Wurzeln geschlagen

27. Januar 2024. Mal als Frau, mal als Mann reist Orlando durch die Jahrhunderte von der Elisabethanischen Zeit bis in die Gegenwart. Jossi Wieler inszeniert Virginia Woolfs Romanklassiker am Hamburger Schauspielhaus. Und lässt die Bäume wachsen.

Von Stefan Forth

"Orlando" in der Regie von Jossi Wieler am Deutschen Schauspielhaus Hamburg © Matthias Horn

27. Januar 2024. Ein Mensch lebt sich quer durch die Jahrhunderte und Geschlechterrollen, ist mal Mann, dann Frau, zieht mit Nomaden und vor königliche Höfe. Es ist eine fantastisch verspielte Zeitreise, die Virginia Woolf in ihrem Roman "Orlando" beschreibt. Eine lässige Jonglage mit Identitäten und Moralvorstellungen, mit Ideen von Kunst und Wirklichkeit. Aus dieser einigermaßen schillernden Vorlage macht Regisseur Jossi Wieler am Deutschen Schauspielhaus Hamburg einen viel zu statischen Theaterabend. Die große Bühne dreht sich, die Worte fliegen – aber sonst kommt die Inszenierung selten mal vom Fleck.

Zeitreisende mit Stulle und Thermosflasche

Dafür wird permanent an einem riesigen, quer liegenden knorrigen Eichenbaum gewerkelt, geschraubt und geklebt. Lars Rudolph und Sachiko Hara schleppen immer neue Äste heran, ganze Paletten von Moos und anderem Grünzeug und sorgen dafür, dass das künstliche Stück Natur im Hintergrund lange immer weiter wächst, während vorne in der Geschichte eine britische Gesellschaft die nächste ablöst, von Elisabeth I. im 16. Jahrhundert bis ins Viktorianische Zeitalter und darüber hinaus.

Zwischendurch nehmen sich die beiden Baumhandwerker in bequemer zeitloser Arbeitskleidung auch mal Zeit für ein Päuschen, stilecht mit Stulle und Thermosflasche. Wenn sie dann aber wieder loslegen, scheuen sie kein Störgeräusch. Schließlich wird ihr Werk die meisten Moden, Großwetterlagen und Einstellungen überdauern, die an diesem Abend sonst ab und an mal kurz aufscheinen und vorbeiziehen. Und wie sie dem Baum immer mehr Äste anschrauben, dichtet die Schriftstellerin Virginia Woolf ihrer geschlechterfluiden Figur Orlando immer weitere Facetten einer vielschichtigen Persönlichkeit an. Schon schön, wie Bühnenbildnerin Katrin Brack mit der Eiche ein wiederkehrendes Motiv des Romans augenzwinkernd adaptiert hat.

Orlandos seltsame Gemengelage

Für die fünf Erzählerinnen des Abends muss dagegen ein schlichter schwarzer Holztisch mit passenden Stühlen reichen. Darum herum berichten sie dann vom jahrhundertelangen Leben dieser Orlando-Figur, die immer mal wieder in einen tranceartigen Zustand fällt und irgendwann als junger Adliger in Konstantinopel ins Bett geht, um als Frau wieder aufzuwachen. Das hat allerdings "keinerlei Auswirkungen auf die Identität", wie wir erfahren, und es ändert auch nichts daran, dass sich Orlando regelmäßig mit großer Lust in Liebe und Sex mit wechselnden anderen Menschen stürzt. Bis die Sehnsucht nach Einsamkeit wieder überhand gewinnt.

"Es steht außer Frage, dass Orlando ein seltsames Gemenge aus verschiedenen Stimmungen verkörpert", sagt die Schauspielerin Bettina Stucky einmal. Geredet wird davon oft. Zu sehen, zu spüren und zu erleben ist das kaum.

Vom Renaissance-Zeitalter bis heute: das Ensemble im Bühnenbild von Katrin Brack © Matthias Horn

Zwar wechselt das Ensemble in der zweiten Hälfte ab und an mal das eine oder andere Kostümteil, befreit sich etwa Julia Wieninger erst demonstrativ aus einem klischeemännlichen Hemd im Oversized-Look, nur um sich etwas später wunderbar umständlich einen schimmernden Reifrock über die Schultern vom Körper zu schieben. Zwischen einzelnen plakativen Bildern wie diesen verliert sich dann aber wieder jede Spannung oder Aktion auf der großen Bühne des Schauspielhauses irgendwo im Ungefähren. Wie es weitergeht mit der Erzählung von Orlando – eigentlich egal.

Touch einer szenischen Lesung

Natürlich kann dieses Ensemble mit Worten Stationen gestalten. Hildegard Schmahl legt liebevoll verschmitzt die feine Ironie des Romans frei, entdeckt im moralinsauren Viktorianischen Zeitalter "Eheringe, wohin man blickt". "Orlando kann jetzt nur vermuten, dass die Leute irgendwie zusammenkleben", kommentiert Julia Wieninger im abgeklärten Lästerton eine Gesellschaft, die monogame Zweierbeziehungen als Idealzustand öffentlich an jeder Ecke ausstellt.

