Krieger im System

10. Dezember 2023. In einer Welt mit bedingungslosem Grundeinkommen und allen Annehmlichkeiten, aber auch totaler Überwachung spielt Sibylle Bergs "GRM.Brainfuck". Niklas Ritter hat die Selbstermächtigungs-Dystopie jetzt in Göttingen inszeniert - mit viel Kriegsbemalung.

Von Simon Gottwald 

Sibylle Bergs "GRM. Brainfuck" von Niklas Ritter am Deutschen Theater Göttingen inszeniert © Thomas Aurin

10. Dezember 2023. "God Save The Queen" war einmal, heute ist der beinahe ewige Prinz Charles Masturbationsvorlage für abgehängte Hausfrauen, während minderjährige Mädchen verkauft und alle Menschen digital überwacht werden. Dafür gibt es in Sibylle Bergs "GRM. Brainfuck" aber ein Grundeinkommen, das nur ein, zwei Bedingungen stellt.

Es verschlägt vier Außenseiter (Don, Karen, Hannah, Peter) aus Sozialbauten und Turnhallen in eine Lagerhalle, wo sie sich vom System abkoppeln: undokumentiert, ohne Mikrochip in der Handfläche, der ein Grundeinkommen und Annehmlichkeiten wie Busfahrten erlaubt, aber auch die völlige Überwachung und Vermessung seiner Träger garantiert.

Schöne neue Welt

Die Außenseiter erstellen eine Todesliste, auf der Vergewaltiger und Menschenhändler stehen, ein Arzt, der sich zwischen der Rettung zweier Menschen entscheiden musste und den weißen Mann statt der asiatischen Frau wählte, ein russischer Millionär – alles Menschen, die das Leben der Außenseiter negativ beeinflussten. Doch zu wirklicher Rache kommt es nicht. Menschen sterben, aber nicht als Folge eines elaborierten Plans, sondern praktisch nebenher, als Folge der Umstände. Der Kapitalismus im Endstadium verschlingt die Menschen, die er hervorgebracht hat, und am Ende regiert ein Avatar in direkter digitaler Demokratie – schöne neue Welt.

Überwachungsdystopie: "GRM.Brainfuck" von Niklas Ritter am Deutschen Theater Göttingen inszeniert © Thomas Aurin

Regisseur Niklas Ritter lässt das Stück in Göttingen in einem reduziertem Bühnenbild spielen - in der ersten Hälfte des Abends dominiert von einem riesigen Gitterzaun, in der zweiten von einer Art futuristischem Baumhaus in waberndem grauen Rauch. Das Ensemble trägt weiß-orangene Kriegsbemalung und schildert all die Grausamkeiten, die den Benachteiligten der digitalen Postdemokratie widerfahren und die teilweise zu abstoßend sind, um sie zu wiederholen.

Ein wiederkehrendes Motiv ist der negative Einfluss der leicht verfügbaren Internetpornographie auf beide Geschlechter, die Sexualität nur noch durch Gewalt erlebbar macht. Jeder der Außenseiter hat Gewalt erfahren, häufig sexueller Art, und ihre Umgebung hat das viel zu häufig nicht gekümmert.

Zwischen Wut und Verzweiflung

Stellenweise noch nicht hundertprozentig textsicher, überzeugt die Truppe mit einer starken schauspielerischen Leistung, die Hoffnungslosigkeit und resignativen Zynismus der vom System ausgestoßenen jungen Menschen (Rebecca Klingenberg und Jenny Weichert schwankend zwischen Wut und Verzweiflung) genauso fasst wie die Abgebrühtheit der Profiteure unmenschlicher Prozesse (toll als wechselnde Antagonisten: Marco Matthes).

