Es lebe der Tod!

16. Dezember 2021. Zwischen Leckereien und Luftballons feiern sie das selbstbestimmte Lebensende: Hamburgs Schauspielhaus-Chefin Karin Beier und die Kölner Journalistin Brigitte Venator haben Gespräche über das Sterben und den Tod für die Bühne montiert. Unter dem Titel "Aus dem Leben".

Von Michael Laages

"Aus dem Leben" am Deutschen Schauspielhaus Hamburg © Thomas Aurin

16. Dezember 2021. Im rauschenden Finale wird ein bisschen geschummelt – mit furioser Blaskapelle, Tanz und tobendem Tingeltangel wird der oder die frisch Verstorbene noch einmal gefeiert. Und wer je eine dieser wunderbar mitreißenden Totenfeiern in New Orleans, im Nordosten Brasiliens oder in Mexiko miterlebt hat, wer auch nur die unvergesslichen CDs mit Trauermusiken aus aller Welt gehört hat, die vor gut zwanzig Jahren erschienen sind, stimmt jubelnd mit ein: Ja, so sollte das Sterben, sollte dieser letzte Schritt "aus dem Leben" gefeiert werden! Der Mensch, der da gegangen ist und womöglich von uns und von vielen geschätzt, geachtet oder sogar geliebt wurde, geht hinüber, und wir geben ihm mit, was wir haben – Zuneigung vor allem, aber auch bunte Lichter, Luftballons, gutes Essen, leckere Getränke … Einen weißen Sarg haben Musiker und Ensemble im Finale herein getragen, ekstatisch tanzend und mit Totenmasken vor den Gesichtern feiern sie im Tod das Leben.

Das ist natürlich wunderschön.

Führt aber auch ein bisschen in die Irre. Denn eine wilde Feier wie diese sollte gerne jedem und jeder zuteilwerden, unterschiedslos; nicht immer dieses schwarzverschleierte Kirchen-Gejammer. Vor dieser Feier am Ende des Stück-Projektes von Brigitte Venator und Karin Beier ist es allerdings um sehr spezielles Sterben gegangen – um das selbstbestimmte, von dem oder der Todkranken selbst gewählte Ende. Auf dieser Ebene des Todes gibt es nicht nur kein Fest, sondern stattdessen eine anhaltende politische, ethische und moralische Debatte. Ferdinand von Schirach hat mit "Gott" bekanntlich eine Art Theaterstück zu diesem Streit um Tod und Leben gefertigt, das rauf und runter gespielt wird an vielen Theatern. "Aus dem Leben" jetzt in Hamburg ist im Grunde noch weniger theatral – dafür aber inhaltlich deutlich herausfordernder.

Aus Gesprächen mit Betroffenen

Venator und Beier nämlich lassen nicht – wie Schirach – Repräsentanten politischer oder religiöser Glaubensrichtungen diskutieren um das Begehren eines einzelnen Menschen, der zwar im Grunde ziemlich gesund ist, aber aus anderen, auch sehr nachvollziehbaren Motiven "aus dem Leben" scheiden möchte. Für das Hamburger Projekt wurden Gespräche mit vielen Betroffenen geführt; und nur jeweils ganz kurz zwischendurch meldet sich aus den Ton-Archiven die öffentliche (und bislang eher unversöhnlich geführte) Debatte zu Wort. Bisherige Regierungen und höchste Gerichte haben ja noch nicht den Königsweg gefunden für praktikable Lösungen in Fällen, wo Menschen aus freien Stücken sterben wollen und für diese im vollen Bewusstsein des eigenen Nicht-mehr-leben-Wollens getroffene Entscheidung nicht auch noch schikaniert werden dürften.

Aus dem leben1 Thomas Aurin uZugfahrt in die Schweiz: Maximilian Scheidt im Bühnenbild von Amber Vandenhoeck © Thomas Aurin

Die kleine Malersaal-Bühne ist von Amber Vandenhoeck zum edlen, kühlen Saal des Abschiednehmens ausstaffiert worden. Wer mag, kann sich an einige der Raum-Gestaltungen in Projekten des dänisch-österreichischen Signa-Kollektivs erinnert fühlen, das ja auch gerade wieder in Hamburg arbeitet (siehe die Nachtkritik). Julia Wieninger und Lina Beckmann, Markus John, Maximilian Scheidt und Carlo Ljubek übernehmen darin nun die durchweg sehr eindrucksvollen Erzählungen und Berichte von und über Menschen, die selber im Begriff sind, aus dem Leben zu gehen; oder bereit sind, dabei behilflich zu sein. Die Fachbegriffe zum selbst gewählten, begleiteten und "assistierten" Sterben sind immer präsent; und die staats- und verfassungsrechtliche Debatte um Exit-Strategien schwingt immer mit.

