In der Kloake ihrer Scheußlichkeit

8. Juli 2023. Zwei frappierende Zeitreisen gab es in Reichenau binnen Tagesfrist zu erleben: Aristokratische Dekadenz in "Die Kapuzienergruft" von Joseph Roth und proletarisch Schockierendes in "Die Präsidentinnen" von Werner Schwab, das Schauspielerinnen und auch einige Zuschauerinnen zur Flucht trieb.

Von Gabi Hift

"Die Präsidentinnen" mit Festspiel-Leiterin Maria Happel (rechts) in Reichenau © Lalo Jodlbauer

8. Juli 2023. "Ich will den Sarg meines Kaisers Franz Joseph besuchen", verlangt ein Mann mitten in der Nacht vom Mönch, der an die Tür der versperrten Kapuzinergruft kommt. "Gott schütze dich!", sagt der Kapuziner. "Gott erhalte…", hebt der Mann an. "Psst!!!!", sagt der Kapuziner. Es ist März 1938, die Nacht vor dem sogenannten "Anschluss" Österreichs an Nazideutschland. "Wohin soll ich, ich jetzt, ein Trotta?"

So endet "Die Kapuzinergruft”, Joseph Roths letzter Roman, veröffentlicht 1939, kurz vor seinem Tod an Alkohol und Verzweiflung in einem Pariser Armenspital. Der Roman ist eine Fortsetzung vom 1934 erschienenen "Radetzkymarsch", der vom Niedergang der Familie Trotta bis zum ersten Weltkrieg erzählt.

Ein Leben in den Weltkriegsjahren

In der "Kapuzinergruft" ist ein anderer Trotta die Hauptperson, Franz Ferdinand, Spross des nicht adeligen, großbürgerlichen Teils der Familie. Als Ich-Erzähler vergegenwärtigt er sich sein eigenes Leben, von der unbeschwerten Studentenzeit am Vorabend des Ersten Weltkriegs über Krieg, Gefangenschaft und die Zeit danach, in der er alles verloren hat, bis zu jener Nacht, in der er keine Zuflucht mehr findet und sein geliebtes Österreich endgültig untergegangen ist.

Die vertrackte Form dieser Ich-Erzählung widersetzt sich einer Dramatisierung auf allen Ebenen. Die Geschichte spielt sich im Kopf eines passiven Menschen ab, dessen Stolz es ist, nichts dramatisch zu nehmen, nicht den Krieg, nicht das Missglücken seiner Ehe und schon gar nicht seinen finanziellen Ruin. Aber hinter dieser wehmütigen, lakonischen Stimme schwingt noch etwas anderes mit, die Zerrissenheit des Autors Joseph Roth, der die hochanständige Haltung seiner Figur liebt, der aber auch an der Passivität der von ihm bewunderten Schicht verzweifelt. Vor lauter müder Noblesse hat sie dem Untergang seines geliebten Vielvölkerstaats Österreich nichts entgegengesetzt. Diese eigenartige Zweistimmigkeit – eine kühle und wertfreie Erzählstimme, dahinter aber Roths Verzweiflung – ist kaum auf die Bühne zu übersetzen.

Kapuzinergruft3 1200 Lalo Jodlbauer uJulia Stemberger (Frau Trotta), Tobias Voigt (Kurt von Stettenheim) und Daniel Jesch (Baron Kovacs) © Lalo Jodlbauer

Nikolaus Hagg, der auch schon Romane von Werfel und Doderer für Reichenau dramatisiert hat, entscheidet sich für eine lockere Abfolge von Szenen, die die Geschichte Trottas von 1914 bis 1938 erzählen. Dazwischen schiebt er Passagen aus dem Roman ein, die der Stimme des alten Totta gehören. In der Regie von Philipp Hauß kommen diese Einschübe aber nicht von außerhalb der Szenen. Der Darsteller des gleichbleibend jugendlichen Trotta, der charmante, alerte AntoN Widauer, dreht sich an diesen Stellen von der Szene weg, wendet sich dem Publikum zu, das in der Arenabühne des Neuen Spielraums rund um die Bühne sitzt, und kommentiert die Szene, in der er gerade selbst spielt. Bisweilen ist dieses Kommentieren vom Rauschen einer leeren Schallplatte begleitet.

