Pfisters Mühle - Staatstheater Braunschweig
Im Bann der Süßwarenindustrie
13. November 2021. Wilhelm Raabes Erzählung über den Niedergang von "Pfisters Mühle" (von 1884) gilt als einer der ersten Umweltromane. Regisseurin Rebekka David liest ihn am Enstehungsort in Braunschweig als Vorboten für die ökologische Katastrophe unserer postmodernen Tage.
Von Jan Fischer
13. November 2021. Die alte Mühle ist verkauft. Einen Sommer kann Dr. Eberhard Pfister noch mit seiner Verlobten Emmy auf seinem alten Familiensitz verbringen, dann soll er abgerissen werden, eine Fabrik soll dort gebaut werden. Es könnte ein schöner Sommer sein. Wenn nicht, ja, der Fluss stinken würde. Ein "Geschmiere" nannte der verstorbene Vater Pfister es einst, als er noch an der Mühle ein Ausflugslokal betrieb, bis es nicht mehr ging.
Niedergang des ländlichen Idylls
Soweit, so gut, so werktreu geht Rebekka David in Braunschweig mit dem Roman "Pfisters Mühle" von Wilhelm Raabe um. Ihre Variante heißt: "Pfisters Mühle: Ein Heimatverein". Die Einleitung übernimmt sie fast Wort für Wort, auch danach ist zunächst einmal nur wenig gekürzt. Wir springen in der Erzählung zwischen den Tagen, da die Mühle noch florierte, und der Gegenwart ihres letzten Sommers: Eberhard Pfister, sein Vater, Emmy, alle kommen sie in der Idylle der Mühle an in ihren historisch anmutenden Kostümen, mit ihren bleich geschminkten Gesichtern mit den roten Wangen.
Mehr als anderthalb Stunden Zeit nimmt David sich Zeit für Raabes Text – oder besser: dafür, ihn einmal gründlich auseinander- und wieder zusammenzubauen wie eine Jazzband Harmonien auseinander bastelt und neu übereinander schichtet.
"Pfisters Mühle" ist 1884 erschienen und gilt als einer der ersten "Umweltromane", Raabe beschäftigt sich darin mit der Zeitenwende der Industrialisierung. Eine Zuckerrübenfabrik hatte das Gewässer bei Pfisters Mühle verunreinigt. Über Jahre wehrte sich die Familie gegen den industriellen Schmutz. Aber dem Niedergang des Pfister’schen Idylls war letztlich nichts entgegenzusetzen. An seiner Stelle wird eine weitere Fabrik (ironischerweise: für Reinigungsmittel) entstehen. Das alles erfahren wir von Raabes Ich-Erzähler Eberhard.
Die Postmoderne greift nach Raabe
Raabe lässt in seiner zeitlich kompliziert verschachtelten Erzählung die Figuren als repräsentative Vertreter dieser wankelmütigen Epoche aufeinandertreffen: Eberhard Pfister, als Studierter, repräsentiert die Geisteswissenschaften, sein Vater die ländliche Traditionen. Mit Eberhards Jugendfreund, dem Chemiker und späteren Fabrikgründer Dr. Adam August Asche, tritt die Naturwissenschaft und das gründerzeitliche Unternehmertum hinzu.
Aber: Die Welt hat sich weitergedreht, und in Braunschweig – dem Ort, übrigens, an dem der Roman, wenn auch verschleiert, spielt und wo er von realen Ereignissen inspiriert wurde – ist das alles noch komplizierter. Das wird spätestens klar als zwei Bühnentechniker einen Süßigkeitenautomaten auf die Bühne und in die eher eine Tankstelle ähnelnden Mühle rollen. Man füttert ihn erst einmal mit Münzen aus einer im Hintergrund lieblich plätschern Edelstahl-Pinkelrinne. Später kommt dann noch ein Cola-Automat dazu. Schicht für Schicht legt sich so ein postmodernes Chaos über Pfisters wohltemperierten Roman aus der beginnenden Moderne.
Nestlé und der CO2-Fußabdruck
Der Knackpunkt hier ist natürlich die Zeitenwende, der Bruchpunkt in eine neue Ära, an dem die Welt damals stand – und an dem unsere auch steht. Schicht für Schicht, Motiv für Motiv, Harmonie für Harmonie überführt David in ihrer Inszenierung, den Roman in die Jetztzeit. "Ich will keine Angst mehr vor der Zukunft haben müssen", ruft Emmy einmal verzweifelt ins Gestänge über der Bühne, sie möchte Meeresfrüchte ohne Überfischung, Essen, Fliegen, ohne sich Gedanken um ihren CO2-Fußabdruck machen zu müssen.
