2014. Die Hausbar ist – für alle, die nicht so oft im Staatstheater Braunschweig sind – nicht ganz einfach zu finden. Vier Treppen hoch zum zweiten Rang, einmal abbiegen, noch zwei Treppen hoch, der unscheinbare Eingang ganz rechts, irgendwo dort, wo es sich anfühlt, als sei das nun das Ende des Säulengebäudes, da ist sie.

erdbeerwaisen2 560 volker beinhorn uErbeerwaise im Tutu: Gina Calinoiu mit Sven Hönig und (im Hintergrund) Gabriela Baciu
© Volker Beinhorn

Zugegeben: Kleinere Nebenspielstätten großer Theater sind nicht selten gut verborgen. Im Fall von "Erdbeerwaisen" der werkgruppe2 lässt sich das allerdings auch als Metapher verstehen: für das vergessene Land Rumänien, um das die Inszenierung kreist und das in Sachen Armut und ökonomischer Probleme Spanien und Griechenland mehr als das Wasser reichen kann.

Konkret geht es bei diesem Dokumentarabend um die verlassenen Kinder rumänischer Wanderarbeiter, die oft monate-, manchmal jahrelang verschwinden, um besser bezahlt im Ausland zu arbeiten. Nicht immer, aber oft auf Erdbeerfeldern. Die Göttinger Off-Gruppe hat sich also aufgemacht, um mit diesen Erdbeerwaisen zu sprechen, im Rahmen des großangelegten Theaterprojektes "The Art of Ageing" der European Theatre Convention (ETC). Nach "Irgendwann in der Nacht" (Etel Adnan) und "Die Uhr tickt" (Karlsruhe / Teatrul National Timisoara, Rumänien) ist es die dritte Premiere im Rahmen des Projektes, das sich in kooperativen Inszenierungen über Ländengrenzen hinweg mit dem Leben in Europa auseinandersetzten soll.

1200 Euro ohne Kinder vs. 200 Euro mit Kindern

Das Stück, das die werkgruppe2 aus den Reisen nach Rumänien und den Gesprächen dort kondensiert hat, ist ein melancholisches geworden. Die vielleicht 100, 150 Zuschauer in der Hausbar sehen auf der Bühne kein Bühnenbild außer einer Pappkiste. Links in der Ecke sitzt Kim Efert, umrundet von Laptop, Gitarre, Loopstation und diversen Percussioninstrumenten und spielt zum Einmarsch der Schauspieler etwas Trauriges, Bluesartiges: Die vier Schauspieler – Sven Hönig und Oliver Simon aus dem Braunschweiger Ensemble sowie Gabriela Baciu und Gina Calinoiu aus dem Ensemble des rumänischen Teatrul National "Marin Sorescu" – laufen auf die Bühne, wühlen in der Pappschachtel, zerren Kostüme heraus und beginnen zu erzählen. Sie schlüpfen beispielsweise in die Rolle von Claudia, die 18 Jahre lang in Italien gearbeitet hat und sich letztendlich gegen 1.200 Euro im Monat in Italien ohne ihre Kinder und für 200 Euro im Monat mit ihren Kindern in Rumänien entschied. Sie schlüpfen in allerlei Kleider, Schuhe, wedeln mit elektrischen Spielzeugwaffen und erzählen vom Verlassenwerden, vom Nie-wieder-Zurückkommen, davon, wie es ist, ohne die Eltern aufzuwachsen, nur mit Geschwistern, Tanten oder Großeltern, die der Aufgabe nicht gewachsen sind. Sie versuchen, in der Pappschachtel Bilder zu finden dafür, verstecken sich darin, posieren mit den Spielzeugwaffen, wechseln die Kleidung und die Rollen, um ein vielfarbiges Bild von dieser verlassenen Generation in einem vergessenen Land zu zeichnen.

erdbeerwaisen1 560 volker beinhorn uDie Wut driftet in melancholische Lieder und Dissonanzen ab: Kim Efert (Musiker),
Gabriela Baciu, Sven Hönig und Gina Calinoiu © Volker Beinhorn

Die werkgruppe2 arbeitet dabei mit dokumentarischem, fast journalistischem Ansatz: Einzelne Interviews werden in Szenen umgesetzt oder als Ich-Erzählung nacherzählt. Die großen politischen Zusammenhänge werden so – ohne direkten Verweis im Stück – auf individuelle Geschichten reduziert und damit emotional greifbar gemacht. Teilweise sind die Szenen überspitzt, die Figuren und Texte überzeichnet, dennoch hangelt sich das Stück stets spürbar an seiner Grundlage in der realen Welt entlang.