Trotta und seine Freunde, mit Spaß an der Leichtigkeit gespielt von Studenten des Reinhardt Seminars, bilden eine Clique junger Männer aus reichem Haus, die ihre Zeit unbeschwert zwischen Kaffeehaus und Abenden beim Ballett verplempern. Alle Leidenschaften sind verpönt, Politik langweilt sie. Nur aus purer Arroganz sind sie nicht antisemitisch gesinnt, weil sie sich nicht mit "Knödelhirnen, Hofräten und Hausmeistern" auf eine Stufe stellen wollen. (Was für ein bitterer Befund des Juden Roth, der dennoch zu diesen Kreisen dazugehören wollte). Sehr rührend ist Wolfgang Hübsch in der Rolle des alten Hausdieners Jaques, der gleichzeitig das alte sterbende Österreich verkörpert, und die alte Spielweise, von der auch nichts bleiben wird.

Zeit des Niedergangs

Dann bricht der Krieg aus, und als Trotta Jahre später aus der Gefangenschaft zurückkehrt, hat sich alles verändert. Die Monarchie ist zu Ende, das Geld der Familie verloren, Elisabeth, das Mädchen, das Trotta im letzten Moment vor seinem Einrücken unüberlegt geheiratet hat, lebt in einer lesbischen Beziehung. "Weißt du was deine Elisabeth geworden ist?”, fragt seine Mutter, "Eine Kunstgewerblerin! Weißt du was das ist?" Der verächtliche Ton, in dem Julia Stemberger, die Trottas Mutter spielt, dieses Wort ausspuckt, ist großartig.

Aber mit dieser Zeit des Niedergangs, in der Trotta von verschiedenen Emporkömmlingen um sein letztes Geld gebracht wird und schließlich das Haus in eine Pension umwandelt, um zu überleben, hat die Dramatisierung ein Problem. Man versteht den jungen Trotta nicht, der sich gegen nichts zur Wehr setzt, weil der ganze Aspekt des Ehrgefühls, aus dem er seine Identität bezieht und das ihn lähmt, in der von Widauer gespielten Figur kaum zum Tragen kommt. Dadurch wird Trotta zur passiven Randfigur.

Kapuzinergruft2 1200 Lalo Jodlbauer uEin Adelsspross erlebt den Zerfall der Monarchie: AntoN Widauer als Franz Ferdinand Trotta © Lalo Jodlbauer

Sehr interessant wird jetzt die Figur seines Gegenspielers Chojnicki, vielschichtig und spannend gespielt von Claudius von Stolzmann. Vor dem Krieg war er der Älteste in der Kaffeehausrunde und hat als einziger einen Krieg vorhergesehen. Die anderen haben ihn nicht ernst genommen. Nun, nach dem Krieg, findet Trotta ihn im Irrenhaus wieder, dem Wiener Steinhof. "Ich bin mein eigener Arzt", sagt er. "Und ich habe mir den Irrsinn als Kur verschrieben." Sein Bild taucht immer wieder vor Trotta auf und will ihn zu sich locken. Auch in der letzten Szene.

Ganz am Ende, als Trotta nichts mehr bleibt, seine Freunde und auch der letzte Freund, der jüdische Anwalt, sind geflohen und Trotta irrt in der Nacht zur Kapuzinergruft, blitzt für einen schönen Moment doch noch die doppelte Erzählstimme auf, aus dem Off erklingt ein Song zu Joseph Roths wehmütigen Worten aus einem Brief: ”wo es mir schlecht geht da ist mein Vaterland” (Bernhard Moshammer, Musik).

Insgesamt ist es eine stringente Abfolge von gut gespielten Szenen, die erzählt, wie es mit Trotta gekommen ist. Die Entwicklung der Nachkriegsgesellschaft ist luzide beschrieben, die Verschiebung der Verhältnisse bis zum Heraufkommen der Deutschnationalen klar gezeigt. Was fehlt, ist Roths Verzweiflung, die religiöse Bedeutung, die er der Monarchie zugeschrieben hat, die Todessehnsucht und die Lebensmüdigkeit der auf altmodische Art ehrbaren Menschen. Dafür scheint nur wenig Platz zu sein in der jugendfrischen Erzählweise.

Schockierendes bei "Die Präsidentinnen" von Werner Schwab

Bei der Premiere von "Die Präsidentinnen" konnte man dann in Reichenau erleben, wie ein halber Theatersaal schockiert den Atem anhält. Dass es ein Wagnis sein würde, zum ersten Mal hier ein Stück des frühverstorbenen Werner Schwab zu zeigen, war abzusehen. 1990, bei der Uraufführung, war das Stück ein Skandal gewesen – und hat Werner Schwab über Nacht berühmt gemacht. Nach drei rasend produktiven Jahren ist er dann im Alter von 35 Jahren am Alkohol gestorben.

Bereits im Vorfeld gab es Turbulenzen. Zwei der drei Darstellerinnen sind "wegen persönlicher Differenzen miteinander" aus der Produktion ausgestiegen. Die beiden Rollen wurden von Therese Affolter und der Chefin Maria Happel persönlich übernommen, um die Premiere zu retten.

