Memento mori

22. Oktober 2023. Michael Hanekes preisgekrönter Film erzählte 2012 davon, wie eine Beziehung von Alter und körperlichem Verfall verändert wird. Karin Henkels Adaption kam bei den Salzburger Festspielen heraus. Nun ist sie in den Münchner Kammerspielen angekommen.

Von Martin Thomas Pesl

"Liebe" bei den Salzburger Festspielen © SF / Matthias Horn

31. Juli 2023. Ganz eingefallen sitzt André Jung am Rande der erleuchteten Bühne. Er hält ein Kissen. Mehr braucht es nicht, die schreckliche Filmszene heraufzubeschwören: Georges (Jean-Louis Trintignant) am Bett der schwerkranken, unverständliche Laute ausstoßenden Anne (Emmanuelle Riva). Er beruhigt sie mit einer Erzählung aus seiner Kindheit. Dann greift er ein Kissen und erstickt sie. Das dauert lang und tut weh. Aber nachdem wir verfolgt haben, wie Georges seine Frau rührend pflegte, ihr versprach, sie nie ins Krankenhaus zu bringen, wird wohl kein:e Zuschauer:in ihn verurteilen.

Anne sind viele

Michael Hanekes "Amour" gewann 2012 die Goldene Palme in Cannes und 2013 den Oscar als bester nicht englischsprachiger Film. Jetzt kommt er bei den Salzburger Festspielen in einer Produktion der Münchner Kammerspiele auf die Bühne. Ein Dilemma: Hanekes Drehbuch will nicht einmal annähernd ein Theaterstück sein, dennoch steckt inhaltlich viel drin, was es wert ist, verhandelt zu werden: der Pflegenotstand, die Sterbehilfe – und ja, die Liebe.

Der Herausforderung begegnet Regisseurin Karin Henkel konzeptuell mit Mitteln der Verfremdung: Anne wird zwar hauptsächlich von Katharina Bach gesprochen, aber keineswegs nur durch sie verkörpert. Da gibt es noch Tänzer:in Joel Small, Kind Nine Manthei und einen bunten Laienchor aus älteren Herrschaften. Den grünen Bademantel, das beige Negligé, das kleine Schwarze tragen dann eben jeweils mehrere Annes zugleich.

Noch hat alles seine Ordnung: Chor, Katharina Bach, Nine Manthei, André Jung © SF / Matthias Horn

"Lassen Sie uns gleich zu Beginn eine Verabredung treffen", sagen Joyce Sanhá und Christian Löber, bevor sie in ihren (noch) blütenweißen Klüften die Fachkräfte darstellen: die Concierge und den Pflegedienst, den Rollstuhl- und den Krankenbetttechniker. Die Verabredung lautet: Wird ein Fähnchen geschwenkt, verlässt die Inszenierung das Originalskript. Das passiert allerdings weniger oft als erwartet. Henkel klammert sich überraschend fest an Handlung, Bilder und Dialoge des Films, einige werden bis zur Bedeutungslosigkeit wiederholen. Es scheint, als ließe sie die Szenen zu akademischen Zwecken nachspielen, um dahinterzukommen, was sie eigentlich daran interessiert. Einmal hört sich André Jung sogar im Radio ein Interview mit Haneke an.

Ort, Name, Datum

Das Suchende äußert sich auch im Bühnenbild. Zunächst ist da ein weißer, sich nach hinten verengender Raum, auf einer Seite steht "Ort:", "Name:", "Datum:". Die schwarze Farbe, mit der das Ensemble "Paris", "Anne" und "30.7.2023" ausfüllt, zerfließt. Jedoch verliert sich die angedeutete Farbsymbolik, als nach einem Drittel die Wände verschwinden und der bisher ästhetisch ansprechende Raum rein funktional wird. Da sind dann viele Stühle und ein Klavier – und ein Erdhaufen, auf dem Joel Small, statt zu tanzen, dauerzitternd eine alte Frau mimt.

amour 2023 14 c sf matthias horn UAuf so viele Körper verteilt: Joel Small, Joyce Sanhá, Kurt Reinstein (Chor), André Jung, Irmgard Pohl (Chor), Christian Löber © SF / Matthias Horn