Nur zuschauen ist keine Option

Dass das gelingt und einen lohnenswerten Theaterabend ergibt, liegt daran, dass er nicht versucht, die Erdbeerwaisen mit erhobenen Zeigefinger als Symptom eines alles zerfressenden Kapitalismus zu inszenieren, der verbrannte Erde hinterlässt – obwohl diese Diagnose über allem schwebt. Dass sie aber nicht explizit artikuliert wird, sondern in ein Mosaik aus bewegenden Einzelschicksalen zersprengt, verschiebt den Fokus von der Weltpolitik hin zu der Frage, was genau es eigentlich mit den Menschen, ihren Beziehungen untereinander, ja tatsächlich mit einer ganzen Generation macht, wenn die Eltern fehlen.

Der Ruf zur individuellen Aktion, den die werkgruppe2 dann doch artikuliert, ist subtiler, fast unbemerkbar: Nach und nach driftet Kim Efert, der Musiker, vom sicheren Schutzwall hinter seinen Instrumenten auf die Bühne, spielt erst eine wütende Percussionsequenz auf der Pappschachtel und singt dann ein trauriges, rumänisches Lied mit den Schauspielern – so lange, bis die ganze Wut in Dissonanzen abdriftet und klar wird: Selbst der Musiker am Rand kann nicht einfach nur zuschauen.

 

Erdbeerwaisen / Căpşunile şi Orfanii
von werkgruppe2
Inszenierung: Julia Roesler, Recherche: Julia Roesler, Silke Merzhäuser, Gina Calinoiu, Musik: Kim Efert, Bühne & Kostüme: Adrian Damian, Dramaturgie: Silke Merzhäuser, Axel Preuß.
Mit: Gabriela Baciu, Gina Calinoiu, Sven Hönig, Oliver Simon.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
Kooperation Nationaltheater "Marin Sorescu" Craiova und Staatstheater Braunschweig

www.staatstheater-braunschweig.de
www.tncms.ro

 

Kritikenrundschau

Einen Abend mit einer "dichten Atmosphäre", den vor allem die Leistungen der Schauspielerinnen und Schauspieler zu einem "eindringlichen Erlebnis" machen, hat Florian Arnold von der Braunschweiger Zeitung (25.10.2014) erlebt. "Einfühlsam, facettenreich, meist unaufdringlich, manchmal drastisch verkörpert das Quartett keine intellektuellen Kopfgeburten, sondern sehr glaubhaft, ganz normale Menschen".

Der Abend "rührt durchaus", schreibt André Pause in der Neuen Braunschweiger und auf dem Onlineportal www.unser38.de (25.10.2014). In dem "Extrakt der Fragen und Antworten aus den Interviewprotokollen" seien "aus allen Generationsperspektiven intensive, ja schmerzliche Szenen dabei". Allerdings habe man nach "spätestens" nach 70 Minuten das Gefühl, das eigentlich alles gesagt wurde. "Außerdem entzieht das teilweise doppelte Spiel über Bande – echtes Schicksal wird Schauspiel, das gespielte Schicksal muss aus dem Rumänischen ins Deutsche übersetzt werden – jene Ausstrahlung, Kraft und Unmittelbarkeit, die einem bei 'Polnische Perlen' (der Vorängerarbeit von werkgruppe2 in Braunschweig, Anm. Red.) den Atem stocken lies und das Wasser in die Augen trieb."

"Intensiv und provokant" findet Jürgen Jenauer auf NDR Kultur (23.9.2014, hier im Podcast) diese Inszenierung. werkgruppe2 habe "eine Collage gestrickt, die tief in die Seele von Menschen blicken lässt, die manchmal jahrelang ohne ihre Mutter erwachsen werden müssen". Das Stück sei "Erzähltheater im besten Sinne".

Kommentare  
Erdbeerwaisen, Braunschweig: klebrige Betroffenheit
Klebriges Betroffenheits-Theater. Konzeptlos, zu wenig dialektisch und nicht überraschend. Ein Abend, der kaum berührt und nicht weh tut. Gewissenswohlstandsmehrung für ein sattes Bildungsbürgertum.
Schade
Es liegt nicht an den Schauspielern, diese sind super.
Erdbeerwaisen, Braunschweig: Mitleid hilft nicht
Das Problem beim "Betroffenheitstheater" von Seiten der Opfer wie der möglichen Helfer, auch im öffentlichen Raum, liegt darin, dass man/frau gar nicht erst zur Analyse kommt - ja doch, es ist das kapitalistische System -, sondern im Mitleid versinkt bzw. steckenbleibt. Das hilft tatsächlich niemandem weiter. Es produziert nur wechselseitige Abhängig- bzw. Hilflosigkeit. Und Rumänien ist doch nicht weit von Ungarn, oder?
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