Von all dem ist fast nichts zu merken. Therese Affolter hat die Mariedl schon an einem anderen Theater gespielt, aber Maria Happel musste die Erna neu einstudieren. Nach nur einer Woche Proben kommen ihr nun die verdrehten Schwab'schen Wortschöpfungen so natürlich aus dem Mund, dass es fast schon den Fremdheitseffekt der Kunstsprache untergräbt.

Johanna Arrouas, die Einzige, die von der ursprünglichen Besetzung übrig ist, behauptet sich mit Verve gegenüber den beiden in spektakulär kurzer Zeit eingesprungenen berühmten Kolleginnen. Die Regisseurin Cornelia Maria Rainer ist auch noch geblieben, eine besondere Regiehandschrift ist nicht zu erkennen, das ist bei den drei fulminanten Schauspielerinnen aber auch nicht nötig.

Praesidentinnen3 1200 Lalo Jodlbauer uIm Küchen-Nahkampf: Johanna Arrouas (Grete), Therese Affolter (Mariedl) und Maria Happel (Erna) © Lalo Jodlbauer

Spielort ist Ernas Küche. Auf der Bühne von Christof Cremer ragen auf allen Seiten beige Küchenfronten absurd hoch hinauf, ihr oberer Rand ist nicht zu sehen. Hinter zahllosen Türen verbergen sich wie bei einem Adventskalender allerlei Dinge: Flaschen, Devotionalien, Fotos, Dekoartikel.

Gefeiert wird, dass die eigentlich von Sparsamkeit besessene Mindestpensionistin Erna sich zum ersten Mal etwas geleistet hat: einen Farbfernseher. Gerade wird der Segen des Papstes aus Rom übertragen. Zu Gast sind Ernas Freundinnen, die geschiedene Grete, die "eine Lebenslust hat", und Mariedl, eine naive religiös begeisterte Klofrau, deren ganzer Stolz es ist, dass sie jede Verstopfung ohne Gummihandschuhe bearbeitet.

Erna und Grete leiden unter ihren Kindern, Ernas 40-jähriger Sohn Hermann wohnt immer noch zu Hause und weigert sich, "einen Verkehr" zu haben, weil er seiner Mutter kein Enkelkind gönnt. Gretes undankbare Tochter ist nach Australien verschwunden und schreibt seit Jahren nicht. Sie ist von ihrem Vater, einem ehemaligen Nazioffizier,  missbraucht worden, und Grete hat das zugelassen "Warten muss man und zuschauen", sagt sie "man kann ja nicht die Vorsehung bei der Gurgel packen". Kaum war die Tochter aus dem Haus, hat der Mann sie für eine 18-jährige Asiatin verlassen.

"Nazis waren hier alle!"

Johanna Arrouas thront breitbeinig auf dem Küchensessel, ständig erhitzt von den erotischen Möglichkeiten, die sie durchaus noch hätte, aber ablehnt. Maria Happels bigotte Erna beschimpft sie als Nazihur, was zu dem wunderbaren Dialog führt: "Was weißt denn du schon von Nazis, hier waren alle Nazis, alle." Worauf Erna schreit: "In diesem Land war überhaupt niemand ein Nazi! Nur der Hitler, der verführerische, das Schwein!" Therese Affolters Mariedl streicht somnambul an den Wänden entlang, mit schrecklich zerfallenem Gesicht, verwandelt sich dann plötzlich in ein lieb lächelndes junges Mädchen, wenn sie vom lieben Heiland schwärmt und davon, wie "das Glück in die Kammer ihres Herzens kommt", wenn sie zum Kloentstopfen gebraucht wird.

Praesidentinnen2 1200 Lalo Jodlbauer uGanz tief unten: Maria Happel (Erna), Therese Affolter (Erna), Johanna Arrouas (Grete) © Lalo Jodlbauer

Schockierend daran ist, dass diese Figuren ganz tief unten sind, Proletinnen oder Kleinstbürgerliche, wie Schwab sie nennt, solche, wie man sie auf der Bühne gewöhnlich nur als arme Opfer sieht, an denen man sein Mitleid üben kann. Aber die Figuren von Schwab sind keine guten Armen, sie sind dreckig, innen wie außen. Ordinär und monströs. Irgendwann zeigen sie zwar auch ihre Sehnsüchte, aber die richten sich neben dem Sex nur darauf, über die anderen zu triumphieren, es ihnen einmal so richtig zu zeigen. Erst wenn man durch die Kloake ihrer Scheußlichkeit durchgewatet ist, kann man den Schrecken darüber teilweise weglachen.

