Sarajevo 14 oder Der Urknall in Europa - Innsbruck will mit einer Uraufführung von Franzobel den Ausbruch des Ersten Weltkriegs neu erzählen
Jagd um den Waschkessel
von Martin Jost
Innsbruck, 11. Oktober 2014. Das Tiroler Landestheater hat bei Franzobel ein Stück zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs bestellt. Der Erfolgsautor ist angetreten, das Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau Sophie neu zu erzählen. "Geschichte ist wie Musik, die immer neu interpretiert werden muss", sagt Franzobel in einem Text für das Programmheft. "Jede Zeit schreibt sich die Geschichte neu." Schade, dass er den historischen Ereignissen nichts wirklich Neues abgewinnt.
Vielleicht liegt das am Stoff. Im Gegensatz zu den Pokerspielen, die sich die europäischen Staatsmänner in der Zeit zwischen Attentat und Kriegsausbruch lieferten, lässt sich am Handeln des Thronfolgerpaares in Sarajevo nicht viel deuteln. Zwei Statisten steigen in ein Cabrio und werden erschossen. Franz Ferdinands Paranoia, die der Text so betont, ändert nichts daran. Ebenso wenig die Charakterisierung von Sophie als ehrgeizige Lady MacBeth. Diese Details verschaffen der Exposition zwar eine bessere Auflösung, aber haben keine Konsequenz für den Plot.
Geschichtsstunde mit Boulevard
Franzobel weidet den Zufall aus, dass der Kronprinzen-Konvoi nach einem Fahrfehler genau vor dem Attentäter Gavrilo Princip zum Stehen kam und dichtet noch weitere Zufälle dazu. Episoden über das Kind einer hellseherischen Prostituierten und über den Sex-Frust der Thronfolgergemahlin stopfen die Geschichte mit Boulevard aus. Franzobel erzählt ein bisschen mehr als die Geschichtsbücher, aber nicht wirklich neu.
Der eigentliche Kniff von "Sarajevo 14" ist, dass die Geschichte rund um das Attentat als Stück im Stück angelegt ist. Gespielt wird es von sieben Wäscherinnen in einer Gefängniswäscherei. Der Mehrwert ist eine Parallele zwischen den eingesperrten Schauspielerinnen und den serbischen Attentätern, die sich in Österreich-Ungarn eingesperrt fühlen. Zum Ausbruchs-Plan der Wäscherinnen gehört eine Ablenkung. Und diese Ablenkung soll das Stück werden, das sie proben.
Ausbruch der Wäscherinnen
Die Innsbrucker Inszenierung von Fabian Kametz bemüht sich vor allem darum, dass die Darstellerinnen das tiefe Bühnenbild nutzen. Sie schieben ihre Wäschetische zu immer neuen Bühnen zusammen. Sie jagen um den Waschkessel. Sie schminken sich oder wechseln die Kostüme. Leider hat Franzobel ihnen nicht viel zu spielen gegeben. Oft erzählen oder kommentieren sie bloß die Ereignisse. Obwohl alle Sieben durchgehend auf der Bühne sind, zeigen sie nur Präsenz, wenn sie gerade Text haben. Ulrike Lasta als Regisseurin des Stücks im Stück erzählt immer wieder episch, was zwischen den gespielten Szenen 1914 in Sarajevo passiert und was ihr Häftlingsensemble jetzt probt. Das kommt mitunter so didaktisch daher wie ein Geschichtsfilm im Dritten.
Gelungen zeigen die Darstellerinnen jeweils den Wechsel von Gefängniswäscherin zur Rolle im Stück im Stück. Ivana Nikolic muss als Gavrilo Princip eine vor Nationalismus triefende Rede halten. Die Wäscherin fängt schüchtern an und verliert sich dann in der Begeisterung, die sie eigentlich nur spielt. Mit Ende der Rede fällt sie kurz aus der Rolle und lässt den Kopf hängen. Doch als sie Applaus von ihren Mitwäscherinnen erntet, kehrt der Stolz zurück.
Aufgemalte Schnurrbärte
Wenn das Licht auf Neon-kalt schaltet, sind wir wieder in der Wäscherei. Das passiert zwischen den Sarajevo-Szenen, die Bühne wird zur Bühne umgebaut und die Kostüme gewechselt. Bald tragen die Darstellerinnen gleichzeitig einen aufgemalten Schnurrbart und Lippenstift-Bäckchen. Die Wechsel zwischen den Geschlechtern sind interessant. Der ausführliche Blick auf die weiblichen Rollen der Geschichte hätte auch interessant sein können. Aber die historische Sophie (Antje Weiser) sowie das erdachte Dienstmädchen Eva Salmhofer (Petra-Alexandra Pippan) wollen bei Franzobel dann doch über lange Zeit nur ein Baby. Und die Szenen, die mit dem größten Aufwand an Musik-, Wind- und Lichteffekten als besonders wichtig markiert werden, sind wieder die Szenen des Attentats, die seit hundert Jahren in den Geschichtsbüchern stehen.
Das letzte Wort hat die hellsehende Hure (Sara Nunius). Was sieht sie? Schlachtfelder und zerfetzte Körper. Wirklich neu geschrieben hat Franzobel die Geschichte von Sarajevo nicht. Aber er liefert eine gründliche Geschichtsstunde.
Sarajevo 14 oder Der Urknall in Europa
von Franzobel
Uraufführung
Inszenierung: Fabian Kametz, Bühne & Kostüme: Vazul Matusz, Licht: Michael Reinisch, Dramaturgie: Romana Lautne.
Mit: Antje Weiser, Janine Wegener, Ivana Nikolic, Petra-Alexandra Pippan, Ulrike Lasta, Eleonore Bürcher, Sara Nunius.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.landestheater.at
Eine "kurzweilig-kluge Uraufführung" hat Joachim Leitner von der Tiroler Tageszeitung (13.10.2014) gesehen. Franzobel habe "gewissermaßen eine anatomische Studie eines Attentats" vorgelegt, gezeigt werde "in verschiedenen Etappen und aus unterschiedlichen Perspektiven nicht nur der mitunter unheilvoll unglückliche Verlauf des 28. Junis 1914, sondern auch die bisweilen grundverschiedenen Beweggründe der einzelnen Akteure." Der zusätzliche Kniff, eine Gruppe von Wäscherinnen die Vorgänge als Stück im Stück einstudieren zu lassen, ermögliche zweierlei: "Zum einen lassen sich mehrere auf aktuelle Vorgänge gemünzte und am Tonfall Thomas Bernhards geschulte Seitenhiebe einbauen. Zum anderen erlaubt es dem durchwegs engagierten Ensemble, das ja Laiendarsteller spielt, die ohne ernst zu nehmende Anleitung ans Werk gehen, bisweilen irrlichterndes Chargieren."
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