Mit Spielzeug-Eisenbahn und Leckereien

Ein bisschen angestrengt sucht und findet Karin Beier Bilder dazu – für die Vision etwa von der Reise zu einem Sterbeverein in der schweizerischen Grenzstadt Basel rollt eine Spielzeug-Eisenbahn vorn an der Bühne im Kreis. Und wenn einer der Sterbe-Begleiter davon berichtet, dass er womöglich die eigene Garage nutzen muss für eine Sterbe-Zeremonie und sie darum renoviert, malert er ein wenig an der Wand herum. Erstaunlich sind immer wieder die Momente, in denen Menschen extrem leicht Abschied nehmen; als brächen sie in den Urlaub auf und nicht in den Tod.

Aus dem leben3 Thomas Aurin uMaximilian Scheidt als Gevatter Tod © Thomas Aurin

Derweil trägt das Ensemble den ganzen Abend über Leckereien herein, gegen Ende sogar Fasan und Schweinskopf, bis sich die Tafel rechts am Bühnenrand nachgerade biegt unter der Last der Köstlichkeiten. Etliche Telefone liegen am Boden: letzter Kontakt mit der Welt für so viele. Rings im Raum hängen Bilder, hinter denen Erinnerung klingt und Musik; oder die Grabkerzen flackern wie auf einem Friedhof im katholischen Köln. Und dann werden im Hintergrund die Vorhänge aufgezogen vor den Fenstern, ein grünes Tal zeigt sich, vielleicht eine liebliche "Friedwald“-Landschaft.

Eher ein Hörspiel

Natürlich ist der Abend ein vielstimmiges Plädoyer – für das selbstbestimmte Sterben, gegen die Regelungen, die dem entgegen stehen. Jeder und jede im Ensemble eignet sich die Geschichten und Berichte, die Haltungen und Verzweiflungen so einfühlsam wie möglich an – wirklich szenisch aber wird das Spiel mit den Stimmen nicht; die Berichte von Zeuginnen und Zeugen hätten auch das Zeug zu einem sicher ziemlich starken Hörspiel.

Aber dann kommt halt die Kapelle herein mit dem weißen Sarg, und da tanzen die Traum-Gestalten mit den Totenmasken. Da ist alle Mäkelei vergessen: Viva la Muerte!

 

Aus dem Leben
Projekt von Brigitte Venator und Karin Beier
Regie und Fassung: Karin Beier, Gespräche geführt von Brigitte Venator, Gespräche bearbeitet von Julian Pörksen, Bühne: Amber Vandenhoeck, Kostüme: Wicke Naujoks, Musik: Jörg Gollasch, Choreograf: Valenti Rocamora i Torà, Licht: Björn Salzer, Dramaturgie: Beate Heine.
Mit: Lina Beckmann, Markus John, Calo Ljubek, Maximilian Scheidt und Julia Wieninger; Musiker: Jens Carstens, Sebastian Hoffmann, Markus John, Sebastian John, Philipp Kacza, Felix Konrad, Dirk Lenschat, Marco Möller, Rainer Sell, Benni Stanko, Hans-Christian Stephan.
Premiere am 15. Dezember 2021
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

"All diese Prozesse, Reflexionen, Verwicklungen sind beeindruckend subtil und klug inszeniert, ringsherum gut ge­spielt und ergreifend anzuhören – neu sind sie nicht. Und je differenzierter die individuellen Sterbegeschichten sich in den rund zwei Stunden entfalten, desto mehr verschwindet dahinter die allgemeine Problematik", schreibt Irene Bazinger von der FAZ (17.12.2021). "Stellt sich die Frage: Was bringt ein Projekt wie 'Aus dem Leben', während sich draußen im Land Tausende radikalisieren, die den Tod von anderen billigend in Kauf nehmen, weil sie sich nicht impfen lassen wollen?" Immerhin: Was Lina Beckmann zeige, sei keine Tragödie, sonern packendes Theater: "Zum Bewundern, nicht zum Weinen."

"Wie erzählt man vom Sterben oder genauer: vom Sterben-Wollen?", fragt Peter Helling vom NDR (16.12.2021). "Man macht es am besten so: indem das Theater sich tief verbeugt vor der Wirklichkeit." Und weiter: "Die Schauspieler und Schauspielerinnen spielen so dicht, lassen so tief blicken, füllen die Sprache von innen aus, dass diese echten Texte zu atmen beginnen. Der Theaterabend macht den Gedanken des Todes aushaltbar."

Dicht sei der Text und fein das Spiel, schwärmt Maike Schiller vom Hamburger Abendblatt (16.12.2021). Die "zarte, erschütternde, berührend wahrhaftige Inszenierung" gehe nicht spurlos am Zuschauer vorbei. Der Abend vermittle "eine gewaltige Zuneigung" zum Leben und zu den Menschen.

Kommentare  
Aus dem Leben, Hamburg: Viva la muerte?
Den Schlachtruf der spanischen Faschisten so unbedarft zu verwenden, sollte dem lieben Michel Laages eigentlich nicht passieren. Dass eine arte-Reportage zum Mexikanischen „Dia de los muertos“ das auch tut, macht es nicht besser.
Ich will nicht zu sehr moralisieren, aber das hat schon etwa die Qualität von der Verwendung einer Nazi-Parole („Jedem das Seine“) als Werbe-Slogan.
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