Herr Puntila und sein Knecht Matti - Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Keine Zeit für einfache Antworten
23. September 2024. Kein Alkohol ist auch keine Lösung: Selten traf dieser Tresenspruch so deutlich zu wie beim Gutsbesitzer Puntila, der im Suff auf Menschenfreund macht. Karin Beier entdeckt in ihm einen Archetypen des 20. Jahrhunderts – und inszeniert Brechts Volksstück mit geballter Theaterstarkraft.
Von Stefan Forth
23. September 2024. Die Welt liegt schon in Fetzen, bevor der Abend überhaupt angefangen hat. Die Bühne des Deutschen Schauspielhauses Hamburg ist übersät von zerrissenen Schnipseln, bruchstückhaften Überresten etlicher Saufgelage einer Gesellschaft am Abgrund. In der Regie von Intendantin Karin Beier wird Bertolt Brechts Volksstück "Herr Puntila und sein Knecht Matti" zu einem düsteren, grotesk-komischen Abgesang auf die fatale Hilfslosigkeit männlichen Machtgehabes.
Joachim Meyerhoff ist in der Titelrolle der protzige Prototyp eines armseligen Willkürherrschers. Eine riesenhafte Zwerggestalt. Von der Statur her überragt er alle im Ensemble, aber schon der zauselige Schnäuzer und die fettigen langen Haarsträhnen deuten unzweifelhaft darauf hin, dass dieser Gutsbesitzer Puntila seine besten Tage hinter sich hat. Kein Wunder: Er ist ja auch die meisten Zeit damit beschäftigt, Alkohol in sich zu schütten. Trotzdem gibt er noch den großen Goldketten-Zampano im Pelz, und im Suff hält er sich sogar für einen Menschenfreund, der fast ein Kommunist sein könnte.
Trunkene Verbrüderungsversuche
Schon Brecht lässt allerdings kaum Zweifel daran, dass Puntilas trunkene Verbrüderungsversuche mit wirtschaftlich Abhängigen eine einigermaßen selbstgerechte, mitunter weinerlich-sentimentale Angelegenheit sind. Die Hamburger Inszenierung findet großen Spaß daran, die launenhaft verzweifelte Überheblichkeit dieses Gutsbesitzers vollends zu enttarnen. Auf dem Gesindemarkt etwa treibt Puntila sein grausames Spiel mit Gelegenheitsarbeitern, die dort um ihre Existenz ringen. Geschäfte möchte er nämlich erstmal keine machen, "weil man lieber singen möchte, weil die Welt doch so schön ist." Und so lässt Meyerhoffs Möchtegern-Gutmensch Puntila den schmächtigen Spielerkollegen Michael Wittenborn Janis Joplins A-capella-Song "Mercedes Benz" für sich krächzen. Emotionale Ausbeutung in Reinkultur. Der einzige Lohn ist die Hoffnung auf einen Job, die sich nicht erfüllen wird.
Im (seltenen) nüchternen Zustand ist von Puntila nämlich erst recht kein Mitgefühl zu erwarten. Von seinen Versprechungen im Suff will er dann überhaupt nichts mehr wissen. Gleich vier Frauen aus dem Dorf hat er die Ehe versprochen. Alle vier weist er brüsk zurück, als sie auf seinem Gut auftauchen, zerrt ihnen seine ausladend goldenen Ringe wieder vom Finger und schickt sie schreiend davon. Es war eine kluge Entscheidung der Regisseurin, dieses weibliche Quartett der Abziehbildchen mit Männern zu besetzen. Wenn Josef Ostendorf, Jan-Peter Kampwirth, Maximilian Scheidt und Michael Wittenborn stramm im Stechschritt mit Rock und Kopftuch von dannen ziehen, demontieren sie die latent sexistische Anlage dieser vermeintlich willfährigen Frauentypen.
Energetische Anziehung
Überhaupt tritt an diesem Abend nur eine Schauspielerin auf – und das mit atemberaubender Präsenz: Lilith Stangenberg ist als Puntilas Tochter Eva eine schillernd Verlorene, die zwischen Fatalismus und Hysterie changiert. Der Gutsbesitzer nennt sie eine "wohlstandsverwahrloste Furie". "Hol mich hier raus", bettelt sie den Chauffeur Matti an, nachdem ihr Vater ihre Verlobung mit einem windigen Diplomaten hat platzen lassen.
Im silbernen Kleid oder Paillettenoberteil ist sie ein fein nuancierter Gegenentwurf zur schwarz-weißen Welt der Männer, die in kaltes helles Licht getaucht ist, durch das der Bühnennebel wabert. Zwischen dieser Eva und dem Matti des kraftvoll schicksalsergebenen Kristof Van Boven besteht eine energetische Anziehung, deren Reiz darin liegt, dass nie ganz klar ist, wer hier eigentlich wem über- oder unterlegen ist, wenn sie sich teils auch nackt einander ausliefern.
