Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich - Theaterhaus Jena
Sternstunde kluger Unterhaltungskunst
von Matthias Schmidt
Jena, 8. Januar 2020. Am Eingang gibt es einen Ouzo. Wer jemals auf einem Kreuzfahrtschiff war, weiß, wozu der da ist. Das kann heiter werden. Drei als Griechen verkleidete Touristen-Belustiger begrüßen mit einstudiert exaltierter Freundlichkeit das Volk an Bord. Ein Schiffs-Horn dröhnt, Durchsagen avisieren eine international vorgeschriebene Seenotrettungsübung – man könnte fast glauben, die engen Treppen hoch in den Saal des Theaterhauses führten tatsächlich auf ein Schiff.
Rabatte für Wellness
Zunächst wird es tatsächlich heiter. Schrecklich amüsant, um genau zu sein. Ganz wie es David Foster Wallace' Essay "Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich" hergibt. Auf der Bühne wird das Schiff geschmückt, Luftballons für die Erholung Suchenden. Dahinter, auf großer Leinwand, laufen Bilder von einem echten Kreuzfahrtschiff. Bilder von ebensolchen Luftballons, was die beiden Welten geschickt verknüpft. Und Beobachtungen von Touristen in Situationen, die zu Spott oder Schlimmerem einladen. Dazu in Endlosschleife Durchsagen, die von Rabatten auf Wellness-Anwendungen säuseln oder den Besuch des Casinos empfehlen. Die Stimmung im Saal ist, wie sie nach einem Ouzo eben ist. Man beginnt, sich daran zu gewöhnen und bereitet sich darauf vor, wahlweise einen leichten, humorigen Abend zu sehen oder ihn als theatrale Albernheit untergehen zu sehen.
Keines von beidem geschieht. Weil das Team von Wunderbaum, das für diese Neubearbeitung einer Inszenierung, mit der die Truppe 2017 bereits bei "Theater der Welt" gastierte, selbst auf eine Kreuzfahrt gegangen ist und diese als zweite Ebene in den Wallace-Text einzieht. Weil sich die Bilder dieser Kreuzfahrt mehr und mehr mit den Texten von Wallace verweben. Weil die Inszenierung den Text in Einzelteile zerlegt und neu zusammensetzt. Sodass man in den Szenen die Menschen an Bord kennenlernt: den Ungarn, der einen lustigen Mexikaner spielen muss, das aber weniger als Erniedrigung denn als jeden Tag weiter zu perfektionierende Dienstleistung versteht. Die Griechen, die als Kapitäne herumstolzieren, in Wahrheit aber Kleindarsteller sind, arbeitslose Schauspieler, die lieber Agamemnon oder Iphigenie gäben. Die Philippina, die von früh bis spät putzt und schuftet und uns, die Zuschauer, dennoch Empathie mit den Gästen der Reise lehrt. Mit dem Mann, der jede Nacht die Kissen nassweint, weil seine an Krebs verstorbene Frau nicht mehr bei ihm ist. Mit dem ordnungsfanatischen Paar auf den Flitterwochen, das aus Karrieregründen noch warten will mit dem Kinderkriegen. Mit der dreist auftretenden Wohlstandsgöre, die sich von ihren Großeltern aushalten lässt, hinter ihrem "hübschen Gesichtchen" in Wahrheit aber verzweifelt und traurig ist. Da schaut nur leider keiner hin.
Unterhaltung mit Videobeweis
All das und Vieles mehr wird in dieser Inszenierung zu einer Sternstunde kluger Unterhaltungskunst. Denn, ja, das Unterhalten stellen Wunderbaum nie ein. Jens Bouttery musiziert mit Drums, Gitarre und Elektronischem, dass man ihn direkt auf ein Schiff verpflichten könnte. Sie spielen ihre Rollen, treten aus ihnen heraus, erläutern den Text, denken darüber nach, warum die Ironie uns zur Falle geworden und die Empathie uns abhandengekommen ist. Sie albern herum, sie singen, sie tanzen. Sie geben zu und zeigen (der erste Fall von Videobeweis auf der Bühne!), wie sie mit einem Programm eben dieser Art auf der Showbühne der echten Aida scheiterten. Der zuständige Aida-Direktor schreibt ihnen danach, das sei zu sehr "Theater" gewesen, man werde "den Weg einer weiteren Kooperation nicht gehen". Selbst das, Hut ab, wird nicht einfach herablassend weggekichert, sondern fragend in den Raum gestellt. Haben sie die Leute überfordert? Haben sie ihr Publikum falsch eingeschätzt? Kannten sie es gar nicht?
