Hundert Prozent Romantiker

3. Dezember 2023. Im Dorf gibt es nur noch eine Frau, und die ist schon verheiratet. Dirk Lauckes neues Stück nimmt die abgehängten Singlemänner auf dem Land aufs Korn. Lars-Ole Walburg hat die Uraufführung inszeniert – mit musikalischem Schmiss und starkem Ensemble.

Von Simon Gottwald

"Singletreff" am Staatstheater Kassel: Günther Harder, Jonathan Stolze, Felix Thewanger, Nora Quest, Marius Bistritzky, Johann Jürgens, Clemens Dönicke © Katrin Ribbe

3. Dezember 2023. Abgehängte (heterosexuelle) Männer über 40 schimpfen in entstelltem Deutsch darüber, dass man sie diskriminiere. Damit dieser Stoff noch interessant wirkt, muss man sich einiges einfallen lassen. Das gelingt am Staatstheater Kassel bei der Uraufführung von Dirk Lauckes "Singletreff" in der Regie von Lars-Ole Walburg oft, aber leider nicht immer.

Aber der Reihe nach: Andy, wegen Cannabisanbaus zu einer empfindlichen Geldstrafe verurteilt, die er mit Sozialstunden abarbeitet, bekommt von der Bank keinen Kredit, um den in der Zeit des Ersatzfreiheitsstrafenersatzes ausfallenden Verdienst abdecken zu können. Warum? Er ist nicht verheiratet oder verpartnert, was nicht zuletzt daran liegt, dass in dem Dörfchen Lovin keine Single-Frauen leben. Um Abhilfe zu schaffen, bringt Andy die Idee eines "Singletreffs" ins Spiel. Für einen kleinen Obolus soll jeder die Chance bekommen, zu den zarten Klängen von Bryan Adams und Meat Loaf die Dame seines Herzens kennenzulernen.

Die Rettung kommt vom Finanzamt

Damit hat Andy in ein Wespennest von Junggesellen gestochen: Auf einmal sehen alle ihre Chance gekommen – trotz mageren Haupthaars die Frau fürs Leben zu finden, mit lackierten Nägeln die Glorie früherer Eroberungen politisch korrekt wiederaufleben zu lassen, den mit 24 Jahren schändlicherweise noch immer virginalen Sohn zu verkuppeln, die Ortskasse zu sanieren.

Doch ist der Singletreff ein Reinfall: Nur eine einzige Frau kommt zu Besuch, und das auch noch aus beruflichen Gründen. Die vampirische Finanzbeamtin Nadescha "Nadja" Keller will nämlich Andy wegen Steuerschulden pfänden (warum sie dafür um 17 Uhr an einem Samstag in den Singletreff stolpert, wird ihr Geheimnis bleiben), die dieser mit den Einnahmen aus der Veranstaltung zu begleichen plante.

Am Ende hat Nadescha (herausragend und mit beeindruckendem Stimmumfang gespielt von Annalena Haering) ein Einsehen, lässt ihre Kontakte spielen und sorgt für einen wahren Ansturm auf den Singletreff. Alle sind glücklich, Andys Schulden bei der Staatskasse abgegolten, und Paule, die bisher einzige Frau des Ortes, erkennt, dass sie sich von ihrem Mann Wolf (herrlich herrisch-selbstverliebt: Günther Harder) trennen kann.

Arme Würstchen-Parade

Die Dorfbewohner sind ein bunter Haufen, der so bunt gar nicht ist: Da gibt es den dialektal nuschelnden, etwas zu deutschen Gerhard (mit Verve gespielt von Hagen Oechel), die von allen angestammten Lovinern verachteten Zugezogenen, die Familie Bunk – Vater und Sohn tätig in der JVA, Ehefrau Berufskraftfahrerin, Bruder macht irgendwas mit Landschaft –, den Kioskbetreiber Plischi, der mit manchen Wörtern kämpfen muss, insbesondere, wenn sie mehr als zwei Silben haben, den sehr um "woken" Sprachgebrauch bemühten Robert alias Robbe. Sie alle haben gemeinsam, dass das Dorf ihnen nicht das bietet, was sie sich vom Leben erhofft haben, und dass die ihnen zur Verfügung stehende Sprache nicht ganz ausreicht, um ihre Situation zu reflektieren.