Hart im Nehmen

Außerdem schockiert die Drastik des Fäkaliendramas. Wenn Therese Affolter als Mariedl mit ihren nackten Armen sehr expressiv vorführt, wie sie ohne Gummihandschuhe tief in ein verstopftes Klo hineingreift – denn "die Mariedl machts auch ohne!" –, dann sieht man den Kot für den Rest der Vorstellung plastisch auf ihren Armen kleben und kann/muss ihn auch riechen.

In Reichenau, inmitten eines Publikums, das an so etwas ganz und gar nicht gewöhnt ist, wird einem mitten in der Welle von Ekel bewusst, dass Schwab da tatsächlich sehr extrem ist. Das ist eine enorme Provokation, so etwas hat's hier noch nicht gegeben. Als es vorbei ist, nach einer Splatter-Eskalation, gehen manche Zuschauerinnen noch vor dem Applaus hinaus, manche sitzen eine Weile ganz betropetzt da, bevor sie dann doch zu klatschen anfangen, was schließlich in einen großen Applaus mündet. Darauf beklatscht eine glückliche Maria Happel zusammen mit den beiden anderen ihr Publikum, das gerade ziemlich weit aus seiner Komfortzone herausgelockt wurde und sich dabei als hart im Nehmen erwiesen hat.

 

Die Kapuzinergruft
von Joseph Roth
Regie: Philipp Hauß, Bühne: Ezio Toffolutti, Kostüme: Erika Navas, Musik: Bernhard Moshammer, Licht: Lukas Kaltenbäck.
Mit: Anton Widauer, Nils Hausotte, Roberto Romeo, Lenya Marie Gramß, Julia Stemberger, Claudius von Stolzmann, Elisa Seydel, Tobias Voigt, Daniel Jesch, Simon Löcker, Simon Schofeld, Wolfgang Hübsch.
Premiere am 6. Juli 2023
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause


Die Präsidentinnen
von Werner Schwab
Regie: Cornelia Maria Rainer, Bühne und Kostüme: Christof Cremer, Musik: Christof Dienz, Licht: Marcus Loran.
Mit: Maria Happel, Johanna Arrouas, Therese Affolter.
Premiere am 7. Juli 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.festspiele-reichenau.at

 

Kritikenrundschau

Regisseur Philipp Hauß "liefert nicht bloß ein starkes ästhetisches Konzept aus reduzierter Ausstattung, flotter Erzählung und schnörkellosem Spiel ab. Er bringt es als Schauspielerregisseur auch mit den Darstellern unter einen Hut. Ihre Gesten sind durchdacht, bunt und individuell, ihr Ton überzeugt mit Natürlichkeit", berichtet Michael Wurmitzer im Standard (7.7.2023) und prognostiziert für "Die Kapuzinergruft": "Der klaren, ohne Kitsch rührenden Produktion aber stehen triumphale Wochen bevor."

Der Geist von Roths Roman "Die Kapuzinergruft" werde "alles in allem erfolgreich beschworen", schreibt Norbert Mayer in der Wiener Tageszeitung Die Presse (7.7.2023). "Bravo" ruft er für Hauptdarsteller Anton Widauer und das Ensemble.

"Der Geist von Roths Roman wurde alles in allem erfolgreich beschworen", berichtet Linda Maria Gutzelnig in der Presse (7.7.2023). "Das liegt vor allem am Ensemble: Anton Widauer als die zentrale Figur Franz Ferdinand Trotta hat als Akteur das Hauptgewicht zu tragen und fungiert zudem subtil als Erzähler. Bravo! Er hinterlässt den passenden Eindruck intensiver Nervosität, wenn er Episoden aus dem Leben dieses nachgeborenen Taugenichts spielt und kommentiert." Positiv hervorgehoben werden auch die "stilsicher" ausgewählten Kostüme und die mit "passend nostalgischer Musik" arrangierte Komposition von Bernhard Moshammer; das Bühnenbild hingegen "ist manchmal nicht leicht zu bespielen".

Skandal war dies wahrlich keiner, schreibt Nina Loidolt in Die Presse (10.7.2023) über "Die Präsidentinnen". "Das brave Bühnenbild und die brave Regie taten sich nicht viel an. Dem Stück daher wenigstens auch nicht." 

"So toll das Enge und Gequälte der Verhältnisse aus Bühnenbild und Kostümen von Christof Cremer quillt, so gut geölt fantasieren sich die drei hinein in ihre jeweiligen Ekstasen aus Blasmusiksex und Selchfleischbrot", schreibt Michael Wurmitzer in Der Standard (9.7.2023) über "Die Präsidentinnen". "Regisseurin Cornelia Maria Rainer inszeniert perfekte Zahnräder und lustvollstes Theater für drei."

 

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