Doderers Dämonen – Hermann Beil zeigt bei den Festspielen Reichenau Nicolaus Haggs Dramatisierung von Heimito von Doderers Roman
Wirklichkeiten wie Wursthäute
von Gabi Hift
Reichenau, 4. Juli 2016. "Hoch die dicken Damen!" Mit diesem Schlachtruf stößt eine Gruppe junger Leute, "die Unsrigen", auf ihre Weltanschauung an. Freilich sitzen auch Damen im Publikum, die genauso sind, wie Doderers Alter Ego Schlaggenberg sie sich wünscht: reif, über 45, mindestens 85 Kilo, in denen ein Feuer brennt, die bereit wären, sich in eine zweite Jugend zu stürzen. Sie lachen unsicher bei dieser ungewohnten Lobrede. Aber obwohl Kajetan/Doderer es ganz ernst meint, und sie auch genau die Richtigen wären, werden sie betrogen: auf der Bühne sind sie nicht vertreten.
Da ist alles schlank und apart. Damit hat die Inszenierung den hauptsächlichen Schwanz der Geschichte schon eingezogen."Dicke Damen" – so sollte Doderers autobiographischer Roman ursprünglich heißen.1929 hat er ihn begonnen, nach einer furchtbaren Trennung von seiner jüdischen Frau. 1936 pries er sein Werk bei den Nazis als "Dämonen der Ostmark" an – vergeblich. Nach einem "Häutungs- und Entschlackungsprozess" wurde "Dämonen" 1956 dann zu einem Triumph.
Das Publikum im Rücken
Das Bühnenbild von Peter Loidoldt besteht aus den sieben Buchstaben D Ä M O N E N aus rotem Sperrholz. Das weckt zwar Assoziationen an Futuristen und Dadaisten, aber es macht dem versuchten naturalistischen Spiel den Garaus. "An jeder Lage ist am meisten bezeichnend dasjenige, was dabei als selbstverständlich gilt. Zugleich ist es am schwersten zu erfahren", schreibt Doderer. "Selbstverständlichkeiten sind Ungeheuer, die neben uns geschlafen haben". Aber wie will man die kleinen feinen Details im Selbstverständlichen zeigen, wenn Möbel, Bäume und Passanten Holzbuchstaben sind?
Das war schon waghalsig, ein solches Ungetüm von einem Roman als Vorlage zu nehmen: 1345 Seiten, mehr als 50 Figuren; ein flirrendes Netz aus Tratschgeschichten, Anspielungen, Farben, Räumen, Kleidern, Gerüchen. Nicolaus Hagg hat 2009 bereits Doderers Strudlhofstiege dramatisiert und dafür großes Lob geerntet. Damals wurde allerdings im romantischen Südbahnhotel gespielt. Diesmal muss die Truppe unter der Regie von Hermann Beil in der Arena des Neuen Theaterspielraums antreten. Jeder hat zu immer einen Teil des Publikums im Rücken. Deshalb kreiseln alle wie die Zirkustiere umeinander und sprechen laut und überdeutlich.
Man muss sich die Reichenauer Festspiele als eine Art jährliche Protestveranstaltung denken. Hier trifft sich eine verschworene Gemeinschaft, die an das echte, wahre Theater glaubt, das "draußen in der Welt" ausstirbt. Hier soll Theater keine Sperenzchen machen, sich nicht kindisch aufpudeln oder provozieren – weil es das nämlich nicht nötig hat. Immer wieder gelingen auch Abende, in denen große Schauspieler gute Texte zum Leben erwecken, auf "alte Art", und das ist dann tatsächlich echter als das hier verachtete Authentizitätsgetue "draußen".
Aber hier, unter diesen für Naturalismus ungünstigen Bedingungen, gelingen nur den Wenigsten echte Töne. Wirklich bezaubernd ist Peter Matic als alter Herr Siebenschein. Klein und liebenswürdig opportunistisch. Seine Sätze sind lustig, weil die Wahrheit eines ganzen Menschen drinsteckt. Er braucht nichts ausstellen – er weiß, wer er ist. David Oberkogler als eines der drei Doderer-Alter Egos, René Stangeler, ist glaubhaft und interessant, wenn er sich in seine Monomanien hineinschwurbelt und wirklich nach Erkenntnis sucht. Leider fehlt ihm ein Gegenüber, weder seine Braut noch die anderen von den "Unsrigen" bringen es zu einem ausreichenden Grad von Lebendigkeit.