Alles an diesem Abend, selbst die Business-Rhetorik des Direktoren-Briefes, öffnet Denkräume. Das ist so großartig, wie der abgeschlossene Raum eines Kreuzfahrtschiffes zu einer Metapher auf die abgeschlossenen Räume umgebaut wird, in denen wir alle uns aufhalten. In denen wir uns so wohlfühlen, wie die Pauschalreisenden es auf ihrem Traumschiff tun (sollen). Unsere Kreise, unsere Echokammern, unsere Filterblasen, das Theater. Wunderbaum gehen nicht den billigen Weg, sie fallen über niemanden her und verdammen, was so leicht zu verdammen wäre. Die Unterhaltungsindustrie. Das Geschäft mit Illusionen. Den Traum vom Luxus.
Die Videos von Bord wirken im Laufe des Abends immer weniger voyeuristisch. Ein leerer Flur. Tristesse. Gepackte Koffer vor den Kabinentüren in der letzten Nacht. Bilder, die – wie viele der ausgewählten Texte – das Menschliche suchen. Sie finden schließlich die bei David Foster Wallace ebenfalls angelegte Melancholie des Meeres und der Menschen, sogar ihre morbiden Trübheiten.
Am Ende dieses mit so viel Leichtigkeit gestartetem Genie-Streichs lassen Wunderbaum ihre Zuschauer wie gebannt in den Strudel am Schiffsheck schauen und singen dazu aus dem Dunkel eine Cover-Version von Helene Fischers "Atemlos", die so fein und ergreifend ist, dass man für den Moment geneigt ist, selbst die Schlagerwelt in sein Herz zu lassen. Zum Glück gab es nur einen Ouzo.
Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich
von Wunderbaum frei nach David Foster Wallace
Regie: Wunderbaum, Bühne und Licht: Maarten van Ottderdijk, Musik und Komposition: Jens Bouttery, Video und Design: Arjen Klerkx, Fotografie und Film: Jan Dirk van der Burg, Grafikdesign: Mario Debaene, Kostüme: Erik Bosman, Karin van der Leeuw, Sprachtrainer: Burkhard Körner.
Mit: Walter Bart, Wine Dierickx, Matijs Jansen, Maartje Remmers, Jens Bouttery.
Premiere in Jena am 8. Januar 2020
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
Eine Koproduktion von Theater Rotterdam und Theater der Welt 2017
www.theaterhaus-jena.de
Wunderbaum unterwerfen mit ihrer Inszenierung "die boomende Kreuzfahrtindustrie einer kritischen Analyse", berichtet Ulrike Merkel in der Thüringer Allgemeinen (10.1.2020). Die Gruppe ging selbst auf eine Kreuzfahrt und aus "ihren Erlebnissen und Beobachtungen entwickelten sie eine großartige Theatercollage, die teils sehr komisch ist, teils aber auch melancholisch stimmt", so die Kritikerin. "Obwohl die Inszenierung wirkt, als sei sie wahllos zusammengesetzt, entwickelt das Schauspielerensemble von Szene zu Szene eine ganz eigene Spannung, die das Stück trägt."
Wunderbaum haben ihre "Erfahrungen mit den Abgründen der Kreuzschifffahrt" auf "kluge, unterhaltsame Weise" in Szene gesetzt, zeigt sich Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (online 12.1.2020) beeindruckt: "Vom ersten Moment dieses Theaterabends an fühlt man ihre Lust am direkten, unverkrampften Spiel", wobei sie nie das Gefühl vermittelten, "sie stünden dabei über dem, was sie beschreiben, und fühlten sich als moralische Sieger".
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(Anm. der Redaktion: Dieser Kommentar bezieht sich auf den redaktionellen Teaser zur Kritik. Das Attribut "genialisch" steht nicht hier in der Kritik.)
(Anm. Redaktion: Nein, der Hinweis dient nur dem Verständnis des Kommentars. In ein paar Tagen ist der Teaser ja verschwunden, und dann müssen sich die Leute, die hier die Kritik lesen, ja nicht unnötig fragen, wieso im Kommentar von "genialisch" die Rede ist. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow)