Sehnsucht nach der Tiefkühltruhe

27. März 2023. Mit der Geschichte vom Eismann Franz Schlicht gewann Ferdinand Schmalz 2017 den Bachmannpreis. Es geht um die Doppelnatur der Welt, speziell des Menschen, erzählt anhand eines Krimiplots. Rieke Süßkow hat den Roman nun für die Bühne adaptiert. Warum er dort auch hingehört, beantwortet ihre Inszenierung fast genialisch.

Von Ruth Fühner

Ferdinand Schmalz' "Mein Lieblingstier heißt Winter" von Rieke Süßkow am Schauspiel Frankfurt inszeniert © Jessica Schäfer

27. März 2023. Wahrscheinlich glaubten auch die Dinosaurier, dass sie unsterblich sind - bei den Millionen Jahren auf dem Buckel! Und da steht er nun, der Triceratops, in seinem Diorama: ausgestorben. Ob für die Menschen in Rieke Süßkows Inszenierung nicht schon dasselbe gilt, müsste sich erst noch herausstellen. So richtig lebendig sind sie jedenfalls nicht. Jede Drehung des fünfeckigen Guckkastens auf der Bühne gibt den Blick frei auf eine weitere untote Szenerie mit Figuren, denen Halbmasken etwas Zombiehaftes verleihen. Meistens sind sie in ziemlich unbequemen Posen erstarrt. Ab und zu erwachen sie zu mechanisch ruckartigem Leben und dürfen dann für ein paar Sätze den Mund öffnen: streng dirigiert von der Erzählerin im Souffleurgraben.

Katharina Linder muss von da unten her nur einmal mit dem Finger schnipsen – und es wird Licht. Gekleidet in eine lackglänzende, die Widersprüche aufs Schönste vereinende Kombination (abwaschbares Priesterornat in Weiß, Domina-Handschuhe in Schwarz) ist sie, freundlich interessiert und mit samtweich schmeichelnder Stimme, die personifizierte Deutungshoheit über das Geschehen.

Schwarzhumoriger Schmalz'scher Krimi

Es herrscht Hundstagtemperatur. Der Tiefkühlkostlieferant und bekennende Klimawandelleugner Schlicht ist geschäftlich unterwegs. Sein Kunde Doktor Schauer (Stammgericht: Rehragout) hat beschlossen, sich in seiner Tiefkühltruhe zur ewigen Ruhe zu legen. Er wünscht, dass Schlicht seine Leiche als erster entdecken und sie beisetzen möge. Doch als Schlicht Tage später die Truhe öffnet, ist sie leer. Mit Schauers Tochter macht sich Schlicht auf die Suche nach dem Verschwundenen. Gemeinsam lutscht man Pistazieneis vor der Kulisse einer urbanen Steinwüste, begegnet einem Ingenieur, der aus Angst vor dem Tod Selbstmord begeht, landet bei den Kühlfächern der Pathologie, schließlich führt die Spur zu einem Sterbekartell um einen korrupten Ministerialrat.

 Tier2 Jessica Schäfer uMit Puppenhaftigkeit: Wolfgang Vogler, Tanja Merlin Graf, Melanie Straub, wie geleitet von Katharina Linder vorne © Jessica Schäfer

Mit dem Ministerialrat Kerninger war Schlicht schon einmal aneinander geraten. Er hatte ihn, zusammen mit der Reinigungsunternehmerin Schimmelteufel, wegen einer potenziell karrierefleckigen Neigung zu Nazi-Weihnachtsschmuck zu erpressen versucht. Aber der Plot versandet, während für Schlicht immerhin ein zwar unfreiwilliges, aber doch interessantes Lebendbegräbnis "auf venezianische Art" herausspringt, das er knapp überlebt.

Dekonstruktion des Subjekt

2017 gewann Ferdinand Schmalz mit einem Ausschnitt aus "Mein Lieblingstier heißt Winter" den Ingeborg-Bachmann-Preis. Das Krimigenre erledigt er darin eher nonchalant, die Österreich-Klischees mit einer syntaktisch verschobenen Kunstsprache (samt allgegenwärtigem Kreisen um den Tod), die Klima-Katastrophe mit Figuren, die ihr mit Tiefgekühltem aller Art zu begegnen hoffen.

