Ein Volksfeind - Roger Vontobel zeigt Henrik Ibsens Demokratielehrstück am Schauspiel Köln
Das Wohl der Allgemeinheit verkaufen
von Ulrike Gondorf
Köln, 20. Mai 2016. "Ein Volksfeind"? Oder heißt das Stück diesmal "Ein Volksfest?" Wenn das Publikum in den Zuschauerraum kommt, machen die Schauspieler schon Party. Sie schütteln Hände am Eingang, verteilen gegrillte Würstchen, winken johlend in den Saal und offerieren Bier. "Wir bringen Ihnen das dann gern". Die Band spielt, ein paar bunte Glühbirnchen zaubern eine ziemlich klägliche "Italienische Nacht". Die Schauspieler zerren Leute, die unvorsichtigerweise vorne sitzen, zu einem Tänzchen auf die Bühne. Regisseur Roger Vontobel schwingt den Holzhammer zu Beginn seiner Inszenierung von Ibsens "Volksfeind", damit auch jeder sieht, wie verlogen, falsch und selbstzufrieden diese Gesellschaft ist. Aber wenn das Fremdschämen erst mal überstanden ist, fängt eine ziemlich spannende Geschichte an.
Exemplarische Konfrontationen
Die kleine Stadt ist gerade so richtig im Aufschwung, das neu eröffnete Kurbad ist eine wahre Goldgrube. Da lässt der Badearzt Dr. Stockmann die Bombe platzen: durch eine Fabrik ist das Wasser verseucht, keineswegs heilsam, sondern gesundheitsschädlich. Und nun kommt ein Prozess ins Rollen, an dem Ibsen mit schonungsloser Genauigkeit aufdeckt, wie Egoismus und Profitgier jeden einzelnen lenken, wie billig die großen Worte zu haben sind, um sie den kleinlichsten Erwägungen umzuhängen. Und wie die "öffentliche Meinung", die "Mehrheit", schwankt wie das Rohr im Wind.
Roger Vontobel und sein Dramaturg Thomas Laue haben die Auseinandersetzungen gestrafft und zugespitzt, auch das Personal des figurenreichen Stücks ausgedünnt. Das schafft Raum für große, exemplarische Konfrontationen und die werden spannend ausgespielt: der ehrgeizige Journalist will den Skandal anzetteln, um Politik zu machen. Der Kapitalist versucht, seine Klientel ungeschoren über diese Krise zu bringen. Der Spekulant schlägt Profit daraus, weil die Aktienpreise fallen. Der machtversessene Bürgermeister hat nur eine Strategie: sein Interesse als das Wohl der Allgemeinheit zu verkaufen. Nur eines kümmert niemanden: die Gefahr, die von dem verseuchten Wasser ausgeht. Robert Dölle, Ratjen und Bruno Cathomas als Honoratioren argumentieren messerscharf und liefern sich Gefechte voller Finten und überraschender Wendungen.
Und Dr. Stockmann, der aufrechte Streiter für die Wahrheit? Vor dem sollte man sich auch in Acht nehmen. Das ist der interessanteste Zug dieser Inszenierung von Roger Vontobel, dass sie dem Mann, der immerfort das ärztliche Ethos ins Feld führt, die Aufrichtigkeit und den Heldenmut des Kämpfers, der für seine Sache einsteht, ganz und gar nicht traut. Dieser Stockmann ist eitel, geltungssüchtig, selbstherrlich von vornherein, und genau wie allen anderen geht es auch ihm nicht zuerst darum, das Allgemeinwohl zu schützen. Der Profit, den er machen will, ist nur nicht materieller, sondern ideeller Natur, aber das macht ihn nicht sympathischer. Paul Herwig, in dieser Rolle Gast am Kölner Schauspiel, zeigt einen Mann, der viel zu kompensieren hat: immer ein wenig zu beflissen, zu positiv, zu prinzipienfest.
Stimmeninitator, Demagoge, Psychopath
Höhepunkt des Abends ist Stockmanns Auseinandersetzung mit seinen Bruder, dem Bürgermeister. Der ist eigentlich leicht zu durchschauen als Opportunist und Karrierist. Aber Paul Herwig und Bruno Cathomas gelingt es hier, Gut und Böse, Recht und Unrecht verschwimmen zu lassen. Hinter den Rollen, die sie voreinander spielen, bringen sie für Momente die Ähnlichkeit und die Rivalität der Brüder zum Vorschein, die einander nur allzu gut verstehen. Da beweist Vontobel psychologischen Scharfblick und seine beiden Hauptdarsteller bringen die Analyse präzise auf den Punkt.