Da Anne, auf so viele Körper verteilt, nie greifbar wird, richtet sich die Zuschauerempathie auf Georges. André Jung glaubt man von Anfang an die verwirrte Ruhe und Kraft dessen, der tun muss, was eben nötig ist. Er spricht außer Atem, gestört bei einer ernsten Arbeit. Das Umfeld kann noch so kühl durchchoreografiert sein, er ist bei sich und seiner Aufgabe. Einmal kommt Nine Manthei im Taubenkostüm die Bühne. Nur wenige Sekunden lang imitiert Jung den Vogel, wie um daran zu erinnern, dass er der begnadetste Tierdarsteller des deutschen Theaters ist.

Wenn das Kind spricht

In den Fähnchen-Exkursen wird mal sachlich bis heiter die Anwendung einer Exit-Bag demonstriert, mal "Das Leben ist ein vorübergehender Zustand" von Gabriele von Arnim zitiert. Die Taube, die im Film in die Wohnung des Ehepaares eindringt, wird Gegenstand einer Abhandlung anhand eines Exponats in einer Vitrine. Und vor der Pause dürfen die Laien an die Rampe. Nacheinander offenbaren sie den jeweils eigenen Bezug zum Thema des Stückes: Eine hatte einen Schlaganfall und wollte sterben, einer hängt trotz myotoner Dystophie am Leben. Einer hat den besten Freund beim Sterben begleitet, eine andere den Sohn. Ihre Texte sprechen sie teils selbst, teils übergeben sie sie den Schauspielprofis zum Verlesen.

Offenbar legt Henkel Wert darauf, nie die Kontrolle abzugeben, nie ins Rührselige abzurutschen. Dadurch berührt ihre Inszenierung immer nur in einzelnen Momenten, den naheliegenden. Wenn das Kind spricht. Wenn die Laien ihre Emotionen doch nicht ganz beherrschen können. Wenn die Mechaniken der Altenpflege ins Rampenlicht dürfen. Wenn klar wird, dass es uns alle mal trifft. Als Memento mori ist die Arbeit gelungen. Als Kunstwerk hätte sie noch etwas mehr Liebe vertragen.

 

Liebe (Amour)
nach dem Film von Michael Haneke
Regie: Karin Henkel, Bühne: Muriel Gerstner, Kostüme: Teresa Vergho, Licht: Stephan Mariani, Chorleitung: Alexander Weise, Dramaturgie: Tobias Schuster.
Mit: Katharina Bach, André Jung, Christian Löber, Joyce Sanhá, Joel Small sowie Birgit Conrad, Gerhart Groß, Gisela Ilk, Karin Kress, Peter Kuttner, Nine Manthei, Josefine Mastroberardino, Heinz Ott, Klaus Dieter Pfeffer, Irmgard Pohl, Kurt Reinstein, Adelheid Schuster-Böckler und Lisa Wanninger und den Live-Musikern Paul Pötsch und Alex Röster Vatiché.
Premiere am 30. Juli 2023
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.salzburgerfestspiele.at
www.muenchner-kammerspiele.de

Kritikenrundschau

"Ein Depri-Abend", findet Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (1.8.2023). "Man kann ihn nur hilf- und trostlos abnicken. Und dann schnell raus und noch ein bisschen leben." André Jung sei der menschliche Anker dieser sehr performativen, von einem starken Kunstkonzeptwillen geprägten Inszenierung. Ihr Problem sei, dass Georges kein Individuum als Gegenüber hat, sondern ein Regiekonzept. "Dem Naturalismus und psychologischen Realismus des Films begegnet die Regisseurin mit choreografischer Abstraktion und Verfremdung. Die performerischen Mittel sind dabei nicht immer die frischesten."