Die Wahlwienerin Rieke Süßkow wiederum, zum Theatertreffen 2023 eingeladen mit ihrer Uraufführungs-Inszenierung von Peter Handkes "Zwiegespräch", erledigt die Dauer-Langweilerfrage, warum der Debütroman des gestandenen Dramatikers Schmalz nun auch noch auf die Bühne gezerrt werden muss, geradezu genialisch: indem sie ausgerechnet das Romanhafte daran befragt. Sie interessiert sich für die Dekonstruktion des Subjekts, die Schmalz mit dieser Form betreibt. Individuum, Ich, Identität – was soll das denn sein? Daher die Puppenhaftigkeit ihrer fremdgesteuerten Figuren, daher ihre gendertrubelige Verwechselbarkeit (Respekt, wer schon vor dem Schlussapplaus merkt, wie viele Schlichts da ihr Wesen treiben!).

Abgesang auf den freien Willen

Und daher ist es auch nur logisch, dass, kurz vor Schluss, der Blick frei wird auf die Drehmechanik hinter den Dioramen. Am Ende dieses so lustigen wie schlauen Abgesangs auf den freien Willen steht ein Schaukasten mit einer großen Ameise. Diese Ameisenart, erzählt die Halbgöttin im Souffleurgraben, wird regelmäßig Opfer eines Pilzes, der in ihr Gehirn wandert und diktiert, an welchen Pflanzen sie sich festbeißen soll. Fröhlich überlebt der Pilz, die Ameise stirbt. Ich? Ist ein anderer. Womöglich haben wir mit Ameise und Triceratops mehr gemeinsam, als wir glauben wollen.

 

Mein Lieblingstier heißt Winter
nach Ferdinand Schmalz
Regie: Rieke Süßkow, Bühne: Marlene Lockemann, Kostüme: Sabrina Bosshard, Dramaturgie: Katja Herlemann, Licht: Johannes Richter, Sound Design und Komposition: Max Windisch-Spoerk.
Mit: Christina Geiße, Tanja Merlin Graf, Stefan Graf, Katharina Linder, Anabel Möbius, Melanie Straub, Wolfgang Vogler
Premiere am 26. März 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspielfrankfurt.de

 

Kritikenrundschau

"Rieke Süßkow inszeniert die Frankfurter Bühnenfassung, die sie zusammen mit der Dramaturgin Katja Herlemann erstellt hat, im Stil einer Moritat, einer schaurigen Ballade über Liebe, Mord und Totschlag, zu der in den Dioramen Tableaux vivants gezeigt werden: Figurenarrangements, lebendig, aber bewegungslos," schreibt Hubert Spiegel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28.3.2023). Dabei könnten die sechs Schauspieler, die in wechselnden Rollen agieren, "jederzeit zum Leben erwachen: für einen kurzen Dialog, einen Satz, ein einzelnes Wort." Nach einer guten Stunde stellt sich dem Kritiker die Frage, "ob es der Inszenierung gelingen kann, den immer enger werdenden Rahmen des Dioramas zu sprengen. Die Effekte sind durchbuchstabiert, die erstarrten Gesten und eingefrorenen Bewegungen beginnen, sich zu wiederholen. Aber aus dem Leben im Perma­frust, wie Ferdinand Schmalz es beschreibt, gibt es kein Entkommen."

Die Bühnenumsetzung des Ferdinand-Schmalz-Textes sei "ein Meisterwerk", zeigt sich Natascha Pflaumbaum in der Sendung "Fazit" im Deutschlandfunk (26.3.23) begeistert. "Man wird so viel getriggert, es gibt so viele Metaebenen, der Abend stupst einen an, immer wieder in neue Richtungen zu denken“, berichtet die Kritikerin. Die Größe des Abends bestehe darin, "dass er so leichtfüßig daherkommt, so gut gemacht ist und dann so ein ernstes Thema" – den Tod – "behandelt".