Wenn aber das Stück dann auf den Höhepunkt zutreibt, mit einer großen öffentlichen Rede von Dr. Stockmann, dann gewinnt in Köln auf der Bühne wieder der Aktionismus und der theatralische Lärm die Oberhand. Paul Herwig darf daraus ein Solo machen, in dem er als Stimmenimitator, Demagoge und Psychopath seine riesengroße Spielenergie über jede Glaubwürdigkeit hinaus treibt. Und da er unglücklicherweise auch noch Schlagzeug spielen kann, macht er das dann noch bis zur Erschöpfung seiner selbst und der Zuschauer. Und dann theatert und outriert man sich noch irgendwie weiter bis zum Ende und landet auf dem Niveau des knalligen Anfangs. Die guten Fragen, die in der Mitte gestellt werden, sollte man aber darüber nicht vergessen.
Ein Volksfeind
von Henrik Ibsen
Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel
Regie: Roger Vontobel, Bühne: Claudia Rohner, Kostüme: Tina Kloempken, Musik: Keith O’Brien; Licht: Hartmut Litzinger, Dramaturgie: Thomas Laue.
Mit: Paul Herwig, Katharina Schmalenberg, Bruno Cathomas, Robert Dölle, Thomas Brandt, Jörg Ratjen, Paul Faßnacht
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause
www.schauspielkoeln.de
Mehr zum Volksfeind: In jüngster Zeit gabs eine Reihe von "Volksfeind"-Inszenierungen, welche die Wutrede in den Mittelpunkt stellen. Stefan Pucher inszenierte das Stück im September 2015 in Zürich und war damit zum Theatertreffen 2016 eingeladen, Sewan Latchinian zeigte es im November 2015 in Rostock, Jorinde Dröse machte aus dem Badearzt am Maxim Gorki Theater eine Badeärztin, Thomas Ostermeier inszenierte Ibsens Demokratiebefragung im September 2012 an der Schaubühne Berlin. Auch Lukas Langhoffs Bonner Inszenierung wurde 2012 zum Theatertreffen eingeladen.
Allein wie Paul Herwig Beflissenheit in Demagogie kippen lasse, wie Bruno Cathomas geifere, drohe und doch im Schatten seines jüngeren Bruders stehe, rechtfertigt für Christian Bos vom Kölner Stadtanzeiger (23.5.2016) den Besuch. Vor allem jedoch habe Roger Vontobel hier in vorbildlicher Klarheit gezeigt, "was das überhaupt bedeutet, Stadttheater". Für den Kritiker ist das 130 Jahre alte Drama "das Stück der Stunde": Das Spiel werde "zum Townhall Meeting, in dem Populisten und Pragmatiker, Prinzipienreiter und Wendehälse um die Gunst des Publikums buhlen".
Was Vontobel interessiert, ist aus Sicht von Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (23.5.2016) "der Kampf zweier Alphatiere. Dazu hat Claudia Rohner das Kölner Depot 1 in eine Raumbühne verwandelt, in eine Arena, in der die feindlichen Brüder einander umkreisen wie zwei Raubkatzen, die nicht vom Hass, sondern von blankem Beißtrieb gesteuert sind. Nur dass der eine (Herwig) wirklich außer sich ist, während den anderen (Cathomas) scheinbar nichts aus der Ruhe bringt."Für Nebenfiguren ist in diesem Konzept aus Krumbolz' Sicht kaum Platz. "Ob Ehefrau oder Chefredakteur, Verleger oder zweiter Redakteur, sie bleiben Staffage; es fällt schwer, in ihnen Zeitgenossen zu erkennen."
"Die Kölner Inszenierung zielt mehr auf Amüsement als auf Analyse", schreibt Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (23.5.2016). Die gesellschaftlichen Vorgänge interessieren Roger Vontobel seinem Eindruck zufolge "weniger als der Showdown des Bruderkampfes: Der so leicht und locker beginnende Paul Herwig steigert Thomas Stockmann eitel, hochmütig, nervös und verächtlich in einen Furor der Selbstgerechtigkeit, der ihn nach einem langen Trommelsolo gebrochen zurücklässt; Bruno Cathomas gibt Peter Stockmann, gesetzt und im stahlblauen dreiteiligen Anzug, als machtbewussten Politiker, den sein Gegenüber zunehmend aus der Fasson bringt. Keine Zweifel, keine Anteile des jeweils anderen irritieren ihre Positionen, der Verlauf der Auseinandersetzung erscheint früh absehbar, der Ausgang entschieden."
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