Gefangen im Heldencode

8. Juli 2023. Und sogar Bodybuilding-Ikone Ralf Moeller ist dabei! Pınar Karabulut bürstet mit einer Dichtung von Maria Milisavljević den Nibelungenmythos gegen den Strich. Nach dem Prinzip: Zu viel des Guten ist wundervoll!

Von Steffen Becker

"Brynhild" von Maria Milisavljević bei den Nibelungenfestspielen Worm © David Baltzer

8. Juli 2023. "Es ist doch naiv zu glauben, dass ein Mann nur an einer bestimmten Stelle verwundbar ist." Siegfried (nordisch: Sigurd) hat in diesem Jahr schlechte Karten in Worms. So als Kerl. Im Titel von Maria Milisavljevićs Stück steht "Brynhild". Pınar Karabulut führt Regie und rückt im Programmheft die Verhältnisse zurecht: "Siegfried muss erst im Blut baden, um überhaupt eine Kraft zu erlangen, Brynhild hat als Walküre diese Stärke von Natur aus." Aber sie will sie nicht einsetzen.

Wie bei "Minecraft"

Autorin und Regisseurin wählen als Fokus die Frage, ob die Figuren der Nibelungensaga ihrem Schicksal entkommen können. Betrachtet man das Bühnenbild, fällt die Antwort eindeutig aus. Das Domportal wird von einer übergroßen Leinwand verdeckt, auf die zu Beginn Computerbefehle projiziert werden. Die restlichen Flächen sind zum Großteil mit bunten Stoffen belegt und behängt, als hätte jemand versucht, die Sage in den Bauklötze-Look des Kultgames Minecraft nachzubauen.

Die Optik eines Computer-Fantasy-Space-Rollenspiels macht Sinn: Als Anwender kann man den Code zwar crashen, aber nicht überschreiben. Wer sich dem Spielprinzip verweigert, riskiert den Absturz oder bleibt stecken: Weil das Programm auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet ist.

Lena Urzendowsky als Brynhild versucht es dennoch. Als güldene Kriegerin will sie ausbrechen aus dem Prinzip des Siegens und Besiegtwerdens. Autorin Milisavljević sucht dazu die Lücke im Code.

Leiden an der Heldenrolle

Tatsächlich gibt es in der nordischen Edda-Version der Sage eine nicht überlieferte Leerstelle. "Brynhild" füllt sie damit, dass sich die Namensgeberin des Stücks und Sigurd berühren – im Wunsch, jemand anders zu sein, als sie sein sollen. Sie verweigern sich dem Kampf, der sonst dazu führen würde, dass "Brynhild" besiegt und an ihren Platz als dienende Frau verwiesen wird und Sigurd zum Vergewaltiger mutiert.

Brynhild4 805 David Baltzer uMichela Flücks Nibelungen-Szenerie © David Baltzer

Urzendowsky verkörpert das mit dem Trotz einer Stürmerin und Dränglerin. Da das Stück davon ausgeht, dass die Stimmen der Frauen in der Erzählung der Saga bisher unterdrückt waren, muss die von "Brynhild" besonders laut sein.

Bekim Latifi gelingt als Sigurd ein subtileres Bild. Vordergründig ein Hänfling, verkörpert er bei genauem Hinsehen das Leiden auch des Mannes am Patriarchat (an dieser Stelle lohnt sich auch das nahezu durchgehend praktizierte Projizieren von Nahaufnahmen auf die Leinwand). Mit Schmerzensmiene lässt er sich in den ersten Mord treiben, badet in Form eines lasziven Deo-Werbeclips in Drachenblut und fällt am Ende – natürlich, gezwungenermaßen – zurück in die verhasste, aber immerhin vertraute Rolle des tötenden "Helden".

Wildes Potpourri

Diese Geschlechter-Auseinandersetzung über Kreuz, hin zu einer Vereinigung, verspricht viel. Die Inszenierung verschüttet das Potential aber unter dem Liberace-Prinzip: Zu viel des Guten ist wundervoll.

Der Cast ist sehr divers und wird auch als solcher beworben. Intendant Nico Hofmann versichert zwar, die Besetzung sei nicht entstanden, weil es gerade modern sei, vielfältig zu sein. Aber leider wirkt es genau so. Brynhilds Göttereltern Odin und Frigga sind mit einem Schwarzen Mann und einer transidenten Performance-Künstlerin besetzt. Und so lustvoll und engagiert sich Bless Amada und Parisa Madani auch an die Sache machen – Text und Inszenierung lassen keinen Raum für die Reibung, dass sie als Vertreter und Vertreterin von Marginalisierten Figuren darstellen, die für den unbedingten Erhalt der Norm eintreten.

Brynhild2 805 David Baltzer uPop regiert die Nibelungenwelt: das Ensemble auf Bühnne und Leinwand in Worms © David Baltzer

Mehr Chancen hätte Ruby Commey als Hagen. Warum der kluge Stratege nicht selbst zur Macht greift, macht in der Besetzung einer Schwarzen Frau auf einmal Sinn. Wer nicht der Norm entspricht, ist zum Dasein maximal in der zweiten Reihe verdammt. An der Spitze braucht jemand wie Hagen einen zwar schwachen, aber allseits als rechtmäßig anerkannten König.

Problem der Inszenierung: Sie macht diesen Gegensatz nicht auf. Simon Kirsch als Gunnar ist in "Brynhild" weder schwach noch konventionell, sondern eine Art an Harry Potter angelehnter exaltierter Todesser. So verpasst "Brynhild" die Chance, Diversity nicht nur darzustellen, sondern auch in einer nachvollziehbaren Form zum Treiber der Handlung zu machen.

Stattdessen gibt es ein wildes Potpourri, dem der rote Faden fehlt (und auf der Bühne ein rotes Schnellrestaurant im Container, in den sich die Schauspieler*innen vor der übermächtigen Kulisse des Doms flüchten, um schräge Dinge in die Kamera zu performen). Hinten raus ballt es sich dann mit den noch einzuführenden Themen: Dreier-Beziehung, lesbische Küsse im Wasserbecken, Bodybuilder Ralf Möller als Video-Special-Guest und eine recht plakative Auflösung der Ausgangsfrage nach der Macht über das eigene Schicksal.

 

Brynhild
von Maria Milisavljević
Regie: Pınar Karabulut, Bühne: Michela Flück, Kostüme: Teresa Vergho, Film und Video: Susanne Steinmassl, Musik: Daniel Murena, Dramaturgie: Thomas Laue.
Mit: Lena Urzendowsky, Bekim Latifi, Bless Amada, Parisa Madani, Şafak Şengül, Alexander Angeletta, Laina Schwarz, Simon Kirsch, Ruby Commey, Jens Albinus. "Special Guest": Ralf Moeller.
Premiere am 7. Juli 2023
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.nibelungenfestspiele.de

Kritikenrundschau

Die Inszenierung stelle alles infrage, was in den vergangenen Jahren in Worms gezeigt wurde, findet Christian Mayer in der WELT (online 9. Juli 2023). "Kalkulierte Konfrontation" sah man hier, so der Autor. "Es fühlt sich an wie ein Abend, an dem man auf YouTube falsch abgebogen ist, und sich von Video zu Video hangelt und plötzlich feststellt, dass es schon Mitternacht ist." Am Ende sind es dem Rezensenten "vielleicht ein paar Andeutungen zu viel, das Spiel mit der Popkultur wird dann doch zu random". Auf der Bühne "schillern", so Mayer: Lena Urzendowsky als Brynhild und Bekim Latifi als Sigurd. Man könne, anstatt wie einige Kommentator:innen über die Inszenierung auf Social Media zu meckern, auch "irgendwie dankbar sein, mal was anderes gesehen zu haben, neue Impulse zu bekommen, einen enorm kurzweiligen, sehr fließenden Abend", resümiert der Autor.

"Hier steht alles zur Disposition, heraus kommt da ein bunt-schriller Bilderreigen, der sich wie eine lange TikTok-Session anfühlt und aus der man ziemlich überreizt und verkatert raus kommt", berichtet Maja Hattesen auf SWR Kultur (online 8. Juli 2023). "Die Brynhild wäre eigentlich eine Paraderolle für eine reife Schauspielerin. Doch Pınar Karabulut "verheizt die erst 23-jährige, bühnenunerfahrene Lena Urzendowsky für ihre It-Girl-Parodie", findet die Kritikerin. Alles rausche in dieser Iszenieurung so schnell vorbei wie in einem Computerspiel. Die Kostüme seien "so schauwertig wie bei einer lustigen, queeren Cosplay- oder Faschingsparty".

Pınar Karabulut interessiere sich wenig für das Subtile – generell und auch an diesem Abend, findet Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (€, online 9. Juli 2023). Der Regisseurin gelinge "das Kunststück, aus einem in den Mitteln überbordenden Abend ein Manifest der Langeweile zu formen, mit dem der Sturz des Patriachats wohl kaum gelingen wird", meint der Rezensent. Insgesamt schaue man man "recht fassungslos der stümperhaften Vernichtung eines Anliegens zu, dessen Berechtigung außer Frage steht".

"Es geht unheimlich ab. Es ist grell, laut, lang und fordernd. Dahinter aber, na so was, zeigt sich gar nichts. Das liegt nicht so sehr am Text", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (10.7.2023) und gibt der Regie eins mit: Weder scheine sich Karabulut dafür zu interessieren, was die Figuren "für Leute sind" noch schlage sie Funken aus der vielfältig angebotenen Diversität. "Diversität ist hier wie eine Benetton-Werbung. Ansehnlich, und tut auch so, als hätte es etwas zu bedeuten."

"Der Abend wird in fast jeder Minute mit Musik geradezu zugekleistert. Dieses Zuviel des Guten scheint symptomatisch für die katastrophale Gesamtkonzeption oder Nichtkonzeption zu sein. Wir werden regelrecht geflutet mit allerlei Referenzen und überhaupt bunten – Hauptsache, schrägen – Bildern. Nur was sollen all die losen Versatzstücke?" fragt Björn Hayer in der taz (10.7.2023). "Was sich hier als neuer Ansatz geriert, erweist sich als gigantisch aufgebauschter Trash." Weder spüre man in "Brynhild" etwas von der Kraft einer stringenten Komposition noch einer inneren Auseinandersetzung mit den großen erschütternden Gefühlen und Zwangs­lagen der ­Legende. "Statt aus ihr organisch eine Idee herauszuarbeiten, trat man hier in die missliche Falle, dem Stoff auf Teufel komm raus zeitgenössische Diskurse aufzuoktroyieren."

Kommentare  
Brynhild, Worms: Ein schrecklicher Abend
Die Musik erschlägt einem - vor der wunderschönen Kulisse des Doms ein paar lila Stufen - alle schreien ununterbrochen - kein roter Faden - beliebige Szenen, die einen Zusammenhang vermissen lassen - viel Geld für so einen Schrott!
Ich werde mir reiflichst überlegen ob ich nächstes Jahr nach Worms fahre.
So kann man sein Publikum vergraulen.
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