"Dass das Theater sich beim wahren Leben mit Authentizität eindeckt, ist in diesem Fall gewiss besonders sinnvoll", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (1.8.2023), auch wenn regelmäßige Zeitungslektüre auf mindestens denselben Wissensstand führe. "Die Handlung von Anne und ihrem Mann tritt dahinter zurück, obwohl die Spielszenen stark sind." Sowohl ihre als auch die Geschichten des Laien-Chores könnten aber immer bloß anerzählt werden, während Abstraktionen und symbolische Bebilderungen viel Platz einnähmen. "Das nimmt dem Abend mehr Individualität, als nötig wäre, und gibt ihm mehr Routine, als ihm gut tut."

Einen fordernden, ungeschönten, durchgehend stimmigen Abend hat hingegen Margarete Affenzeller erlebt, wie sie im Standard (1.8.2023) darlegt. Zwar werte der Abend die Frage nach dem Warum der Tötung (oder des Mordes) ab, schiebe diese Frage geradezu von sich weg. "Das Anliegen von Henkels Liebe (Amour) scheint vielmehr die
Abbildung und Ausdifferenzierung jener Gewalt zu sein, die in der schweren Krankheit und dem Umgang mit ihr liegen. Und das ist auf bemerkenswert stimmige Weise gelungen."

Ähnlich positiv urteilt Regine Müller im Tagesspiegel (1.8.2023): "Karin Henkel gelingt mit ihrer Bühnenfassung etwas mit Haneke Vergleichbares: Ihre Inszenierung berührt, wird aber niemals gefühlig." Se verschiebe den Fokus des Films vom privaten Drama hin zu gesellschaftlichen Fragen. Ihr Fazit: "Ein ernster, konzentrierter, niemals plakativer Abend."

So beherzt das Ensemble spiele, es bereite "nur den Boden für den emotionalen Höhepunkt dieses erstaunlich eigenständigen und dramaturgisch geglückten Abends", schreibt Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.8.2023): den Expert:innen des Alltags auf der Bühne. "Es gelingt ein seltenes Kunststück: Betroffene sprechen, ohne Betroffenheit auszulösen. Das Publikum geht mit ernster Traurigkeit in die Pause." Zu diesem Gefühlswert kehre der Abend danach nicht mehr zurück.

Zwei Stunden Bühnenzeit lang gebe es trockene Statistiken, Spielszenen und viel Nachdenklichkeit und Gefühl, so Manuel Brug in der Welt (1.8.2023) "Geschickt balanciert Karin Henkel auf dem schmalen Grat zwischen Doku-Theater, Pamphlet und dramatischem Konstrukt. Sie zeigt und hebt den Finger." Zusammengehalten werde das fragile Gebilde von André Jung.

"Es gibt wenig, woran man sich hier festhalten kann", konstatiert Peter Kümmel in der Zeit (3.8.2023). André Jung gehe weniger wie ein Verzweifelter über die Bühne, "eher wie ein Künstler in einer Installation über den Tod seiner Frau". Leise Filmdialoge lasse "Karin Henkel im Boulevardton ausposaunen – als lege sie es drauf an, ein Geheimnis zu verraten und uns zu sagen: Schluss mit dem Geflüster am Sterbebett. In dem Bett werdet ihr bald selbst liegen."

Mit leisem Trotz, der die Resignation längst hinter sich habe, kämpfe André Jungs George an, nicht jedoch gegen das Sterben in der verwalteten Welt, so Uwe Mattheiss in der taz (3.8.2023). Handreichungen zum Thema Sterbehilfe haben Haneke eher nicht geben wollen. "Unter dem Druck aktueller politischer Debatten bietet Karin Henkel sie dennoch. Vor einfachen Schlüssen bewahren immerhin Statements von Personen auf der Bühne, die selbst einmal dem Tode nahe standen oder liebe Menschen in den Tod begleitet haben." Kurz: "Es bleibt kompliziert."

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Liebe, München: Gelungene Untersuchung
Karin Henkel und Ihr Team schaffen eine gelungene Untersuchung über Sterben und die Begleitung von Sterbenden. Diese existentielle Lebensfrage wird in ihrer Vielfältigkeit betrachtet. Wie erleben schwerstkranke Menschen diese Lebensphase und u. U. ihren Weg zum Tod? Wie erleben diejenigen, die diese Menschen begleiten und pflegen – Angehörige wie professionelle Pflegekräfte – diese Herausforderung. André Jung konfrontiert in der Rolle des liebenden Ehemanns differenziert und überzeugend mit der verzweifelten Überforderung des pflegenden Angehörigen und der zunehmenden Isolation in der Bewältigung dieser Situation.