Resigniert oder auch abgebrüht profitierend: Rebecca Klingenberg, Anna Paula Muth, Marco Matthes, Paul Trempnau, Jenny Weichert © Thomas Aurin

In dem Erzählen der Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten des Systems und der Menschen liegt leider auch die große Schwierigkeit des Abends: Dadurch, dass die Handlung größtenteils erzählt wird, dadurch, dass Grausames sich an Furchtbares reiht, bis eine regelrechte Taubheit beim Zuschauer entsteht, kommt das Gefühl auf, hier kein Theaterstück zu sehen, sondern einer politischen Predigt beizuwohnen.

Es ist wichtig, Missstände anzusprechen, gerade in einer Zeit von Filterblasen und Fäkalstürmen. In "GRM. Brainfuck" bricht sich hoffnungslose Wut Bahn. Angesichts des Zustands der Welt ist Wut verständlich und angebracht, aber Wut alleine kann auch sehr ermüdend sein – das wird jeder Unglückliche mit Social-Media-Profil wissen.

Absage an alte Cyber-Ermächtigungsphantasien

Das ist schade, denn der Stoff hat so viel Potenzial. Wo früher Punk gegen das Establishment wütete, ist heute Grime (daher auch der Titel GRM) zu hören. Implizit wird den Ermächtigungsphantasien des Cyberpunk, jener Bewegung der 1980er, die in Filmen wie "Matrix" ihr Revival erlebte, eine Absage erteilt: Statt die Chips bzw. ihre Software zu hacken, stehlen die Außenseiter Chips aus den Händen Verstorbener, ganz und gar nicht cyber, sondern mit einem Cutter, und einer Überwachungsdrohne wird (sozusagen) ein Kopfschuss verpasst. Man arbeitet mit dem, was man hat. Und wenn man ein wenig Heroin nehmen muss, um den Smartphone-Entzug zu überstehen, ist das eben so.

"GRM. Brainfuck" spricht wichtige Themen an, die in Göttingen an diesem Abend von einem tollen Ensemble auf die Bühne gebracht werden. Gerade deshalb bleibt aber das unklare Gefühl zurück, in den vergangenen zweieinhalb Stunden hätte man auch "V for Vendetta" gucken können. Denn das Thema selbstbestimmte Freiheit wird ganz groß gemacht, aber die Details bleiben austauschbar.

GRM. Brainfuck
Bühnenfassung von Sibylle Berg in einer Fassung von Niklas Ritter
Regie: Niklas Ritter, Bühne: Kerstin Narr, Norman Plathe-Narr, Kostüme: Ines Burisch, Musik: Oliver Rath.
Mit: Bastian Dulisch, Rebecca Klingenberg, Marco Mathes, Anna Paula Muth, Paul Trempnau, Jenny Weichert.
Premiere am 9. Dezember 2023
Dauer 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.dt-goettingen.de


Mehr: "GRM.Brainfuck" wurde 2021 von Sebastian Nübling uraufgeführt

Kritikenrundschau

"Schonungslos bringt Regisseur Niklas Ritter die Szenen in eigener Fassung auf die Bühne des Deutschen Theaters in Göttingen – gelungen und grässlich schockierend", schreibt Ute Lawrenz in der Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen (11.12.2023). "Krass ist, wie erschreckend nüchtern die Darsteller (Bastian Dulisch, Rebecca Klingenberg, Marco Matthes, Anna Paula Muth, Paul Trempnau und Jenny Weichert) Gewalt und Nähe darstellen."

"Das Publikum wird in Niklas Ritters Inszenierung hineingezogen in eine düstere Welt. In der ersten Spielhälfte werden die (Leidens)-Geschichten der Protagonisten erzählt – wenig Handlung und viele Beschreibungen. Die sexualisierte Gewalt, die die Jugendlichen erfahren, wird schonungslos geschildert. Nichts für schwache Nerven", schreibt Clara Hörschler im Göttinger Tageblatt (11.12.2023). Sibylle Berg greife Ereignisse und Debatten der Gegenwart auf und treibe sie auf die Spitze.

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