Küsse fliegen, Worte schneiden

29. September 2023. Zwei Freundinnen, Neapel, sechs Jahrzehnte: Elena Ferrantes Romanzyklus – die "Neapolitanische Saga" – wurde zum Welterfolg. Die polnische Regisseurin Ewelina Marciniak, eine der Großen ihrer Regiegeneration und interessiert an epischen Frauenschicksalen, lässt bei der Inszenierung des vierten Teils die Literatur recht unberührt.

Von Katrin Ullmann

"Meine geniale Freundin" in der Regie von Ewelina Marciniak am Thalia Theater Hamburg © Krafft Angerer

29. September 2023. Mit einem Alfa Romeo Spider in der Farbe Rosso Siena. Mit dem "schönsten Auto der Welt" wird Nino eines Tages vorbeikommen. In Neapel. Dann wird er seine vierjährige Tochter Imma besuchen und seine Ex-Frau Elena. Er wird seine Ex-Ex-Freundin Lila und deren Mann Enzo treffen. Sie werden gemeinsam auf den Markt gehen und gebrannte Nüsse und Zuckerwatte kaufen. Sie werden plaudern und dabei die Kinder aus dem Blick verlieren und einen Augenblick später wird Lilas ebenfalls vierjährige Tochter spurlos verschwunden sein. Für immer verloren.

Zwei höchst unterschiedliche Freundinnen

"Die Geschichte des verlorenen Kindes", so heißt der vierte und letzte Band der Romansaga, die vor allem für den ersten Teil, "Meine geniale Freundin", weltweit bekannt und unter diesem Titel auch als TV-Serie verfilmt wurde. Geschrieben, wie die drei Bände zuvor, hat ihn Elena Ferrante. Auf Deutsch erschienen sind die Bücher zwischen 2016 und 2018 und erzählen über sechs Jahrzehnte hinweg die Geschichte der zwei höchst unterschiedlichen Freundinnen Elena und Lila. Was sie eint, ist ihre Klugheit – und ihre Kindheit in einem ärmlichen Arbeiterstadtteil im Neapel der 1950er Jahre.

Als "epochales literaturgeschichtlichen Ereignis" wurde die Tetralogie gefeiert, ein Welterfolg. Die Regisseurin Ewelina Marciniak hat die "Die Geschichte des verlorenen Kindes" nun auf die Bühne des Thalia Theaters gebracht. In ein Wohnzimmer voller Freischwinger und gut gefüllter Bücherregale, mit einer aparten Designerlampe und wohlstandshohen Wänden, gestrichen in Rosso Siena (Bühne: Mirek Kaszmarek). 

Lektüre-Erwartungen werden erfüllt

Hier spielt die Geschichte. Hier breitet sich Kinderlachen und ein zunächst sympathisch italienisch-chaotisches, bald zerrüttetes Familienleben aus. Hier fliegen Küsse so weich wie Lippenbalsam und Worte so scharf wie Santokumesser. Hier werden Spaghetti serviert, Kinder umarmt und Romane geschrieben. Hier agieren ein Dutzend Spieler*innen in Kostümen aus der breiten roten Farbpalette (Julia Kornacka), hier spielen sie einen schmierigen Mafia-Boss mit getönter Brille (André Szymanski als Michele Solara), einen gekränkten, herrlich verklemmten Ehemann (Jirka Zett als Pietro Airota) oder einen wunderbar selbstherrlichen Liebhaber (Sebastian Zimmler als Nino Sarratore; später dann eben mit Alfa Romeo).

Zwischen wohlstandshohen Wänden (Bühne: Mirek Kaszmarek) © Krafft Angerer

Hier spielen sie die immer ein bisschen zu laut drängelnde Freundin, die an der Tankstelle arbeitet (Meryem Öz als Carmen Peluso) oder den beflissenen Softie-Vater (Julian Greis als Enzo Scanno), spielen vorwurfsvolle, kränkelnde, verzeihende Mütter und Schwiegermütter (Sandra Flubacher, Christiane von Poelnitz). Hier plätschern meist Klavierakkorde für die Stimmung, schiebt sich bald ein Pappmaché-Vesuv vor die Fensteraussicht. Hier werden unverhohlen (italienische) Klischees bedient, Lektüre-Erwartungen erfüllt und manchmal auch kurze Slow-Motion-Choreographien performt. Immerhin: von einem großartigen Ensemble.