An Pfisters Umwelterzählung, die hauptsächlich eine Geschichte über die Unausweichlichkeit von womöglich nicht immer positiver Veränderung ist, ändert sich dabei erst einmal erstaunlich wenig. So gewinnt Pfisters Vater zwar seinen Prozess gegen die Zuckerfabrik, deren Abwässer sein Ausflugslokal ruinieren, Konsequenzen aber gibt es für die Verursacher keine. Dass die Automaten, an deren Inhalt sich Figuren gütlich tun, Süßwaren des Nestlé-Konzerns und Getränke von Coca-Cola enthalten, Firmen, die beide nicht unbedingt durch positive Schlagzeilen auffallen, ist sicherlich kein Zufall.
Aber Davids Inszenierung ist nicht nur eine Modernisierung von Raabes Stoff – es ist gleichzeitig eine Dekonstruktion. "Ich sehne mich nach ontologischer Sicherheit", sagt Eberhard Pfister gegen Ende. Aber diese Sicherheit gibt es nicht: Bei Raabe gibt es keine Guten und keine Bösen, nur Werte, Ideen, die im Umbruch eben auf der Strecke bleiben. David setzt direkt bei den Ideen an: Es gäbe keine lineare Entwicklung, nur Zufälle, deren Ursachen zu komplex seien, als dass man sie beeinflussen könne, es gäbe keine Sicherheit, nur die Geschichte, die wir uns aus diesen Zufällen in unserem Kopf konstruieren und es Identität, Geschichte und Fortschritt nennen, um allem den Anschein einer linearen Entwicklung zu geben.
Tanzen, bis die Identität splittert
Am Ende gibt es in "Pfisters Mühle: Ein Heimatverein" also: nichts. Die Figuren tanzen noch einmal kurz ein wenig Aerobic zu 80er-Jahre-Synthimusik, bedanken sich bei jeder Requisite auf der Bühne einzeln, und dann: Vorhang.
Raabes Welt ist in "Pfisters Mühle" eine dunkle, unausweichliche: Der Fortschritt kommt mit Dampfmaschinen auf eisernen Schienen daher, mit heißem Feuer in riesigen Kesseln, was könnte ein Mensch da schon ausrichten? Bei David hat der Fortschritt nicht einmal mehr eine Richtung, der franst von den Rändern her aus bis in den Kern der zersplitterter Identität hinein: Alles wird als Fiktion entlarvt, nicht nur einige bleiben auf der Strecke. Sondern: Alle. Aber immerhin kann man solange noch gemeinsam tanzen.
David unterzieht Raabes Text einem behutsamen Update: Sie lässt sich Zeit dabei und versucht nicht zwanghaft, ihn gegen den Strich zu lesen, sondern schiebt einfach nur ein paar Teile herum, bis eine dunkel-aktuelle Inszenierung dabei herauskommt, die nicht mit mit billiger Utopie oder einfachen Feindbildern zufrieden gibt, sondern den Bogen von der Moderne in die Postmoderne spannt, Motiven nachspürt,Textbewegungen beobachtet. Ein luftiger Diskursbrocken.
Pfisters Mühle: Ein Heimatverein
nach Wilhelm Raabe
Regie: Rebekka David, Bühne: Robin Metzer, Kostüme: Florian Kiehl, Musik: Camill Jammal, Dramaturgie: Katharina Gerschler, Christine: Gina Henkel.
Mit: Nina Wolf, Robert Prinzler, Klaus Meininger, Gina Henkel, Heiner Take.
Premiere am 12. November 2021
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-braunschweig.de
Die "junge, szenige" Regisseurin gehe an den Stoff "erfrischend respektlos und unsentimental ran", beschreibt Martin Jasper in der Braunschweiger Zeitung (15.11.21). "Trotz manch mittlerweile auch schon wieder abgestandener Theatermode-Elemente" folge man vor allem den Frauenfiguren gerne, die hier "an Statur, an Renitenz, an Witz" gewönnen. Leider entgrenzte Regisseurin Rebekka David "zunehmend ihre Inszenierung in ein soziologisch angestrengtes, teils auch albernes, zwangsläufig statisches, deshalb körperlich aufdringlich verzappeltes Diskurs-Kasperle." Aber immerin schlage der Aufprall von altem Stoff und junger Regie Funken – "wenn auch recht grelle."
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(Anm. Redaktion: Bitte entschuldigen Sie das Versäumnis. Wir haben Gina Henkel im Besetzungskasten nachgetragen. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow/Redaktion)
Es war spannend und ein aktuelles Thema.
Danke für den schönen Abend.
Raabes Ansatz hervorragend umgesetzt auf die heutige Zeit.
Seit langem wieder Diskussionen nach einem gelungenen Theaterstück.
Jede(r) Schauspieler(in) hat in seiner Rolle überzeugen können.
Die Vergangenheit wird Realität.
Faszinierend umgesetzt und brandaktuell und sehr empfehlenswert!