Die oft brachiale, archaische Körperlichkeit der Inszenierung hat eine ganz eigene Wucht. Immer wieder gehen Artistik und Slapstick nahtlos ineinander über. Schon ziemlich lustig, wie Joachim Meyerhoff rhythmisch mit Schnapsgläsern jonglieren kann. Begleitet wird er dabei live von Jakob Neubauer am Akkordeon und Vlatko Kučan auf der Klarinette, die in einem abgewrackten Wohnwagen auf der Bühne sitzen und dem Abend seinen Sound geben.
Dazwischen wabern aber auch Geräusche durch die Inszenierung, die ähnlich wie einige der Kostüme an die Entstehungszeit von Brechts Volksstück erinnern, also das Jahr 1940 und sein historisches Umfeld. Aus einem alten Radio rauschen unter anderem Propagandaparolen der Nazis, zwischendurch scheinen von fern unheilvoll Bomben zu grollen. Im Hintergrund ziehen dunkle Wolken über die Bühnenmauer, Vogelschwärme werfen unheilvoll ihre Schatten. Endzeitstimmung.
Archetypen des 20. Jahrhunderts
Wie kommen Krieg und Gewalt in die Welt? Welcher Wahnsinn treibt unsere Gesellschaften dazu, sich immer wieder selbst zu zerstören? Mit diesen Fragen hat sich Schauspielhaus-Chefin Karin Beier schon in der vergangenen Spielzeit in ihrer fünfteiligen Antiken-Reihe "Anthropolis" wirkmächtig beschäftigt (und dafür mit ihrem Team zu Recht einige Auszeichnungen abgeräumt). Jetzt also die ästhetische wie gedankliche Fortsetzung: Dem Mythos Mensch spürt Beier in "Herr Puntila und sein Knecht Matti" weiter nach und findet bei Brecht Archetypen des 20. Jahrhunderts, die mehr Rätsel aufgeben, als es auf den ersten Blick scheint.
Die klaren Schwarz-Weiß-Kontraste in Bühnenbild und Kostümen erweisen sich bei genauerem Hinsehen oft als Grautöne. Ein überragendes Ensemble lotet jeden Winkel dieser Geschichte von Macht und Ohnmacht mit großer Entdeckerlust und Spielfreude aus. Derbe Momente und leise Töne, Schenkelklopfer und Abgründe, Slapstick und Poesie, wilde Tänze und lakonische Moritaten fügen sich klug arrangiert zu einer lustvollen Gesamtkomposition, in der jedes Tempo stimmt.
Wird es Matti letztlich schaffen, sich aus der Abhängigkeit von diesem Herrn Puntila zu befreien? Vor knapp 30 Jahren hatte Frank Castorf an gleicher Stelle in Hamburg dem Gutsbesitzer die Oberhand belassen (damals noch gespielt von Michael Wittenborn). Anders als bei Brecht, bei dem Matti den Hof verlässt. Heute dagegen ist das Ende der Geschichte wieder offen. Es ist nicht die Zeit für einfache Antworten.
Herr Puntila und sein Knecht Matti
von Bertolt Brecht
mit Musik von Paul Dessau und Jörg Gollasch
Regie: Karin Beier, Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Wicke Naujoks, Musik: Jörg Gollasch, Licht: Annette ter Meulen, Video: Severin Renke, choreografische Mitarbeit: Valenti Rocamora i Torà, Dramaturgie: Judith Gerstenberg.
Mit: Jan-Peter Kampwirth, Joachim Meyerhoff, Josef Ostendorf, Maximilian Scheidt, Lilith Stangenberg, Kristof Van Boven, Michael Wittenborn und Vlatko Kučan, Jakob Neubauer (Live-Musik).
Premiere am 22. September 2024
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause
www.schauspielhaus.de
Kritikenrundschau
Stimmungsmäßig eher in einen Kaurismäki-Film als in eine "schenkelklopfende Komödie" versetzt fühlte sich Katrin Ullmann in der Premiere, wie sie in der Sendung "Fazit" auf DLF Kultur (22.9.2024) berichtet. Regisseurin Karin Beier erzähle den Abend vielmehr psychologisch als sich aufs typisch Brecht'sche Klassenkämpferische zu verlegen. "Es geht um die Einsamkeit und Vereinzelung der Menschen", so die Kritikerin, die sich insbesondere vom ersten Teil "sehr angetan" zeigt. Später verliere der Abend zwar etwas "den Fokus", schaffe aber nichtdestotrotz "viele tolle Bilder und Stimmungen" – und sei "schauspielerisch enorm beeindruckend".
