Das auseinandergeflogene Weltbild

21. April 2023. Sie ist so etwas wie die Helene Fischer Ex-Jugoslawiens: Schon in den 1980er Jahren brachte Lepa Brena Zehntausende zum Mitsingen, bis heute verbindet sie die Teile und Welten ihrer ex-jugoslawischen Heimat. Zum Auftakt des Festivals "New Stages South East" widmet sich ein serbisches Gastspiel dem Popstar.

Von Max Florian Kühlem

"Das Lepa Brena Projekt" des serbischen Regie-Duos Vladimir Aleksić und Olga Dimitrijević am Theater Oberhausen © Tihomir Vorkapic

21. April 2023. Wenn man das personifizierte Deutschland auf eine Theaterbühne stellen wollte, müsste natürlich Angela Merkel im Mittelpunkt stehen. Oder – sollte es ein Popstar sein – Herbert Grönemeyer. Für Jugoslawien, das Land, das nicht mehr existiert, gibt es offenbar auch so einen Stellvertreter-Star: Es ist die 1960 geborene Folk- und Popsängerin Lepa Brena, um deren Phänomen das serbische Regie-Duo Vladimir Aleksić und Olga Dimitrijević den zeitgeschichtsträchtigen Theaterabend "Das Lepa Brena Projekt" geknüpft hat. Im Programm des neuen Festivals "New Stages South East", das durch außergewöhnliche Umstände zustande kam, war es jetzt am Theater Oberhausen zu sehen.

Gelder für Zukunftsprojekte

Die außergewöhnlichen Umstände, die zum Festival führten, liegen in der Arbeit des Goethe-Instituts, das überall auf der Welt deutsche Kultur vermittelt. Zuletzt war es wegen radikaler Kürzungspläne der Bundesregierung im Gespräch, die seine Arbeit massiv eingeschränkt hätten. Die Gelder sollen jetzt doch im annähernd alten Umfang fließen, aber zweckgebunden, zum Beispiel für "Zukunftsprojekte". Ein solches könnte das Festival "New Stages South East" sein, das ein Ergebnis jahrelanger Arbeit unter Federführung des Goethe-Instituts Rumänien ist: Es brachte junge Autor*innen aus so unterschiedlichen Ländern wie Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Griechenland, Kroatien, Rumänien, der Republik Moldau, Serbien und Zypern dazu, neue (oder überhaupt ihre ersten) Stücke für das Theater zu schreiben.

Weil die Oberhausener Dramaturgin Laura Mangels früher am Goethe-Institut wirkte, kommen einige dieser Stücke jetzt im Festival-Format in Oberhausen zum ersten Mal zur Aufführung als Werkstattinszenierungen, einige als Lesungen. Um sie nachhaltig in der Theaterlandschaft zu verankern, finden in den Spielzeiten 2023/2024 und 2024/2025 Uraufführungen und deutschsprachige Erstaufführungen von einer Jury ausgewählter Stücke am Theater Oberhausen, Schauspiel Essen und am Nationaltheater Sibiu / Hermannstadt statt. Das Nationaltheater Mannheim zeigt eine szenische Präsentation.

Fünffacher Popstar

Damit das Festival aber nicht nur auf künftig fertige Inszenierungen verweisen kann, sondern auch mit bereits runden Abenden Publikum ziehen, hat man Gastspiele wie das eröffnende "Lepa Brena Projekt" eingeladen. Gleich fünf Schauspieler*innen spielen hier den Popstar beziehungsweise einen von ihr inspirierten Künstler. Schnell wird klar, dass Lepa Brena wahrscheinlich sogar noch besser für ihr verflossen-zerschossenes Heimatland stehen kann als Herbert Grönemeyer für Deutschland. Die westdeutsche Geschichte seit den 1980er-Jahren ließe sich entlang der künstlerischen Biographie des Bochumer Barden ganz gut erzählen, die ostdeutsche allerdings eher nicht. Lepa Brena ist hingegen eine Figur, die bis heute die Welten verbindet.

