Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rande der Landstraße - Philipp Preuss geht mit Peter Handke im Staatstheater Braunschweig spazieren
Spazieren gehen am laufenden Meta
von Jan Fischer
Braunschweig, 4. Mai 2018. Man muss, bevor man arglos in das dreieinhalbstündige Textbrett geht, das "Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rande der Landstraße" im Staatstheater Braunschweig ist, ein wenig Handke-Trivia in den Rucksack packen. Erstens, dass Peter Handke ein Spielkind ist, das Worte wie Legoklötzchen zu in den Himmel ragenden Turmbauten stapelt. Zweitens, dass Peter Handke ein großer Spaziergänger ist, kein Stadtflaneur, sondern einer, der regelmäßig die spanische Sierra de Gredos durchstreift, den Kosovo oder auch nur die Wälder in der Nähe seiner Wohngegend bei Chaville und während des Gehens die meisten seiner Texte – wie auch immer das funktionieren mag – schreibt. Und drittens, dass jeder Text von Peter Handke ein Ausflug in das Ego von Peter Handke ist.
In "Die Unschuldigen..." erscheint also zunächst – aus dem Dunkel heraus – ein Erzähler-Ich, das durch sein Sprechen, wie der Adam der Bibel, der den Tieren einen Namen gab, erst einmal das Bühnenbild erschaffen muss: Die Landstraße, die in Braunschweig ein leicht angeschmauchter White Cube aus Stoff ist, die paar Äste, die dazwischen herumliegen, ein verrosteter Golf, der sich im Laufe der Inszenierung drehen und vermittels der Spiegelchen an den Kotflügeln in eine Discokugel verwandeln wird.
Rollkoffer und Rucola
Und dann beginnt er, der Ich-Monolog, der im Grunde kaum eine Handlung hat und keine Struktur, außer dass er in Frühling, Sommer, Herbst und Winter eingeteilt ist. Ein episches Ich und ein dramatisches Ich, gespielt von insgesamt zwei Schauspielerinnen und drei Schauspielern, liegen zunächst im Widerstreit. Zu dem fröhlichen Reigen gesellt sich ein Souffleur, der als Pilz verkleidet auf der Bühne steht. Man einigt sich, dass die unbefahrene Landstraße etwas besonderes ist - "An diesem Platz bin ich zuhause, mehr als irgendwo sonst". Alsbald kommen – es ist mittlerweile Sommer – die Unschuldigen vorbei, die "Unschuldsteufel" mit ihren Rollkoffern und ihrem Rucola und ihrem ständigen – aus den Lautsprechern eingespieltem – Handygebimmel, von denen eines der Ichs sagt: "Niemand von euch sinnt auf Böses, ihr seid einfach nur da, da und wieder da" – die Bedrohung von außen, die versucht, die Landstraße ihrem Wächter, dem Ich, zu entreißen.
Der Herbst dann ist die Nostalgie, die Blätter verwehen, Erinnerungen und Streitgespräche steigen auf: Soll die Landstraße erschlossen werden? Oder nicht? Was ist ihr Wert? Doch auch das: Die Ideologie der Unschuldigen: "Mit euch und durch euch ist der Teufel los", heißt es, und: "Es lebe das Unnütze." Im Winter schließlich bedeckt der Schnee alles, die Ichs übergießen sich mit schwarzer Flüssigkeit und werden zu Schatten ihrer selbst, die Unbekannte – ein mythisches Überwesen, eine erlösende Frau, welche die Ichs in die Lage versetzen soll, die Welt gesunden zu lassen –, verschwindet in ihrer eigenen Unmöglichkeit, und die Schauspieler und Schauspielerinnen gehen ab – während ihre Schatten hinten am White Cube weiter agieren, bis das Licht ausgeht.