Ein Erdbeben, zwei Schwangerschaften und ein Literaturerfolg

Hier führt eine überragende Rosa Thormeyer als Elena durch ihre Geschichte und damit auch ein bisschen durch die ihrer Kindheitsfreundin Lila (Anna Blomeier). Hier määandert eine dialogreiche Roman-Adaption (Iga Gańczarczyk) recht konventionell und psychologisch erzählt vor sich hin, bis ein Erdbeben, zwei Schwangerschaften und einen Literaturerfolg später nichts mehr so ist wie es war. Sogar die Bücheregale sind dann umgestürzt. 

Gegen Ende, in einer lieblos gebauten Szene zwischen Christiane von Poelnitz (dann als Verlegerin Adele) und Rosa Thormeyer als mittlerweile erfolgsverwöhnte Autorin, verhandelt die Regisseurin noch schnell das schale Verhältnis zwischen Fiktion und Realität. Scharf und streng steht die Verlegerin am Mikro, fragt die Schriftstellerin nach Autorschaft und Verantwortung: "Ist es schön, Identitäten zu stehlen, sich fremder Erfahrungen zu bedienen? Und noch so gut daran zu verdienen? Vielleicht hat die Genialität der Autorin einer realen Person einen riesigen Schmerz zugefügt?" Elenas Antwort besteht aus Schulterzucken und einem leise gemurmelten: "Ich weiß es nicht. Meine geniale Freundin. Ich wollte sie verewigen." Kurz wendet Adele dann noch wie in einer zu heiß gewordenen Bratpfanne das Wort "universell" und argumentiert mit Mutterschaft gegen Hamlets Meditationen, zielt unentschieden in Richtung male gaze und Feminismus. Von der Regisseurin pflichtschuldig drangeklebt wirkt dieser Mini-Exkurs, der plötzlich heraustreten will aus dem rein Literarischen. Dabei hat sie bis dahin noch mal genau was erzählt? Völlig ungebrochen und unkommentiert? Einen Roman. Der selbst vielleicht nur gestohlene Realität ist.

 

Meine geniale Freundin
Die Geschichte des verlorenen Kindes
nach dem Roman von Elena Ferrante
Aus dem Italienischen von Karin Krieger, Bühnenfassung von Iga Gańczarczyk
Regie: Ewelina Marciniak, Bühne: Mirek Kaczmarek, Kostüme: Julia Kornacka, Komposition und Sounddesgin: Karol Nepelski, Licht: Paulus Vogt, Dramaturgie: Christina Bellingen, Choreographie: Agnieszka Kryst, Live-Video; Martin Prinoth, Björn Gailus.
Mit: Rosa Thormeyer, Anna Blomeier, Sebastian Zimmler, Sandra Flubacher, Christiane von Poelnitz, Jirka Zett, André Szymanski, Meryem Öz, Julian Greis, Alina Sophie Müller / Clara Marie Pinter, Filippa Valet / Theresa Zölch.
Premiere am 28. September 2023
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.thalia-theater.de

Kritikenrundschau

"Die Inszenierung der polnischen Regisseurin Ewalina Marciniak liefert kaum mehr als eine für die Bühne adaptierte Nacherzählung des Romans", schreibt Pia Steinhaus in der Hamburger Morgenpost (30.9.2023). Aus Sicht der Kritikerin nutzt die Regisseurin "scheinbar beliebige Mittel, von allem ein bisschen: den kindlichen Charme sehr junger Spielerinnen, Bodengymnastik, Zeitlupenbewegung, unmotivierte Komik, ein live gesungenes Lied und Supermarkt-Hintergrundmusik." So wirkt das großartige Thalia-Ensemble unterfordert auf sie. "Emotional berührt allerdings die vielschichtige Mutter-Tochter-Beziehung – und die Ohnmacht der Menschen angesichts der Gewalt durch die Camorra."

"Manchmal sind Romane vielleicht zwischen zwei Buchdeckeln besser aufgehoben. Dann nämlich, wenn eine Geschichte einfach ohne Richtung und Fokus heruntererzählt wird", schreibt Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (30.9.2023). Für diese Krtikerin bleibt an der Inszenierung vollkommen offen, was die Regisseurin an dem Stoff eigentlich interessierte. An der Darstellung speziell der Hauptfigur Rosa wirkt manches "allzu gezwungen, ausgestellt. Andere im immerhin großartig aufspielenden Ensemble bleiben unterfordert."