"Es ist ein zäher Spielzeitauftakt, der Fragen aufwirft – und eher ratlos macht", gibt Peter Helling beim NDR (23.9.2024) zu Protokoll. "Dass hier ein furioses Ensemble spielt, macht die Gesamtkonstruktion der Inszenierung nicht lebendiger. So geht diesem Abend die Puste aus."
"Die Lagerkämpfe, die rote Gesinnung gegen die rechte, die Gewalt, die Beklemmung, die Veranlagung zur Verachtung, das Verhältnis von Macht zu Ohnmacht, alles drin", schreibt Maike Schiller im Hamburger Abendblatt (24.9.2024). Karin Beier verstehe es wie wenige, "all das in einem unterhaltsamen, unheilvollen, gegenwartsrelevanten Abend zu transportieren. Während draußen vor dem Theater am Premierenabend, der zugleich der Wahlabend in Brandenburg ist, gegen den neuen Faschismus demonstriert wird. Geehrtes Publikum, die Zeit ist trist."
Es sei vor allem "die unglaubliche Leistung dieses Ensembles", die den Abend sehenswert mache, schreibt Stefan Grund in der Welt (23.9.2024). "Auch wenn er zwischendrin vor der Pause – zu weit weg von Meyerhoff als Motor dieser Inszenierung – wegsackt und der Schluss unklar bleibt." Hätte der Abend nur zwei Stunden gedauert, hätte er die Spannung gehalten, so der Kritiker.
"Bei einem schlechteren Schauspieler als Joachim Meyerhoff wäre diese Konzentration auf Trinkermacken vermutlich zur Qual geworden", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (24.9.2024). "Aber seinem charmanten Virtuosentum folgt das Publikum selbst dann noch gebannt, wenn es inhaltlich längst nichts mehr Neues erzählt. Ein Rätsel mit Gewinn ist dagegen sein Gegenspieler, der 'gute Freund' und 'schlechte Mensch' Matti. Kristof Van Boven lässt seine Motive und Haltungen geschickt im Unklaren, maskiert mit einem stoischen Ernst seinen wahren Charakter und spiegelt damit die Schizophrenie seines Chefs in weit feinerer Weise. Ob dieser Knecht eigentlich selbst der Herr ist, ein schmieriger Untertan, oder ein cleverer Revolutionär, der zu klug ist, seine Haltung herumzuposaunen, bleibt interessant offen."
"Karin Beier und ihr famoses Ensemble haben genau in Brechts dialektisch raffinierten Theatertext hineingelauscht und schärfen ihn mit abgründigem Schabernack zu einem fatalen Ende hin", jubelt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.9.2024). "So apokalyptisch modern ist Brechts 'Puntila' selten auf eine Bühne gekommen – und das tut dem Stück gut."
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Brechts „Puntila“ ist eine Paraderolle für den Hamburger Neuzugang, der zum Spielzeitauftakt von der Berliner Schaubühne ans Schauspielhaus wechselte und gleich die Titelrolle in der Eröffnungsinszenierung der regieführenden Intendantin Karin Beier bekam.
So richtig in Fahrt kommt Meyerhoff, als er das Publikum anpflaumen kann: auf dem Gesindemarkt hält der Gutsherr Ausschau nach neuen, willigen Arbeitskräften. Dazu wird das Licht im Saal so weit aufgeblendet, dass der Schauspielstar seine Opfer in den ersten Reihen ins Visier nehmen kann. Genüsslich macht er sich über Brillen und Frisuren lustig, am liebsten demütigt er aber seinen Spielpartner Michael Wittenborn, den er immer nur „den Kümmerlichen“ nennt und dazu zwingt, auf ein Podest zu steigen und „Mercedes Benz“ von Janis Joplin zu krächzen.
Meyerhoff darf diesmal nicht nur das provokative Ekel spielen, als das er zuletzt auch in Jette Steckels Münchner Theatertreffen-Gastspiel „Die Vaterlosen“ herumätzte, sondern auch den jovialen Charmeur, den wir bei seinem Auftritt als Trigorin in Thomas Ostermeiers „Die Möwe“ kennenlernten. Für diesen Auftritt an der Schaubühne wurde er zum Schauspieler des Jahres 2023 gewählt.
Es war zu erwarten, dass der Abend eine große Meyerhoff-Show wird. Manchmal blitzt dies auch auf. Erstaunlich ist aber, dass er die Handbremse angezogen lässt und sich nicht zu viel Raum nimmt.
Der Inszenierung tut dies jedoch nicht gut. Die drei Stunden 15 Minuten verlieren sich zu oft in derben Späßen auf Schwanzvergleich-Niveau und unnötigen Längen. Puntilas Bräute, denen er im Suff Anträge machte, werden zu Travestie-Witzfiguren (Jan-Peter Kampwirth, Josef Ostendorf, Maximilian Scheidt und der schon erwähnte Michael Wittenborn).
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/10/04/herr-puntila-und-sein-knecht-matti-schauspielhaus-hamburg/