Kein Kinderspiel

30. April 2023. Von Kindern, jungen und erwachsenen, erzählt die britische Erfolgsdramatikerin Alice Birch. Kinder, die nichts haben, außer sich selbst. Die Opfer sind und zu Tätern werden. Ein hartes Stück, auf das Regisseurin Nora Schlocker mit einer radikalen Formgebung reagiert: eine Maskerade auf knarzendem Boden.

Von Sarah Heppekausen

"[BLANK]" von Alice Birch in der Regie von Nora Schlocker am Schauspielhaus Bochum © JU Bochum

30. April 2023. Da erzählt ein Kind, dass es gerade den Sinn des Lebens kapiert hat, nur um gleich im Anschluss festzustellen, dass es schon gestorben ist. Jetzt, im Moment des Todes, weiß es: "Wir sind aus einem guten Grund auf der Welt." Welch Zynismus des Daseins! Ums Leben beschissen sind all diese Kinder in Alice Birchs Stück [BLANK]. Die britische Autorin hat 100 Gesprächsszenen verfasst, brutal in ihrer vermeintlichen Beiläufigkeit und formal völlig frei zusammensetzbar. Jedes Theater entscheidet selbst, welche Szenen in welcher Reihenfolge gespielt werden. Birch macht auch keine genauen Vorgaben für die Figuren – die Zahl der Sprechenden, ihr Geschlecht, ihr Alter, ihre Namen – alles bleibt offen. Sie differenziert allenfalls zwischen Kindern und Erwachsenen. 

In aller Uneindeutigkeit

In den Bochumer Kammerspielen startet Nora Schlocker mit der oben erwähnten Szene "Tot". Dabei ist es im Theaterraum stockdunkel, minutenlang. Die Richtung ist klar, eine Geschichte mit einer Lösung zum Finale wird hier nicht erzählt. Schlocker bringt das Stück in seiner Uneindeutigkeit auf die Bühne.

Erzählt wird von Kindern, die seit Tagen (oder Wochen?) auf ihre Mutter warten, kein Essen mehr im Haus haben. Von dem Kind, das abhauen will, weil es "nichts hat, zu dem ich zurückkommen kann". Von den Kindern, die ein Baby entführen – und töten. Vom drogensüchtigen Sohn, der – körperlich gepeinigt von Entzugssymptomen – Geld von seiner Mutter einfordert, damit er nicht auf den Strich gehen muss für den nächsten Schuss. Von den Geschwistern, die vergeblich versuchen, ihre Mutter aus dem Alkoholdelirium zu wecken, damit sie zur Arbeit gehen kann, zu ihren Hausbesuchen, da wartet ein Kleinkind mit gebrochenem Arm und Verbrennungen auf der Kopfhaut. Damit sie ihren Job nicht verliert, denn "dann gibt es kein Geld. Und wir sind im Arsch".

Sehnsuchtsvoll, hoffnungsarm

Alice Birch schreibt ihre Szenen geradeheraus aus den Köpfen der betroffenen Kinder (oder auch der erwachsenen Kinder). Sie ordnet nicht ein, sie psychologisiert nicht, sie spricht kein Urteil. Die Sätze knallen einem um die Ohren und es braucht manchmal eine Weile, bis das gewaltige Ausmaß ihrer Bedeutung erfasst ist. Aber dafür ist auch eigentlich gar keine Zeit. Denn diese Sätze sind sprunghafte Gedankensplitter, Gefühlsausschüttung, sehnsuchtsvoll, aber hoffnungsarm.

BLANK c JU Bochum 1 Knarzende Schritte: Ensemble in der Bühne von Marie Roth © JU Bochum

Nora Schlocker gibt ihnen kein Gesicht. Die Schauspieler*innen (und sogar auch die Zuschauenden) tragen Masken. Verallgemeinerung statt Zuschreibung. Ihre Kleidung und ihre Masken tauschen sie wie ihre Rollen. Kostümbildnerin Marie Caroline Rössle hat ihnen dafür praktische Klamotten verpasst, Daunenjacke, Wollpulli, Jogginghose. Weniger bequem sind vermutlich einige der allesamt weißen Schuhe, auf hohen Absätzen wanken die Kinder damit durch ihr Leben voller Erfahrungen von Gewalt, Vernachlässigung, Drogen, Missbrauch.