Kommentare  
Meine geniale Freundin, Hamburg: Großartige Schauspieler*innen!
Den Alfa Romeo Spider in Rosso Siena hätte ich gerne gesehen, lieber als den Pappmaché-Vesuv, der für das Verständnis - und für die Bühne - ehrlichgesagt nicht nötig war.
Großartige Schauspieler*innen!
Meine geniale Freundin, Hamburg: Verwirrend
Die gestrige Premiere von „Meine geniale Freundin“ hat mich als Leserin der Tetralogie etwas verwirrt. Die Bücher sind in der Zeit von 2016-2018 erschienen, meine Erinnerung entsprechend lückenhaft. Aber der letzte Band im Zentrum der Bühnenfassung? Vor dem Erdbeben (in der Tat ein spektakuläres Ereignis für alle Sinne) musste viel erzählt werden, um alle Zuschauer mitzunehmen, also vor allem die, die die Romanvorlage nicht kennen. Etwas ermüdend und anstrengend, weil die vielen Namen verwirrten. Den Büchern lagen damals Lesezeichen bei, die der vergesslichen Leserschaft eine Orientierung boten. Das hätte ich mir -mit Theatermitteln umgesetzt- auf der Bühne gewünscht.
Nach dem Erdbeben gewann das Stück an Tempo und Augenschmaus. Trotzdem bleibt die Frage, warum diese Geschichte erzählt wurde. Abbild italienischer Familien mit Töchtern, die ihren eigenen Weg gehen? Wohl kaum, das wäre aus der Zeit gefallen. Der Sog, den die Ferrante-Bücher vor 7 Jahren bei mir ausgelöst hat, hat mich gestern Abend nicht wieder erfasst. Trotzdem hab ich mich gern durch die Geschichte führen lassen. Ein großes Kompliment an alle SchauspielerInnen und das gesamten Ensemble.

2018 habe ich auf meinem Instagram-Literaturblog „ritafischer82“ eine Rezension des letzten Buches gestellt… zur Erinnerung:

(...) Die Geschichte der genialen Freundin, eines neuen Namens, der getrennten Wege und des verlorenen Kindes wird lebendig, aus der Erinnerung in Schwarz- Weiß wird Farbe. Lenù und Lila beginnen zu atmen. Das Ferrante-Fever würde von Neuem glühen, die Seiten wären wieder aufgeschlagen und nähmen den Leser in sich auf...

Aber Elena Ferrante hat -noch- nicht das Drehbuch als Filmvorlage für alle Bände geschrieben, sondern Anfang Februar den vierten und letzten Teil erzählt: Die Geschichte des verlorenen Kindes.

Der Schluss ist offen und doch ist alles gesagt. Lenù und Lila sind alt geworden, ihre Wege haben sich wieder getrennt. Ohne etwas zu verraten: Sie sind sich aus dem Weg gegangen, ohne einander zu vergessen.

Was aber geschieht in den ca. 600 Seiten bis zu dem Schluss, der mit dem Beginn der außergewöhnlichen Freundschaft endet?

Elena Greco, Lenù, liebt Nino unbändig und nahezu kompromisslos. Sie verlässt ihren Mann Pietro und die wirtschaftliche Sicherheit, die er ihr bietet, für eine ungewisse Zukunft mit Nino. Mit ihren Töchtern Dede und Elsa, deren Liebe sie zuweilen aufs Spiel setzt, um mit Nino zusammen auf Reisen zu gehen, verlässt sie Florenz und zieht nach Zwischenstationen in eine von Nino gemietete Wohnung in Neapel, nicht weit vom Rione entfernt. Nino verspricht immer wieder aufs Neue, seine Frau für Lenù zu verlassen. Trotz der intellektuellen und intensiven sexuellen Nähe meint Lenù, sich von ihm trennen zu müssen. Sie leidet mit ihm und ohne ihn und lebt im Widerspruch zu ihren feministischen Theorien, indem sie doch nicht von ihm lassen kann: „ Die Vorstellung, ihm zu schaden und ihn nie wiederzusehen, ließ mich …siehe Instagram-Blog
Meine geniale Freundin, Hamburg: Abgeholt und mitgenommen
Die Ferrante Bücher habe ich bisher nicht gelesen – ich nehme an wegen des großen Hypes der darum gemacht wurde. Gestern Abend hat mich aber das tolle Ensemble abgeholt und mitgenommen in dieses psychologische Beziehungsgeflecht. Die Inszenierung war aber insgesamt nicht ganz so scharf wie ein Santoku Messer. (Außerdem: Auch ein schönstes Auto der Welt ist Lancia Flaminia Zagato in Rosso Siena - Augenbalsam)
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