Sie ist identifikationsstiftend für alle, die irgendeinem Aspekt des Konstrukts Jugoslawien hinterher trauern, das viele Völker und Kulturen unter einem Dach zu vereinen suchte. Bis heute wird sie von Nationalisten in quasi allen postjugoslawischen Republiken angefeindet, auf ihren Konzerten wird sie hingegen von zehntausenden Menschen bejubelt. Mit solch einem Jubel beginnt auch die Inszenierung und eine der Lepa Brenas erinnert sich, wie sie bei einem spektakulären Auftritt in den 1980er-Jahren von einem Kran aus sang und 65.000 Zuschauer*innen in Rumänien in akzentfreiem Serbokroatisch ihren Hit "Živela Jugoslavija" ("Es lebe Jugoslawien") mitsangen.

Zukunftsträchtiges Festival

In der Folge führen die Darsteller*innen mit den blonden Plastik-Popstar-Perücken (vielleicht kann man sagen, dass Lepa Brena eine Art Helene Fischer Jugoslawiens ist) verschiedene Aspekte ihres Phänomens vor: Ihre Künstlerinnenwerdung, die sie rasant zum Erfolg führte. "In einem Jahr habe ich so viel verdient, dass ich zehn Autos und zehn Wohnungen kaufen konnte", sagt sie und fordert offensiv Applaus. Ihr nostalgisch-verklärtes Jugoslawienbild, das sie zum Beispiel von Wohnbauten schwärmen lässt, in denen Menschen unterschiedlichster Schichten und Herkünfte als Gleiche unter Gleichen im selben Standard leben. Wenn sie von den Kriegserfahrungen, ihrer Ausreise in die USA oder der Entführung ihres Sohnes erzählen, nehmen die Schauspieler*innen die Perücken ab. Das auseinandergeflogene Weltbild hält ihr glänzendes Blond nicht mehr zusammen.

Trotzdem kippt die Inszenierung nichts ins Tragisch-Schwere. Immer wieder wird sie aufgelockert von Lepa Brenas Hits, die der in Deutschland sozialisierte Teil des Publikums vielleicht zum ersten Mal vernimmt, die ein anderer Teil mitsingt und feiert. Am Ende gibt es Standing Ovations. Allein, dass hier so eine interessante, diverse Mischung an Menschen in einem Theaterraum zusammenkommt, zeigt, wie zukunftsträchtig dieses Festival sein könnte.

Das Lepa Brena Projekt
von Olga Dimitrijevic und Vladimir Aleksić
Gastspiel aus Belgrad
Regie: Vladimir Aleksić und Olga Dimitrijević, Autor:innen: Olga Dimitrijevićü, Vedrana Klepica, Slobodan Obradović, Maja Pelević, Tanja Šljivar, Dramaturgie: Dimitrije Kokanov, Choreographie: Igor Koruga, Bühne: Nikola Knežević, Kostüm: Senka Kljakić und Milica Kolarić, Produktionsleitung: Olivera Kecović
Mit: Jovana Belović, Aleksandra Janković, Jelena Ilić, Andjela Jovanović, Vladimir Aleksić
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.theater-oberhausen.de


Kritikenrundschau

"Keineswegs eine beflissene Eloge" sah Ralph Wilms und schreibt in der WAZ (24.4.2023): "Gleich vier groß aufspielende Schauspielerinnen – und ein Schauspieler – nähern sich stilvoll den Facetten eines Lebens, von dem man sagen müsste, wäre es ein fiktiver Dramentext: viel zu ausgedacht, total übertrieben." Die schneidig inszenierten Auftritte böten einen meist hochtourigen Galopp durch Lepa Brenas "wildbewegte Biografie". Musikalisch setze das "Lepa Brena Projekt" auf radikale Kontraste. Und biete seinem Publikum auch "eine an deutschen Stadttheatern immer rarere Qualität", so Wilms: "nämlich große Monologe, eindrucksvoll gesprochen". "Beim Schlussapplaus erheben sich immer mehr Zuschauer und danken fünf strahlenden Lepa Brenas."

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