Leider wird, wo das Federmesser gereicht hätte, häufiger das Buttermesser zur Sektion angesetzt: Da beschwert Plischi sich darüber, dass Andy wegen seines Status als Single diskriminiert (eines der schwierigen Wörter) würde und dass die Statistik (ein anderes der schwierigen Wörter) die Realität eben nicht abbilde. Aber warum auch gesellschaftlich gemeinhin als privilegiert betrachtete Menschen (weiß, männlich, heterosexuell) sich in bestimmten Situationen benachteiligt fühlen können und eventuell sogar dürfen, kommt durch den dichten Teppich ländlich verunstalteter Sprache und der Belustigung über sie leider nicht hindurch.

Musik und Vampirismus

Dabei haben die Dialoge mitunter eine gewisse Komik, die manchmal an den Serienklassiker Stromberg denken lässt: "Ich bin 100 % Romantiker, Arschloch!" zum Beispiel, oder die Erklärung, Andy sei "eine alleinstehende Nudel mit Kötbullar", eine vorher auf einen ganz bestimmten Teil seiner Anatomie angewandte Metapher.

Mag der Text vielleicht an manchen Stellen schwächeln, so glänzt das Ensemble mit einer durch die Bank sehr starken Leistung. Jonathan Stolze spielt den lange Zeit nur als Imitator seines Vaters agierenden Mario Bunk auch in anspruchsvollen Szenen wunderbar, Clemens Dönicke gibt dem Kioskbesitzer Plischi als Meat-Loaf-Fan eine starke Stimme, und Johann Jürgens als durch das Stück führender Lars Bunk zeigt einen freundlich-naiven Mann mittleren Alters, der seine verletzlichen Seiten kaum verbirgt.

Die Spielfreude ist der auch als Band auftretenden Truppe anzumerken, und sie überträgt sich auf das Publikum: Ein sympathisches Medley aus Klassikern wie Cutting Crews "I just died in your arms tonight" und Celine Dions "My Heart Will Go On" (Flöten-Intro inklusive) macht wahrscheinlich jedem der Anwesenden Spaß, und die Klimax des Stückes, untermalt von Nebel und Peter Schillings Major Tom, ist im besten Sinne enthemmt. Da wird gerannt, gesungen, getanzt und gespielt, am Ende wird ein wenig Blut gesaugt – und das Publikum ist begeistert.

 

Singletreff
von Dirk Laucke
Regie: Lars-Ole Walburg, Bühne: Andreas A. Strasser, Kostüme: Maria Walter, Musik: Martin Engelbach, Dramaturgie: Katja Prussas.
Mit: Marius Bistritzky, Johann Jürgens, Clemens Dönicke, Günther Harder, Nora Quest, Jonathan Stolze, Felix Thewanger, Annalena Haering, Hagen Oechel.
Uraufführung am 2. Dezember 2023
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-kassel.de

 Kritikenrundschau

"Um das Stück in der Inszenierung von Lars-Ole Walburg wirkungsvoll über die Rampe zu bekommen, braucht es vor allem eins: Platz", findet Johannes Mundry in der Hessisch Niedersächsischen Allgemeinen (4.12.2023). "Und die bekommt das sehr homogene, trubelige Ensemble, das sich nach Herzenslust austoben kann, reichlich. Bühnenbildner Andreas A. Strasser belässt es bei Theke, Sofa, Holzstapel und hässlichem Teppich. Maria Walter hat die passgenauen Kostüme geschaffen." Der Abend seine auch eine "Revue mit Lieblingsliedern", so der Kritiker, der der Inszenierung bescheinigt, "zu einem Renner am Staatstheater" werden zu können.

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