Einen "herrlich originellen Theaterabend" hat Björn Gauges vom Darmstädter Echo (28.3.23, €) gesehen. Aus der "dramaturgischen Ausarbeitung" von Schmalz' Romanstoff sei "eine grandios-groteske Krimikomödie als Persiflage des Film Noir" entstanden, von Regisseurin Rieke Süßkow "auf wunderbar oroiginnelle Art umgesetzt". Das Ensemble ziehe zu diesem "furiosen Kabinettstück aus der Feder Ferdinad Schmalz'“, so der Kritiker weiter, "alle Register".

"Das ist feine Unterhaltung, feines Handwerk und Timing," schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (7. 4.2023). "Skurril daran, dass unter Beteiligung so vieler hervorragend arbeitender und vorbereiteter Personen ausgerechnet das abhanden kommt beziehungsweise gar nicht im Fokus des Interesses steht, das der Roman bei allem Schauer und aller Künstlichkeit trotzdem bietet: Menschen, die man im Verlauf der Geschichte näher kennenlernt und über kurz oder lang mag. Hier mag man dafür gerne zuschauen, wie die großartige Linder alles am Laufen hält, freundlich, aber passend zu Schlichts Beruf eiskalt."

Kommentare  
Lieblingstier, Frankfurt: Geniestrukturen
Mal wieder eine Kritik mit einer Hommage auf die Regie und die Hauptrolle. Das Kostüm dieser Hauptrolle wird sogar erwähnt, Name der Kostümbildnerin Sabrina Bosshard aber nur unten im Infokasten - von Bühnenbildnerin, Musiker und einzelnen Ensemble Leistungen ganz zu schweigen. Hauptsache das Regie Genie wird oft genug gelobt! Bei Rieke Süßkows Biographie anscheinend ein journalistische Pflicht. Ich habe die Inszenierung auch gesehen: Dieses angebliche Regie (und Hauptrollen) Genie kann gar nicht das einzige Bemerkenswerte des Abends sein. Es ist ein Zusammenspiel aller Beteiligten auf- und hinter der Bühne und vor allem ist es ein Meisterwerk von Bühnenbildnerin Marlene Lockemann und dessen technischer Umsetzung. Genauso gebührt das Lob den einzelnen Spieler_innen, die, der Logik der Kritik folgend, Süßkows Idee genial umsetzen - vielleicht war es aber auch Ensemblearbeit und die Regie hat nur einen kleinen Teil beigetragen? Wie auch immer, schade, dass in einer Kritik einer weiblichen Person nicht mal in einem Nebensatz bemerkt wird, dass ein weiblich geprägtes Regieteam und ein weiblich geprägtes Ensemble diesen laut der Kritik genialen Abend geschaffen haben - stattdessen werden alte, patriarchale Geniestrukturen angenommen.
Lieblingstier, Frankfurt: Hörspielfassung
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Mein Tipp aus der ARD Audiothek: Tiefkühlkostvertreter Schlicht: Mein Lieblingstier heißt Winter (2/2) - Wien-Krimi https://www.ardaudiothek.de/episode/auf-der-spur-die-ard-ermittlerkrimis/tiefkuehlkostvertreter-schlicht-mein-lieblingstier-heisst-winter-2-2-wien-krimi/ard/94617078/
Lieblingstier, Frankfurt: Erzählerin
Ich gehe gerne ins Theater um gutes Schauspiel zu sehen. In dieser Inszenierung wird viel gesprochen und wenig gespielt. Was vor allem an der Erzählerin liegt, die wiederum deshalb eingesetzt wurde um die romanhafte Herkunft des Stücks hervorzuheben. Eine Theaterkritik sollte auf diesen inszenatorischen Umstand eingehen, damit sich der potenzielle Zuschauer oder die Zuschauerin ein Bild machen kann. Theater mit viel Text und wenig Spiel hat durchaus seine Fans, aber ich bin keiner davon. Daher wäre ich hierüber gerne vorher informiert gewesen.
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