Der kaukasische Kreidekreis - Salzburger Festspiele
Minutenmagie
13. August 2023. Eine Sensation in Salzburg: Zum ersten Mal stehen beim Hochglanz-Festival Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung auf der Bühne. Theater Hora meets Rimini-Protokoll-Mitbegründerin und Autorin Helgard Haug für eine sehr freie Bearbeitung von Brechts "Der kaukasische Kreidekreis". Eine Versuchsanordnung, die viel verspricht.
Von Petra Paterno
13. August 2023. Die Kreidekreise sind da, ehe alles beginnt. Der erste Auftritt gehört zwei Wischrobotern, die Kreidestriche vom schultafelgrünen Bühnenboden wischen. Geräuschlos hebt ein Theaterabend an, der für die Salzburger Festspiele einem veritablen Erdrutsch gleichkommt: Zum ersten Mal in der über 100-jährigen Geschichte des österreichischen Elite-Festivals stehen Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung auf der Bühne. Inklusives Theater war in Salzburg bisher ein Fremdwort.
Welche Mutter ist die richtige?
Schauspielchefin Bettina Hering setzt die Salzburger Neuerung in ihrer letzten Festivalausgabe um, ehe im Sommer 2024 Marina Davydova die Leitung übernehmen wird. Für Regisseurin Helgard Haug von Rimini Protokoll ist die Zusammenarbeit mit dem inklusiven Theater Hora ebenfalls eine Premiere. Das Resultat der gemeinsamen Anstrengung ist die sehr freie Bearbeitung von Bertolt Brechts "Der kaukasische Kreidekreis" in der Szene Salzburg.
Brecht spricht in seiner Bühnenparabel der Pflegemutter das Kind zu, nicht der leiblichen Mutter, da diese sich nicht um das Wohl des Nachwuchses sorgte. Bei Haug ist das schon weniger eindeutig. In ihrer Fassung schält sie die Parabel aus dem Stück förmlich heraus, stellt in wiederkehrenden Durchläufen immer wieder dieselbe Frage: Wer ist die rechtmäßige Mutter? Gezählte acht Mal stellt sich Robin Gilly als Kind Michel in jenen Kreis, den Remo Beuggert als Richter Azdak zuvor gezogen hat. Beim ersten Versuch macht die Fürstin (Tiziana Pagliaro) das Rennen: "Ein Punkt für mich!" Erst beim zweiten Durchlauf kommt die Magd Grusche (Simone Gisler) zum Zug: "I han di gern." In einer weiteren Variante soll das Kind dann selbst entscheiden, während die beiden "Mütter" mit Argumenten überzeugen: Die Fürstin lockt mit iPhone und Xbox – Grusche kontert mit Liebe und Geborgenheit. Schließlich wird sogar die Perkussionistin Minhye Ko in Erwägung gezogen, selbst Soldat Simon (Simon Stuber via Videoeinspielung) kommt in Betracht.
Wie verträgt sich nun die Dokumentar-Theater-Methode der Marke Rimini Protokoll mit den Bedürfnissen der Spieler:innen des Theater Hora? Und wie passt das alles wiederum zu Brecht, dem Erfinder des epischen Theaters, der sich von seinen Dramen neue Beziehungen zwischen Theaterpublikum und Bühne erhoffte? Letzteres könnte ein Anknüpfungspunkt sein: In der Theaterarbeit von Rimini Protokoll wird mit "Experten des Alltags" an so etwas wie einer zeitgemäßen Form epischen Spiels gefeilt. Dem Theater Hora – Theater-Aficionados ist die 1993 gegründete Truppe spätestens seit der Einladung zum Theatertreffen 2013 mit Jérôme Bels „Disabled Theater“ ein Begriff – gelingt ebenfalls nicht selten die Verschiebung von Perspektiven. Da sich die Spieler:innen jenseits heterogener Normen ausdrücken, könnten sich also andere Reflexionsebenen eröffnen: Im Grunde verlangte Brecht genau dies vom Theater. Hora meets Haug – eine vielversprechende Versuchsanordnung, die bedauerlicherweise nicht wirklich aufgeht.
