Wir werden diese Nacht nicht sterben - Staatstheater Braunschweig
Tagebuch in die Vergangenheit
25. November 2023. Guido Wertheimer hat in Berlin nach den Spuren seiner jüdischen Vorfahren gesucht und darüber einen Theatertext geschrieben. Bei der Uraufführung, von ihm selbst inzseniert, werden die Geister der Vergangenheit vernehmbar – und die Gegenwart antwortet mit kognitiver Dissonanz.
Von Jan Fischer
25. November 2023. Blöd an Klischees ist ja: Sie funktionieren. Und Guido Wertheimers Uraufführung seines Textes "Wir werden diese Nacht nicht sterben" am Staatstheater Braunschweig steckt voller Klischees, voller Effekte, die billig sein könnten, ja eigentlich müssten, es aber, irgendwie, vielleicht durch Magie, nicht sind.
Geisterhaftes aus dem grauen Februar-Berlin
Da ist der Prolog, der erst einmal erklärt, worum es in dem Stück geht, wen die Schauspielerinnen und Schauspieler jetzt darstellen, dass sie nicht mit dem Autor des Stückes zu verwechseln seien und, vor allem, dass immer dann, wenn ein Fuchs auf der Bühne auftauche, die Geister sprächen. Auf jeden Fall aber versuche der Text nicht, "eine neue Theorie über Geister umzusetzen, es ist nur ein Tagebuch, das ich vor dem Einschlafen geschrieben habe", heißt es im Prolog.
Und dann ist da die Leinwand, die sich über einen großen Teil der halbrunden Hinterwand der kleinen Bühne im kleinen Haus des Staatstheaters zieht. Sieht cool aus, klar, ist aber auch: ausgelegt auf Überwältigung. Und ein wenig überwältigend ist das Videodesign, wenn der autofiktionale Text beginnt. "Wir werden diese Nacht nicht sterben" des Autors und Regisseurs aus Buenos Aires, der seit dieser Spielzeit Hausautor in Münster ist, erzählt von einem mehrjährigen Aufenthalt in Berlin, in dem er versuchte, sich seinen während des Nationalsozialismus geflohenen Vorfahren anzunähern. Dazu gibt es Bilder eines grauen Februar-Berlins, immer weiter herangezoomte kahle Zweige, die sich über das ganze Halbrund strecken. Passendes Sounddesign besorgt der Musiker Gustavo Obligado am DJ-Pult im Hintergrund, einmal auch am Saxophon.
In einer Szene, als Ivan Marković als Erzähler und Robert Prinzler, zu dem Zeitpunkt in der Rolle als sein bester Freund und vielleicht Love Interest Aron, in einer verdrogten Clubnacht verloren gehen, blinkt die Leinwand bunt, Bässe wummern, und dann, ja: Wieder ein Effekt, der funktioniert. So geht es in einer Tour. Wie im Prolog auch ist der Erzähler durchgehend sympathisch, lässt einen mitfühlen – und man verzeiht Guido Wertheimer, wenn auch etwas widerwillig, seine Wahl der narrativen und szenischen Mittel.
Die Stadt atmet Geister
Jedenfalls tauchen bald die Geister der Vergangenheit auf, die Stadt atmet sie förmlich. Es gibt einen Besuch auf dem jüdischen Friedhof Weißensee, der Erzähler bemüht sich, Stolpersteine für seine Vorfahren legen zu lassen: In den Berlin-Aufenthalt mit Liebe, Getränken, faulen Sommern und fahlen Wintern dringt dunkle Vergangenheit ein.
Der Erzähler weigert sich konsequent, viel dazu zu sagen. In einer Szene muss er nach München fahren und dort seinen Tagebuchtext präsentieren. Während eine parodierte Akademiker-Figur ihn immer wieder unterbricht und Nachfragen stellt, ist er irritiert davon, dass hier so viele Details abgefragt werden, die er nicht wissen will und kann. Dass zwar die Großeltern des Erzählers Juden waren, er aber nicht, wird auch immer wieder thematisiert. Und währenddessen streicht Mariam Avaliani als Füchsin im Hintergrund umher.
In "Wir werden diese Nacht nicht sterben" sprechen die Stimmen der Vergangenheit und der Gegenwart miteinander. Die Gegenwart will genossen sein, die Vergangenheit will erinnert werden, und das Tagebuch handelt von dem Versuch, das irgendwie übereinander zu bringen, grade auch wenn – die Morde von Hanau sind kurz Thema – die Vergangenheit sich so verdammt laut und grausam zu Wort meldet. "Die Toten haben nur einen einzigen Wunsch", sagt der Cantor einer jüdischen Gemeinde zum Erzähler, "sie wollen in Erinnerung bleiben".
Kognitive Dissonanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart
Einmal läuft eine lange Videosequenz, die putzige Tierbilder mit Kriegsbildern verschneidet: Die Vergangenheit zu erinnern und die Gegenwart zu genießen erfordert einiges an kognitiver Dissonanz. Am Ende singen Mariam Avaliani und Gustavo Obligado noch ein Duett, in dessen Text es um den "Ghost of my life" geht. Auch hier wieder: Die Szene trieft vor Kitsch, aber sie wirkt eben auch.
Wertheimers Text und seine Inszenierung sind auf eine Art ärgerlich, weil sie ihre Klischee und Effekte schamlos einsetzen und im Epilog dann noch erklärt wird, was man da gerade gesehen hat. Aber sie sind eben auch: charmant, lustig, nachvollziehbar, kurzweilig. Auf eine eigenartige Weise doppeldeutig: Prolog und Epilog von Wertheimers Geisterbeschwörung, aber auch die Szene mit dem überzeichneten Akademiker besorgen die Selbstreflexion eines Textes, der selbst auch schon wieder – er entstand zwischen 2020 und 2022 – ein Geist aus der Vergangenheit ist. Oder auch: Eine vertrackte Angelegenheit, die sich nur auf den ersten Blick als golden glänzend präsentiert – und auf den zweiten voller versteckter Stolpersteine ist.
Wir werden diese Nacht nicht sterben
Von Guido Wertheimer
Regie: Guido Wertheimer, Rauminstallation: Florian Barth, Visuelle Installation: Ella Estrella Tischa Raetzer-Rensch, Kostüme: Maria De Oro, Originalmusik und Sounddesign: Gustavo Obligado, Video: Ana Iramain, Dramaturgie: Katharina Gerschler.
Mit: Ivan Marković, Robert Prinzler, Mariam Avaliani.
Premiere am 24. November 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-braunschweig.de
Atmosphärisch bleibe der Abend verschwommen, so Andreas Berger in der Braunschweiger Zeitung (1.12.2024). "Wir sind in den Spielszenen immer ganz nah an den beiden Protagonisten, dann entgleiten sie uns wieder." In einer "Art Road-Movie für Flaneure" erkunde der Erzähler Berlin auf den Spuren seiner jüdischen Familie. "Er erzählt uns, als läse er aus seinem Tagebuch vor." Gut gemacht sei, dass die Dialogszenen meist von liebevoller Heiterkeit durchdrungen seien. Fazit: "Wertheimers Qualitäten liegen in seinem Gefühl für Situation und Geheimnis (...) Der Abend jedenfalls nimmt auf unaufdringliche Art gefangen."
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