Betrachtet wird diese Frage des Lebens nicht nur aus den unterschiedlichen Sichten der Figuren aus dem unter die Haut gehenden Haneke-Film, sondern auch von Betroffenen. Die Einbindung von Schwerstkranken und Angehörigen als Zeitzeugen, die geliebte Menschen beim Sterben begleitet haben, gelingt der Inszenierung in einer ganz eigenen Nüchternheit berührend, ohne in Sozialkitsch abzugleiten. Die Vielschichtigkeit dieses Lebensthemas erlangt hierdurch ganz unterschiedliche Einblicke. Die Inszenierung stellt Fragen und verzichtet auf Antworten und Verurteilungen. Auch die Ratschläge der Tochter an ihren Vater sowie das hilflose Verhalten des ehemaligen Klavierschülers werden nicht verurteilt, sondern als verzweifelte Versuche gezeigt, der Ausweglosigkeit aus dem Leid und der Unausweichlichkeit des Todes zu entkommen. Neben den zentralen Fragen, ob Tötung auf Verlangen unterstützt wird und ab wann ein Angehöriger Pflege und Begleitung körperlich und psychisch nicht mehr leisten kann, wird auch gefragt, ob eine Selbsttötung mit einem vorgeführten Exit- oder Suicide-Bag eine einzuschlagende Lösung ist.

Betrachtet werden Sterben und Tod als Teil des Lebens. Ein Kind, gespielt von der selbst betroffenen jungen Nine Manthei, eröffnet den Abend aus der Sicht des Lebens. Dieses Mädchen kündigt auch vor der Pause den zweiten Teil der Inszenierung als Akt der Liebe an.

Die kurze Sequenz des Chors mit seinem Votum für ein „Sterben zur rechten Zeit“ kann als einseitige Lösungsoption verstanden werden oder als eine flehentliche Hoffnung, als Antwort auf die unzähligen „Hilfe“-Rufe. Wie in der alttestamentlichen Form der Klage – eine Sprache des Vermissens – bekommt hier die Bitte um Erlösung eine Stimme. Auch wenn der Filmregisseur Michael Haneke das Ersticken seiner Ehefrau mit einem Kissen als „eine echte Liebesgeste“ beschreibt (vgl. das digitales Programmheft), weil der Ehemann „endlich eingewilligt (hat) in das, was sie (die Ehefrau) sich wünscht“, so hält diese Inszenierung offen, wie in einer solchen Lebenssituation zu entscheiden ist. André Jung sitzt in der Rolle dieses Ehemanns zu Beginn der Inszenierung mit dem Kissen am rechten Bühnenrand und stellt damit angesichts von Liebe und Tod diese existentielle Frage.

In einem Forschungsprojekt am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität erkunden Irmgard Saake, Armin Nassehi, Christof Breitsameter was gesellschaftlich unter einem „guten Sterben“ verstanden wird und stellen fest, dass Sterben selten als gut erlebt wird. In der SZ vom 19.10.2023 berichtet Frau Saake in einem Interview mit dem Titel „Sterben ist eine entsetzlich ausweglose Situation“ hierüber. Die Vorstellung sein eigenes Sterben gestalten zu können, erweist sich in vielen Lebenslagen als Illusion. Sterben heißt allzu oft nicht mehr gestalten können. Auch der beeindruckende Satz von Cicely Saunders, der Begründerin der Hospizbewegung: „Es kommt nicht darauf an, dem Leben mehr Jahre zu geben, sondern den Jahren mehr Leben“, ändert daran nichts.

Endlich gibt es wieder eine Inszenierung an den Kammerspielen, in die ich gern ein zweites Mal gehen werde. Ich würde mich freuen, wenn diese herausragende Regisseurin Karin Henkel künftig nicht nur weiter am Residenztheater sondern auch den Münchner Kammerspielen inszenieren würde.
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