Fanny Stavjanik hat als Witwe Ruthmayer, wenn man von der mangelnden Körperfülle absieht, (das ist die einzige "dicke Dame" von Dutzenden im Roman, die es ins Stück geschafft hat – und die ist ganz schlank), einen erfrischend direkten Ton, – aber auch ihr fehlt der Partner. Das wäre der Sektionsrat Geyrenhoff, zukünftiger Mann der Ruthmayer und als "Chronist" der eigentliche Erzähler der Ereignisse. Den spielt Joseph Lorenz – und er ist der Liebling des Publikums.
Keine Lust auf Dicke
Die Damen jubeln ihm zu, wenn er seine Finger aneinander reibt, Hand hinterm Rücken, pausiert und sinnend in die Ferne schaut, als wär es das, wonach sie sich sehnen. Sie sind aber eben auch um ein echtes Identifitikationsobjekt betrogen worden. Denn die echte Lust auf die Dicken hat etwas Anarchisches, etwas Beunruhigendes. Die "Dicke-Damen-Theorie" figuriert als Beispiel für das, was Doderer die "zweite Wirklichkeit" nennt. Darunter versteht er alle Systeme, Ideologien oder Weltanschauungen, die den Anspruch erheben, für alle Menschen – oder mindestens eine Gruppe von Menschen – verbindlich zu sein. Darunter fallen sowohl die idealistischen wie die sozialistischen Ideologien, der Marxismus und eben auch der Faschismus.
Jene "zweiten Wirklichkeiten" müssen platzen "wie Wursthäute", wenn ein Mensch bestehen soll. Aber die Wursthaut war hier leider nicht bis zum Platzen gespannt – und wohl nicht, weil die mehr oder weniger dicken Damen es nicht vertragen hätten.
Doderers Dämonen
von Nicolaus Hagg
Bühnenfassung nach dem Roman von Heimito von Doderer
Regie: Herrmann Beil, Bühne: Peter Loidolt, Kostüme: Erika Navas, Licht: John Lloyd Davies.
Mit: Joseph Lorenz, Julia Stemberger, David Oberkogler, Sascha O.Weis, Johanna Arrouas, Fanny Stavjanik, Peter Matic, Karin Kofler, André Pohl, Thomas Kamper, Rainer Frieb, Christoph Zadra, David Jakob, Philipp Stix, Johanna Prosl, Fanny Altenburger.
www.festspiele-reichenau.com
Kritikenrundschau
Reichenau an der Rax – Heimito von Doderers 1345 Seiten zählender Roman Die Dämonen (1956) ist ein ausuferndes Gesellschaftspanorama der Zwischenkriegszeit - derstandard.at/2000040478343/Die-Wiener-Welt-von-gesternReichenau an der Rax – Heimito von Doderers 1345 Seiten zählender Roman Die Dämonen (1956) ist ein ausuferndes Gesellschaftspanorama der Zwischenkriegszeit - derstandard.at/2000040478343/Die-Wiener-Welt-von-gesternVor lauter eiligen Auf- und Abtritten wird die Bühne im Neuen Spielraum, auf die Peter Loidolt kunstgewerblerisch die sieben "Dämonen"-Buchstaben hingeworfen hat, zur Straßenkreuzung für Schauspieler. - derstandard.at/2000040478343/Die-Wiener-Welt-von-gesternVor lauter eiligen Auf- und Abtritten wird die Bühne im Neuen Spielraum, auf die Peter Loidolt kunstgewerblerisch die sieben "Dämonen"-Buchstaben hingeworfen hat, zur Straßenkreuzung für Schauspieler. - derstandard.at/2000040478343/Die-Wiener-Welt-von-gestern
Gar nicht so einfach, aus Doderers 1345 Seiten zählendendem ausufernden Gesellschaftspanorama der Zwischenkriegszeit eine Bühnenfassung zu machen - "Nicolaus Hagg hat das Beste daraus gemacht", schreibt Margarete Affenzeller im standard (6.7.2016). Er wählte 16 zentrale Figuren, auf die in der Chronik von Sektionsrat Geyrenhoff (Joseph Lorenz) zurückgeblickt wird. "In Hermann Beils ereignisloser Inszenierung fungiert dieser auch als Erzähler." Vor lauter eiligen Auf- und Abtritten werde die Bühne, auf die Peter Loidolt kunstgewerblerisch die sieben "Dämonen"-Buchstaben hingeworfen habe, zur Straßenkreuzung für Schauspieler. "Als Regiestammgast in Reichenau versucht Hermann Beil vor allem eines: mit akkuraten Szenenfolgen und Tempowechseln der Gleichförmigkeit des Kommens und Gehens entgegenzuwirken." Doch haben es die Kürzestszenen denkbar schwer, sich gegen die lähmende Motorik zu behaupten. Als Leseanregung, wie die Festspiele selbst ihr Großunterfangen verstehen, diene die Inszenierung allemal.
