Nicht viel übrig von Theben

28. Januar 2024. Die "Antigone" ist das antike Muster und Modell einer Widerstandserzählung. Autor und Dramaturg John von Düffel hat eine aktuelle Version geschrieben, die Nina Mattenklotz in Chemnitz inszeniert. Mit wirkungsvoller Doppelbesetzung in den Hauptrollen und der Aktualisierung einer staatstragenden Figur.

Von Jorinde Minna Markert

"Antigone" in der Regie von Nina Mattenklotz am Theater Chemnitz © Dieter Wuschanski

z28. Januar 2024. Dass die Dikta der griechischen Mythenschreiber aktuell geblieben oder "heute wieder aktueller denn je" sind, ist ja selbst schon zu einem Programmheft-Diktum geworden. Antigone mit ihrem Zuwiderhandeln gegen ein staatliches Gesetz im Sinne eines göttlichen ist die schematische Widerstandserzählung – dabei ist ihr Prinzipienkonflikt, wenn man die Prinzipien genau nimmt, schwer ins Heute zu übertragen. Was soll das sein: ein göttliches Gesetz? Gern ersetzen es Begriffe wie "Moral" und "Gewissen" – die aber ebenfalls etwas gegenwartsfremd scheinen. Es sind andere Kategorien, mit denen wir heute Handlungen begreifen, die nicht der eigenen Maxime entsprechen – klimaschädlich, strukturell diskriminierend, psychopathologisch.

Die Figur des Kreon dagegen winkt geradezu nach Vergegenwärtigung – eher mit praktischen als mit prinzipiellen Fragen befasst, wirkt er etwas behäbig und bequem, wie ein Alt-Kanzler. Zumindest pointiert John von Düffel es so in seiner Version der "Antigone", die Nina Mattenklotz im Spinnbau des Theater Chemnitz zeigt. Von Düffel führt hier mehrere antike Dramen zusammen ("König Ödipus", "Sieben gegen Theben", "Die Phönizierinnen" und "Antigone"), erzählt zielstrebig die Zuspitzung des Unglücks um Ödipus' Nachfahren und positioniert Kreon dabei zentral als ambivalenten Zweite-Reihe-Opportunisten, der in Susanne Steins Spiel noch eine nahbare, um Integrität bemühte Facette gewinnt.

Wirkungsvoll karge Bühne

Das Stück setzt nach Ödipus' Selbstblendung ein, bevor er in die Verbannung entsandt wird. An seiner statt regiert in Theben sein Sohn Eteokles (Andrea Zwicky). Als dessen politischer Berater fungiert Kreon, der so in der Wohlfühl-Rolle des "besten zweiten Mannes" bleibt. Ein Bote, der in dieser Antiken-Überschreibung besonders schön und umständlich seine stets schlechte Kunde bringen darf (Patrick Berg), informiert die beiden herrschenden Männer nun: Polyneikes, Eteokles' Zwillingsbruder, rückt mit Kriegsheeren auf die Stadt zu, da Eteokles sich nicht an die Abmachung gehalten hat, den Thron zu teilen. Der Fluch, den Ödipus (Christian Schmidt) auf sie gelegt hat, sie mögen sich gegenseitig im Kampf töten, scheint wahr zu werden.

Ineinander verkeilt: Eteokles (Andrea Zwicky) und Polyneikes (Alida Bohnen) © Dieter Wuschanski

Das Königreich, um das sie streiten, wird am Theater Chemnitz so gezeigt: viel Sand, der die Bühne bedeckt, und das riesige Gerippe eines toten, gestürzten Baums. Nicht viel übrig von Theben. Am Rand dieser wirkungsvoll kargen Bühne (Mara Zechendorff) ist der Drummer Bernd Sikora positioniert, der mit unterschiedlichem Schlagwerk treibend, bedrohlich den gesamten Soundtrack des Stücks erzeugt ("Sind das die Trommeln schon der Schlacht?").

Schicksalhaft scheinende Gewalt

Das letzte Streitgespräch zwischen Polyneikes und Eteokles, bevor es zum Kampf kommt, zeigt dann tatsächlich, wie gegenwartswirksam dieses alte Drama darin ist, die Zwangsläufigkeit einer Gewalt zu erfassen, die so tief verinnerlicht ist, dass sie schicksalhaft scheint, als hätte es nie die Möglichkeit eines Zurück gegeben.

Der Krieg kann gestoppt werden, der Brüderstreit aber nicht. Eteokles und Polyneikes kämpfen zu zweit weiter bis sie, wie prophezeit, tot im Sand vor Thebens sieben Toren liegen. Kreon, der auf den Posten des Königs nachrückt – plötzlich erste Reihe – erklärt Polyneikes zum Staatsfeind und Königsmörder, der nicht bestattet werden und somit keine Ruhe im Hades finden darf. Wer sich dem widersetzt, stirbt – the rest is history (Antigone tut's, alle sterben). Im Versuch, was noch übrig ist, zu bewahren, bewirkt Kreon die finale Zerstörung. Dieses immer wiederkehrende antike Motiv vom Versuch, die Zukunft zu verändern und damit genau diese Zukunft einzuleiten, ist nach wie vor faszinierend: Die Zukunft lässt sich nicht ändern, nur die Gegenwart.

Zu naheliegend für den archaischen Text

Die Schauspielerinnen Andrea Zwicky und Alida Bohnen spielen als Doppelbesetzungen sowohl die verfeindeten Söhne als auch die so unterschiedlichen Töchter des Ödipus: Antigone und Ismene. Sie spielen sie mit viel Körper und Stimme. Zwicky gibt Eteokles und Ismene eine eigenwillige, gequälte bis manische Körperlichkeit. Alida Bohnen lässt Antigone mit den Ereignissen immer ringender und sich im eigenen Leib windender werden. Neben dem zurückhaltenden Spiel von Susanne Stein als Kreon sowie einem bezaubernden kleinen Chor der Toten, der ab und zu in gelben Röckchen und schüchternen Haltungen über die Bühne tippelt und sich fragt, wann und wie das hier eigentlich alles angefangen hat, wirkt diese Spielweise etwas zu groß, zu angestrengt und auch etwas zu naheliegend für den großen, archaischen Text.

Königliche Körper: Andrea Zwickys Eteokles, hinten: Susanne Stein als Kreon © Dieter Wuschanski

Die Inszenierung ist diesem Text sehr verpflichtet und entscheidet sich nahezu immer für die Unterstreichung statt für den Bruch. Es wird nicht ganz herausgearbeitet, welcher Aspekt tongebend sein will – eine psychologische und moderne Verortung der Figur des Kreon? Der Zerstörungsimperativ, die großen Gesten des Textes?

Die letzte Szene zeigt, leider so spät, wie gut die leisen, zurückgenommenen Momente dem Stück tun. Dort sitzt der Chor der Toten einträchtig am Bühnenrand. Er ist gewachsen – alle bis auf Kreon sind nun Teil. Gemeinsam sprechen sie den Schlussmonolog, "die Rebellion der Toten gegen eure Lügen". Der erste friedliche Moment.

 

Antigone
nach Sophokles, Euripides und Aischylos
In einer Bühnenfassung von John von Düffel
Regie: Nina Mattenklotz, Bühne und Kostüme: Mara Zechendorff, Musik: Bernd Sikora, Dramaturgie: Kathrin Brune.
Mit: Susanne Stein, Christian Schmidt, Alida Bohnen, Andrea Zwicky, Patrick Berg, Anna Huberta Präg, Cornelia Mercedes Dexl, Konstantin Weber, Patrick Wudtke.
Premiere am 27. Januar 2024
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.theater-chemnitz.de

 
Kritikenrundschau

"Leider handelt es sich um eine Mogelpackung. Wo Antigone titelgebend draufsteht, ist erst in der zweiten Stückhälfte nach der Pause auch Antigone drin", so Sarah Hofmann in der Freien Presse (29.1.2024). Gezeigt werde John von Düffels Version, in der Kreon im steht und die Vorgeschichte mehr Raum hat. Nina Mattenklotz rette aber den "doch etwas anstrengenden und in dieser Version verquasten Stoff durch geschickte Ideen." Sie setze auf den Kontrast von körperlicher Dynamik und Statik, bediene sich an altgriechischer Theaterpraxis, "setzt auf starke emotionale und symbolträchtige Bilder und lässt einem wirklich guten Ensemble Raum zum Spiel". 

Kommentare  
Antigone, Chemnitz: Clan versus Demokratie
In ANTIGONE wird die Differenz verhandelt zwischen der Höherstellung der Familienordnung (zur Verdeutlichung nenne ich es mal Clan) und der Höherstellung eines Gemeinwesens mit gleichen Rechten für alle (zur Verdeutlichung nenne ich es mal Demokratie). Natürlich kann man dies als "Widerstandserzählung" lesen, sollte aber wenigstens anmerken, dass es der Widerstand gegen die Demokratie (beim Autor vermutlich positiv besetzt) im Namen eines Tribalismus ist. (Das ist keine Meinung zur Aufführung, hab ich ja nicht gesehen, sondern lediglich eine zum - freilich marktgängigen, weil moralischen - Vorurteil der Kritik).
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