Schnee, der auf Discokugelautos fällt
Selbstverständlich lässt sich "Die Unschuldigen..." so einfach nicht nacherzählen. Da ist einmal Handkes sperrige Sprache, oft ein Spiel mit Zitaten und Wendungen, die manchmal geradezu brachial bürgerlich als solche enttarnt werden. Da sind hunderterlei Ansätze zu Gesellschaftskritiken und endlose Meta-Schleifen: Text, der den Text kommentiert, Text, der die Bühne und die Ichs erst einmal entstehen lässt, die aber wiederum den Text sprechen, der wieder etwas anderes entstehen lässt. Sprechen als performativer Akt, aber immer auch als Schöpfungsakt, der sich seiner selbst als solcher bewusst ist – sonst könnte es ja kein Schöpfungsakt sein. Und dann ist da selbstverständlich noch das Bühnengeschehen von Philipp Preuss' Inszenierung, die Blätter und der Nebel, die durch den Herbst wallen, der Schnee, der auf das Discokugelauto fällt, der Text, der im Auto gesprochen wird, während es sich um die eigene Achse dreht und Muster auf den White Cube wirft, das Geschehen im Auto, das wiederum gefilmt und riesig groß auf die hintere der Stoffbahnen geworfen wird. Das alles wiederum einerseits gekleidet in den großen Witz, der sich durch Handkes Wortspielereien und die lustvollen Überspielereien des Ensembles ergibt (allen voran Felix Römer, der bei Jack Nicholson in die Schule des wahnsinnig Grinsens gegangen zu sein scheint).
Durch alles das spaziert das Spielkind Handke fröhlich hindurch und landet bei – wie er selbst das mal in einem Interview formuliert hat – seinem bewährten Rezept beziehungsweise seinem Ego: "Ich sammele ganz stumpfsinnig Einzelheiten, von denen ich glauben muss, dass sie nicht meine Einzelheiten, sondern allgemeine Einzelheiten sind, und die fingiere ich dann zu einer Art Geschichte." Die in "Die Unschuldigen..." zumindest dramaturgisch ausweglos ist, aber mit einem lapidaren "Damit finden wir auch kein Ende für dieses Theater" dann doch, kurz bevor alle sich in Schatten auflösen, mehr oder weniger beendet wird.
Raum für die Sprache
Die Uraufführung des Textes am Wiener Burgtheater stieß 2016 auf eher gemischte Kritik. Einige Kritiker bemängelten die Donnerigkeit der Inszenierung, ihre vielen und störenden Effekte, andere die fehlende Struktur des Textes. Preuss lässt in Braunschweig in seinem White Cube jedenfalls der Sprache viel Platz, und beschränkt sich auf einige wenige, aber dafür bald altvertraute Effekte, wie die Projektion, das sich drehende Auto oder die schwarze Flüssigkeit, mit der sich die Figuren übergießen. Und das lohnt sich: Auch, wenn die dreieinhalb Stunden durchaus eine anstrengende Marathonsitzung sind, die man sich zum vollen Verständnis sicherlich mehrmals antun müsste, macht es Spaß, den Darstellerinnen und Darstellern beim Monologisieren mit und über und von Handke über Handke zuzuschauen.
Die Unschuldigen, ich und Unbekannte am Rande der Landstraße
Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten
von Peter Handke
Regie: Philipp Preuss, Bühne: Ramallah Aubrecht, Kostüme: Eva Karobath, Video: Konny Keller, Musik: Kornelius Heidebrecht, Dramaturgie: Claudia Lowin, Vermittlung: Theresa Meidinger.
Mit: Vanessa Czapla, Saskia Petzold, Konstantin Bühler, Robert Prinzler, Felix Römer.
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.staatstheater-braunschweig.de
Kritikenrundschau
Felix Römers furiose Wut- und Hasstirade sei signifikant für den Abend: "ein theatrales Riesentamtam für ein bisschen wohlfeile Zivilisationskritik", schreibt Martin Jasper in der Braunschweiger Zeitung (7.5.2018). Und: "Kein Mensch würde ein derart pompös zusammengeflatschtes Stück aufführen", aber es eben von Handke, dem "Hohepriester der Innerlichkeit". Eines sei jedoch der Regie zuzurechnen: "Es gibt starke Bilder." Fazit: Bei allem Respekt für die engagierten und der Text-Suada gewachsenen Schauspieler frage man sich, soviel Lärm - um was eigentlich?
Zu berichten sei von einem Abend des "bislang Ungesehenen, von einer Aufführung, die den Beweis liefert für die Kreativität und die Leistungsfähigkeit kleinerer Theater", schreibt Reinald Hanke in der Celleschen Zeitung (7.5.2018). Regisseur Preuss habe es geschafft, " seine fünf Akteure zu einer Spielfreude zu motivieren, der zuzuschauen für das Publikum die reinste Schaulust war". Diue "schauspielerische Kraft und Verwandlungsfähigkeit" von Felix Römer sei gar nicht "hoch genug" einzuschätzen, auch seine Mitspielerinnen steigerten sich im Laufe des Abends in "Figurenfragmente hinein, über die man nur staunen kann". Fazit: Etwas zu ausufernd, aber "sehr sehenswert".
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