Die schönste Braut der Welt
Da wäre das Dilemma mit dem Text: Geschriebenes ist für Hora-Spieler:innen häufig mit negativen Gefühlen besetzt, erinnert an Schulfrust; das erfährt man zumindest aus dem Probentagebuch, das auszugsweise im Programmheft abgedruckt ist. In Salzburg aber muss zwei Stunden lang ziemlich viel Text gestemmt werden, noch dazu halbwegs auf Hochdeutsch: Für die Truppe aus Zürich keine Kleinigkeit. Die Texte werden via Kopfhörer in ihre Ohren geflüstert, manche Textpassagen zusätzlich auf die hintere Bühnenwand projiziert, wobei dennoch Vieles unverständlich bleibt: Vielleicht hätte man kühn wagen sollen, noch viel mehr auf durchgehende Verständlichkeit zu pfeifen, denn so wirkt das Spiel bisweilen wie mit angezogener Handbremse. Was möglich gewesen wäre, vermitteln die wenigen Szenen, in denen sich die Spieler:innen von der Textvorlage lösen: Wie sich Simone Gisler als Magd Grusche ihre Hochzeit mit dem Soldaten Simon zusammenfantasiert, kommt so bei Brecht nicht vor, ist aber ein schillernder Theateraugenblick, der zur so grandiosen wie wahrhaftigen Schlussfolgerung führt "Ich bin die schönste Braut der Welt."
Ziemlich gelungen auch jene Tanzeinlagen, in denen die Spieler:innen ihre Figuren allein via Gestik und Mimik darstellen, der beste Moment gehört jedoch dem Buch: Irgendwann mitten in der Aufführung verteilen die Spieler:innen auf einmal einen schmalen Band an die Zuschauer:innen, das Licht geht an – und man darf sich lesend mit den zum Teil erschütternden Biografien der Darsteller:innen vertraut machen. Die Aufführung hält den Atem an, von der Bühne herab dringt eine fein abgestimmte Klangspur, welche die Komponistin Barbara Morgenstern für das Holzschlag-Xylophon Marimba entwarf. Nach dieser Minutenmagie wird es wieder dunkel, das Spiel geht weiter, zunehmend wackelig: Obwohl Remo Beuggert als Richter wie ein Conférencier durch die Vorstellung führt und wacker versucht, die Szenen zusammen zu halten, zerfällt der Abend, es kommt leider zu Leerläufen, zum Ganzen fügt sich hier nichts (soll es vielleicht auch gar nicht).
Die Frage ist gut!
In der Abschlussszene richten sich die Schauspieler:innen frontal ans Publikum: "Hätte Grusche ein krankes Kind mit auf die Flucht genommen?" Die Antwort folgt von den Spieler:innen postwendend: "Das kann ich nicht sagen." – "Aber die Frage ist gut." Der berühmte Brecht-Duktus, in aller Klarheit präsentiert. Regisseurin Haug wagt im Finale noch die Annäherung an Brechts Lehrstücke, setzt den Schlusspunkt indes mit der Moralkeule – was dem Spiel letztlich schadet. Es wird viel gewollt, dennoch bleibt die Regie zu vorsichtig, zu stark dem Konzept verhaftet. Leine los, wäre wohl die bessere Devise gewesen.
Der kaukasische Kreidekreis
Nach Bertolt Brecht, in einer Fassung von Helgard Haug (Rimini Protokoll) mit dem Theater Hora, Musik von Barbara Morgenstern
Koproduktion der Salzburger Festspiele mit Rimini Protokoll, Theater Hora, HAU Hebbel am Ufer, Theater Winterthur und Staatstheater Mainz
Regie: Helgard Haug, Komposition: Barbara Morgenstern, Bühne: Laura Knüsel, Kostüme: Christine Ruynat, Dramaturgie: Marcel Bugiel und Ivna Žic, Theaterpädagogik: Magdalena Neuhaus.