Die Bühne stellt ihre Protagonisten aus. Drei karge, verbundene Wandseiten hängen knapp über dem Boden (Bühne Marie Roth). Wenn sie schwingen, knackt es. Überhaupt ist der Sound des Abends mehr drohende Geräuschkulisse aus allen Ecken. Die Darsteller*innen arbeiten gegen ihre formale Gleichschaltung durch die Masken an. Sie fummeln nervös an ihrer Kleidung, reiben sich die Hände, berühren sich unbeholfen, als sei das eine Fehlschaltung. Sie lassen ihre Stimme wegbrechen oder auch ihren Körper.

"Wir müssen was dagegen machen"

Dann hängen sie kopfüber vom Bühnenrand oder sinken erschöpft zu Boden. Es sind fantastische Schauspieler*innen, und doch bleibt so viel hängen hinter diesen Masken und auf dieser starren Bühne, die beide das Grundsätzliche unserer Gesellschaft ausstellen wollen, aber damit auch die Künstlichkeit verstärken. (Theater)Kunst-Betrachtung bleibt übrig, präzise erarbeitet, aber distanziert.

Zum Schluss der Inszenierung – Nora Schlocker konzentriert sich auf Birchs erste Szenen für Kinder – lässt sie die Szene sogar mittendrin abbrechen. Zwei Kinder unterhalten sich, das eine schläft mit seinem Kopf im Essen, kann sich kaum mehr aufrichten (Schauspieler Risto Kübar sackt immer wieder zusammen, seine Beine versagen), sie kämpfen um ihre Würde. "Wir müssen was dagegen machen", sagt das eine Kind. "Man kann nichts machen", das andere. "He. Bleib wach." Dass sie über Missbrauch sprechen, bleibt hier ungesagt. Noch einmal verstärkt Schlocker das Flirren in der Uneindeutigkeit. Damit wirken die Sätze wie ein Appell, an uns und an die Kinder. Die anderen Schauspieler*innen haben mittlerweile die Masken abgezogen. Und kurz scheint auf, wie viel dieser Abend verschenkt hat, an die Form.

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von Alice Birch, aus dem Englischen von Corinna Brocher
Regie: Nora Schlocker, Bühne: Marie Roth, Kostüm: Marie Caroline Rössle, Komposition: Albrecht Zieper, Lichtdesign: Sirko Lamprecht, Dramaturgie: Susanne Winnacker.
Mit: Friederike Becht, Konstantin Bühler, Victor IJdens, Risto Kübar, Anne Kulbatzki, Veronika Nickl, Ulvi Teke, Romy Vreden.
Premiere am 29. April 2023
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

Alice Birchs "Blank" sei "kein homogenes Stück", beschreibt Wolfgang Platzeck den Abend in der Westfälischen Rundschau (1.5.23, €). Vielmehr stelle die britische Autorin "100 kleine, zum Teil in Strafanstalten recherchierte Gesprächsszenen zur freien Verfügung", es gäbe "keine Rollenzuweisungen" und keine festgelegte Reihenfolge, zudem stelle Birch "keine Zusammenhänge" und bewerte nicht. Es sei "eine 100-minütige Zumutung, die man aushalten sollte, obwohl oder weil am Ende, das keines ist, kaum mehr bleibt als Verstörung und Ratlosigkeit", konstatiert der Kritiker.

Auch an das Publikum sind Masken vertielt worden. "80 Prozent setzen sie tatsächlich auf, eines der stärkeren Bilder der Inszenierung", so Tom Thelen in den Ruhr Nachrichten (2.5.2023). Gespielt werde auf einer beigen, kargen Kastenbühne mit drei Wänden, variierenden Lichtstimmungen und mit einem räumlich schwer zu verorten-
den Sounddesign. "Das ist bedrohlich und wenig heimelig." Fluide wechseln die Identitäten, verwandeln sich die Spieler in Junkies, Internatsinsassen, Amoklaufende, Hungernde. "Harter Stoff, schnell geschnitten. Oft braucht es Zeit, um die fürchterlichen Ausmaße des Gesagten zu verstehen." 

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