Daraus hätte sich etwas machen lassen. Nur scheinen Regisseur Jossi Wieler die Ideen ausgegangen zu sein, und so wirkt manche Sequenz fast eher wie eine szenische Lesung – mit Baumarbeiten im Hintergrund. Und Längen im Vordergrund.

Am Schluss soll Orlando auch noch in der Gegenwart ankommen. Bei Virginia Woolf sind das die 1920er Jahre. Am Deutschen Schauspielhaus soll es an diesem Premierenabend ganz ausdrücklich der "26. Januar 2024" sein: "Es ist jetzt." Wie so vieles andere in Jossi Wielers Inszenierung bleibt das allerdings eine bloße Behauptung. Ein loser Satz, der statisch im Raum schwebt. Keine Begegnung, die bewegt.

 

Orlando
nach Virginia Woolf
Aus dem Englischen von Melanie Walz, Bühnenfassung: Ralf Fiedler
Regie: Jossi Wieler, Bühne: Katrin Brack, Kostüme: Anja Rabes, Musik: Friederike Bernhardt, Philipp Ruoff, Licht: Annette ter Meulen, Dramaturgie: Ralf Fiedler.
Mit: Sandra Gerling, Sachiko Hara, Linn Reusse, Lars Rudolph, Hildegard Schmal, Bettina Stucky, Julia Wieninger.
Premiere am 26. Januar 2024
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

Eigentlich mache es dieser lebenspralle Text voller schillernder Figuren und Wendungen dem Ensemble leicht - "nur ins Spiel finden sie nicht", so Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (29.1.2024). Die Inszenierung trete seltsam auf der Stelle und bleibe statisch. "und der Stoff verliert in dieser nachdenklichen, melancholischen Version viel von seiner Leichtigkeit. "Bis zum Schluss wird man das Gefühl nicht los, einer Leseprobe beizuwohnen, die ihre Form noch sucht." Jenseits des Klanges der Worte scheint Jossie Wieler hier die Lust am Spiel seltsam abhandengekommen zu sein.

Jossi Wieler schlage aus dem Stoff "kaum szenische Funken", berichtet Katja Weise im NDR (27.1.2024). "Der Witz und die Leichtigkeit, die den Roman ebenfalls auszeichnen, werden nur dezent angedeutet. Der Schwung der Vorlage verpufft – zugunsten ernsthaft gestellter, existenzieller Fragen." Fazit: "Freundlicher Beifall für einen konzentrierten Abend, der dem Spiel zu wenig Raum gibt."

"Sicher, keine Bühnenbearbeitung wird je der ganzen Opulenz jenes Universums gerecht werden, das Virginia Woolf in ihrem Roman entworfen hat. Aber so starr, ideenarm und zäh wie an diesem Abend muss es weiß Gott auch nicht sein", seufzt Alexander Menden in der Süddeutschen Zeitung (30.1.2024).

"In Jossi Wielers höchst musikalisch verdichteter Inszenierung wird mit der Eleganz des beseelten Minimalismus eine Welt so leicht und unbekümmert wie ein Kinderspiel entworfen", schreibt Irene Bazinger in der FAZ (7.2.2024). "Wieler stellt sich nicht über den Text, er stellt ihn uns vor."

Kommentare  
Orlando, Hamburg: Lampe und Huppert …
Wahrscheinlich war diese Wieler-Inszenierung von einer anderen inspiriert: Zdenek Adamec von Handke … es wird nicht gespielt, sondern vorgetragen (bei Handke: gemutmaßt) … ein ständig kreisender, als riesiges Requisit erkennbarer Baum wird zusammen “geschraubt“, irgendwann macht es Klack und zwei oder mehrere Zweige knicken runter. Wahrscheinlich sollten wir zum Nachdenken gebracht werden, warum das gerade an der entsprechenden Textstelle passiert. Vermutlich liegt in diesem „Augenblick“ die „Wahrheit“ oder irgendetwas, was als Interpretation … Aus Sätzen entstehen keine Bilder im Kopf: Konstantinopel? … Lars Rudolph ist hier wohl das Pendant zu Bernd Mross (Angabe der Person), hier jedoch mit einer Assistentin (oder umgekehrt) …

Gerne aber wieder erinnert an Jutta Lampe und Isabelle Huppert … sind bereits 30 Jahre vergangen? Beide im gleichen Wilson-Korsett und doch so verschieden … Unglaublich, dass Stimmen und Gesten so in Erinnerung bleiben, auch wenn Orlandos Geschichte längst verflogen ist …
Orlando, Hamburg: Zuversicht
... da bin ich ja jetzt schon recht sicher, dass mir das sehr gefallen könnte ...
Orlando, Hamburg: Immerhin
@michael laages: Interessant, Sie finden etwas schon prinzipiell erstmal gut, wenn etwas als derart dröge und fantasielos beschrieben wird?

Mir tun die Schauspieler auf der Bühne unfassbar leid. Mit dieser Kritik ist Herr Wieler noch gut weggekommen, sicherlich eben, weil er Herr Wieler ist. Einem Anfänger hätte man eine solche fantasielose Woolf-Adaption nicht durchgehen lassen.

Immerhin aber übrigens ein interessanter Soundtrack, wenngleich mehr Musik auch nicht mehr gerettet hätte.
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