Mit: Remo Beuggert, Robin Gilly, Simone Gisler, Tiziana Pagliaro, Simon Stuber, Minhye Ko als Live-Musikerin.
Premiere am 12. August 2023
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.salzburgerfestspiele.at
Kritikenrundschau
"Als durchmoderiertes Erzähltheater behält Der kaukasische Kreidekreis seine Spannung, wirkt dabei streckenweise zwar recht mechanisch, doch schlagen sich die Performerinnen und Performer mit ihren Darstellungen den Weg immer wieder frei", schreibt Margarete Affenzeller vom Standard (13.8.2023). "Helgard Haug und die Horas legen dieser archaischen Geschichte viele Fährten in die Gegenwart. Brecht hätte das bestimmt gefallen, legt denn der Streitfall in seinem Drama viele Fragen offen – und bringt so die Köpfe hier so richtig zum Rauchen."
Die Lebensrealitäten der mitreißend spielenden Darstellerinnen und Darsteller würden eindrucksvoll mit der Handlung verknüpft, so Hilde Mayer von den Salzburger Nachrichten (14.8.2023). "Wer darf Mutter sein? Wäre auch ein Streit um das Kind ausgebrochen, wenn es nicht gesund auf die Welt gekommen wäre? Und was will eigentlich der Bub selbst? Inwieweit es die Bühnencharaktere oder doch die Darstellenden selbst sind, die sich der Beantwortung dieser Fragen annehmen, bleibt hinter dem auf der Bühne verhandelten Hintergrund nahezu nebensächlich, die Spielenden füllen die Rollen mit ihren Geschichten."
"Inklusives Theater also. Das ist noch einmal ein starker und herausfordernder Akzent, den die scheidende Schauspielchefin Bettina Hering mit diesem kaukasischen Kreidekreis dem Salzburger Festspielpublikum zumutet. Er ist gelungen", so Sven Ricklefs für SR2 (13.8.2023).
Thomas Trenkler vom Kurier (14.8.2023) findet die Inszenierung zu lang, sie ufere aus. "Dem beherzt agierenden, ein amüsantes Schwyzerdütsch sprechenden Ensemble ist kein Vorwurf zu machen." Remo Beuggert stemme den Abend geradezu bravourös.
Einen "achtsamen Rahmen" baue Helgard Haug für die Fragen des Hora-Ensembles an Brechts Lehrstück, so Andreas Klaeui bei SRF (15.8.2023). Ihre Inszenierung lasse Raum für fantasievolle, spielerische Einlagen, etwa wenn Grusche sich die Hochzeitsfeier inklusive Orgasmus imaginiert: "Ein Glanzstück, das ähnlich auch schon in anderen Hora-Stücken vorkam und beiläufig an ein Tabu rührt: die Sexualität von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung."
Viele Theater hätten "inzwischen erkannt, dass die Zusammenarbeit mit Hora und ähnlichen Einrichtungen nicht nur Punkte auf der derzeit nach oben hin offenen Skala für politisch korrektes Theater bringt, sondern grandioser ästhetischer und emotionaler Gewinn sein kann", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (15.8.2023, hinter der Paywall). Und erwähnt ebenfalls die Hochzeitsszene mit der Grusche-Spielerin Simone Gisler sowie Remo Beuggert, der als Richter alles zusammenhält. "Zwischen großartigen pantomimischen Szenen, umwerfenden Blitzmomenten der Erkenntnis, einfach nur herzlich wundervollen Charme-Attacken wackelt die Aufführung nach zwei Dritteln ihrer zweistündigen Dauer ein bisschen aus der Spur", konstatiert Tholl Mäanderndes, setzt aber hinzu: "Nicht schlimm, der Nachhall des Schönen überwiegt."
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Die Behauptung, dass Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung erstmalig auf der Bühne der Salzburger Festspiele stehen, ist zudem falsch. Zuletzt bei DON GIOVANNI 2021.
Gruß aus Salzburg