Atlantis - Staatsschauspiel Dresden
Staunenswert mit Schopenhauer
28. Januar 2024. Früher hat der Theatervisionär Sebastian Hartmann in Sachsen Säle leer gespielt. Heute spendet das Dresdner Publikum Standing Ovations für eine Premiere, in der Hartmann die Philosophie Arthur Schopenhauers musikalisch und traumbildnerisch umsetzt. Gemeinsam mit Klang-Maestro PC Nackt. Ein Ereignis.
Von Janis El-Bira
28. Januar 2024. Arthur Schopenhauer hatte ein Ding fürs Nächtliche. Nicht nur, dass der Griesgram der deutschen Philosophie die Bedeutung des Schlafs theoretisierte, mehr noch interessierte ihn die seltsame Tätigkeit des Träumens. Es verhalte sich nämlich mit dieser, als durchblättere man absichtslos ein Buch und schlage mal hier, mal dort eine Seite auf.
Ergebnis: Man erlebe im Traum exemplarisch die Welt als Wille und Vorstellung. Wille, weil hier wie überall jenes uneinsehbare Prinzip herrscht, das alles Sein erzeugt. Vorstellung, weil die Träumenden selbst es ja sind, deren Wahrnehmungs- und Verstandesapparat dies Unbeeinflussbare trotzdem in Raum, Zeit und Zusammenhang setzt. Schopenhauer hat deshalb – und eine solche Metapher darf man an diesem Ort natürlich keinesfalls liegenlassen – vom "heimlichen Theaterdirektor" gesprochen, der wir in unseren Träumen seien.
In Träumen und fernen Galaxien
Ein überfälliges Glück eigentlich, dass mit Sebastian Hartmann nun der große Traumlogiker des Theaters "seinen" Schopenhauer präsentiert. Dabei ist dieses wunderlich-wunderbare Musik-Sprech-Bewegungs-Theaterdings am Dresdner Staatsschauspiel natürlich galaxienweit von einem Einführungskurs entfernt.
Während Hartmann und der famose Komponist PC Nackt im vorvergangenen Jahr mit Max Stirners "Der Einzige und sein Eigentum" in Berlin bereits einen anderen philosophischen Text großartig schräg von der Seite musikalisierten, ist es nun, als hätten sie die Eingeweide der Schopenhauer-Philosophie koloskopiert und ohne weitere Erläuterungen zur Anschauung gebracht. Mehr als einmal möchte man an diesem Abend die Dinge anhalten, auf etwas zeigen und fragen: Was ist, was will, was soll das?
Das beginnt schon beim zentralen Bühnenobjekt, einem krummen Gestänge, das als Verweisungsnetz des Schopenhauerschen Kausalitätsprinzips begreifen könnte, wer das möchte. Davor sitzt PC Nackt am elektronisch präparierten Klavier, ihm zur Seite und offenbar nur für uns unsichtbar, weil zu Beginn in einer schönen Eröffnungssequenz vom Musiker hereingeführt: ein Geister-Pianist, dessen Hände ein zweites, mechanisches Klavier zu bespielen scheinen.
Heraus kommt ein hörbar nach Beethoven gestimmter Ostinato-Sound, fast wie eine elektronisch aufgerüstete Hammerklaviersonate, zu der das Ensemble in Adriana Braga Peretzkis Retro-SciFi-Outfits oben auf der Bühne Staunliches tut und noch Staunlicheres singt. Text nämlich, der Schopenhauer eher appropriiert als wiedergibt, ihn mithin kindlich über sich selbst stolpern lässt: "Stell mir vor / was mir gefällt / objektive / schlechteste Welt / stell mir vor / was mir gefällt / Ich kann nicht raus / aus dieser Welt."
Aus ganz eigenem Holz geschnitzt
Das ist insofern sehr komisch, weil Schopenhauers spezieller Stil selbst immer wieder vermeintliche Binsenweisheiten produziert. Hartmann und PC Nackt zeigen muntere Kreisbewegungen eines Denkens, das über das menschliche Leidensschicksal nicht hinwegkommen mag und sich schließlich bis an den Rand des Esoterischen exzentriert. Torsten Ranft macht das gleich zu Beginn vor, wenn er den Satz "Es ist schlimm, wenn man nicht von Grund auf aus originell sein und aus ganzem Holze schneiden darf" immer wieder von vorn beginnt und dabei mit tausend Schattierungen auflädt.
Später gibt es eine Videosequenz zu fernöstlich ausgemalter Zahlenmystik und in einer die Raumverhältnisse magisch entgrenzenden Szene scheinen selbst die Toten zwischen Gaze-Vorhängen und chimärenhaften Lichtspielen aufzuerstehen, nur um erneut zu sterben. Das Zirkuläre der Philosophie Schopenhauers, die Verschränkung von Anfang und Ende, wird auch ästhetisches Programm.
"Aber nichts vermag meines Herzens Abgrund vollendet auszufüllen"
Obwohl diesem mit allen Freiheiten gesegneten Nachtschattengewächs von Theater natürlich gar nichts ferner liegen könnte, als ein "Programm" zu haben. Vielmehr lässt man sich bereitwillig mitspülen. Zu Sarah Schmidt zum Beispiel, die einmal wie eine Diva des Absurden von einer Chorszene zurückbleibt, um immer wieder und immer höher ein schallendes "Ja!" zu intonieren. Zu Marin Blülle, der auf dem Satz "Aber nichts vermag meines Herzens Abgrund vollendet auszufüllen" eine völlig erschöpfende Tai-Chi-Performance ausführt. Zum "Kinderpupillen"-Popchor, der die Erlösung durch das Nichts in Aussicht stellt.
All dies hat vielfach verwickelten Bezug zu Schopenhauer, dessen radikaler Subjektivität, Pessimismus und produktiver Melancholie. Wer will, kann hierin womöglich auch eine Selbstauslegung des Regisseurs Sebastian Hartmann erkennen. Es lässt sich aber vor allem bestens schwimmen durch eine kurze Theaternacht, die mal hoch, mal niedrig tönt, Quatsch macht und Ernst. Zusammengehalten von unerschütterlichem Eigensinn und hin auf ein Ende, das keines ist, aber ein Zauber und ein Erwachen. Saallicht, Jubel. Wohl nur im Traum erringt man solche Dinge.
Atlantis – Die Welt als Wille und Vorstellung
Ein Musik-Theaterabend von Sebastian Hartmann und PC Nackt
Regie und Bühne: Sebastian Hartmann, Live-Musik: PC Nackt, Live-Kamera: Christian Rabending, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Komposition und musikalische Leitung: PC Nackt, Animation: Tilo Baumgärtel, Lichtdesign: Lothar Baumgarte, Dramaturgie: Jörg Bochow.
Mit: Marin Blülle, Kriemhild Hamann, David Kosel, Torsten Ranft, Sarah Schmidt, Nadja Stübiger.
Premiere am 27. Januar 2024
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.staatsschauspiel-dresden.de
Kritikenrundschau
Ein "verrätseltes Performance-Stück von großer Faszination" sah die Autorin/der Autor mit dem Kürzel hn von der Morgenpost (30.1.2024). "Nicht alles erschließt sich in dieser mit unter zwei Stunden recht kurzen Theaternacht. Das Spiel aus Gedanken, Klang und Bewegung aber bewegt-und ist verblüffend unterhaltsam."
Als "kongeniales Zusammenwirken von Bild, Schauspielerinnen und Schauspielern und Musik" beschreibt Eberhard Spreng den Abend in der Sendung Fazit auf Deutschlandfunk Kultur (27.1.24). Dennoch sei dieser ihm persönlich etwas "zu zeremoniell" geworden, so der Kritiker: "So, als ginge es wirklich darum, eine neue Religion zu gründen – und das soll das Theater ja doch, wenn es geht, nicht tun."
"Ob wir jetzt schlauer sind, was Schopenhauer betrifft?", fragt Michael Laages in der Deutschen Bühne rhetorisch und antwortet: "Nicht unbedingt. Aber einmal mehr ist Sebastian Hartmann, diesem Sonderling und Grenzgänger, das Kunststück des eigenwilligen, vielleicht sogar einzigartigen Zusammenklangs der Dinge gelungen: im Denken und im Singen, in Klang und Bewegung, im Spielen der Künste also. Wer das ‚Totaltheater‘ nennen möchte, hat vielleicht recht."
"Mit seinem philosophischen Traumtheater, dieser beweglichen, klingenden Wortskulptur und szenischen Installation, treibt Hartmann das auf die Spitze, macht es - nicht zum ersten Mal - zum Prinzip", so Joachim Lange in der Freien Presse (2.2.2024). Die Auflösung von Theater in die Grundelemente Musik, Sprache, Gestalt, Bild, Licht und Bewegung und ihre Neu-Komposition sei das, was an diesem Abend seine suggestive Wirkung entfalte, jedenfalls, wenn man bereit sei, sich auf diese Theatergrenzerfahrung einzulassen
Man müsse schon bereit sein, sich auf diese "Theatergrenzerfahrung einzulassen", schreibt Joachim Lange in den Dresdner Neuesten Nachrichten (31.1.2024). Dann aber entfalte sich hier ein "Traumtheater eigenen ästhetischen Rechts". Mit dieser "beweglichen, klingenden Wortskulptur und szenischen Installation" habe Hartmann das nun "auf die Spitze getrieben". Von Vorteil sei wie schon zu Hartmann Leipziger Intendanz-Zeiten auch diesmal, wenn man als Zuschauer "neben der gespannten Aufmerksamkeit gelegentlich auch eine Dosis von somnambulem Dämmerzustand" parat habe.
Sebastian Hartmann kündige "die Theatervereinbarung auf, Menschliches auf der Bühne zu erzählen", zeigt sich Johanna Lemke in der Sächsischen Zeitung (31.1.2024) wenig angetan. Wenn er stattdessen "reine Theorie" ausstellen wollte, hätte er diese "wenigstens greifbar machen" sollen. So fühle man sich bisweilen "wie in der Performance des dritten Philosophiesemesters im Studentenkeller", allerdings "mit einem ziemlich hohen Budget". Es sei "kaum vorstellbar, dass irgendjemand durch diesen Abend Schopenhauer besser versteht".
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