"Die Happy Ends wirken etwas Nestroy'sch zurechtgebogen, im Buch werden sie nicht so deutlich", so Barbara Petsch in der Presse (6.7.2016). Aber vielleicht soll dies ja auch ein Abend für trostbedürftige "Best Ager" sein. "Diese Hirnnahrung für Doderer-Fans ist nicht nur schmackhaft, sondern auch ästhetisch ansprechend angerichtet. Die Kostüme sind heuer in Reichenau besonders toll." Hermann Beil habe mit großem Gespür für Sprachmelodien und -färbungen, für Charakterisierung von Figuren durch ihre Sprache inszeniert. Fazit: "Die heurigen Aufführungen in Reichenau haben etwas von Hörspielen, sie tönen wundersam, manchmal spröde, und sie erfordern Aufmerksamkeit. Und natürlich tut man sich leichter, wenn man das Buch gelesen hat, was strapaziös, aber lohnend ist."
Peter Jarolin vom Kurier (6.7.2016) schreibt, Hagg habe eine sehr kluge, natürlich extrem gestraffte Spielfassung gefunden, die dem Roman gerecht werde und "die auch große Lust aufs (Wieder-)Lesen des großartigen Buches macht". "Natürlich muss Hagg viele Figuren und Handlungsstränge des Originals opfern." Jedoch: Wer 'Die Dämonen' kenne, werde immer wieder kurze Anspielungen auf Entfallenes finden. "Das szenische Ergebnis im Neuen Spielraum ist somit ein von Hermann Beil mit Gefühl umgesetztes, von den Schauspielern getragenes Konversationstheater." Gespielt werde meist auf hohem Niveau.
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Und dann tritt Regina Fritsch (die auch Regie führt) als schnippische, bigotte Nachbarin auf. Und mit einem Mal dreht sich alles um 180 Grad. Denn diese Person heuchelt genau das Mitleid, das man selbst grad empfunden hat. Das ist lustig weil hässlich. Sie ist spießig und böse. Regina Fritsch spielt das so brilliant, mit dutzenden, wirklich dutzenden Schichten, dass man erschrickt, vor sich selbst, vor dem, was aus einem werden könnte, wenn man nicht aufpasst. Und dann kommt Wolfgang Hübsch als Vater des süßen Mädls. Und zeigt ein ganzes Menschenschicksal, und bricht die harte Schale der Nachbarin auf. Es ist das kein „Entlarven“, keine „Aufklärung“- kein Triumph des besseren Menschen. Sondern es ist da auf einmal eine Begegnung, zwei die einander ihre Verletzlichkeit zeigen. Hübsch spielt das ganz konventionell, ein Wegkippen der Stimme, eine Pause, eine Hand zittert. Alles beiläufig, und heiter, mit diesem Wienerischen „Is ja alles nicht so schlimm“ Ton, - obwohl man weiß, dass es entsetzlich schlimm ist, sogar tödlich. Aber so leicht das daherkommt und so wenig um Originalität bemüht, spürt man doch deutlich, dass hier der Schauspieler seinen echten eigenen Schmerz für die Figur zur Verfügung stellt, - weil das sich das eben so gehört bei der Schauspielkunst. Und schon ist die Szene wieder vorbei, der Riss in der Fassade der Nachbarin schnappt wieder zu, schon ist sie wieder bös. Und man hat mitten ins Leben hineingeschaut- ganz tief. Das wars also, was Schnitzler wollte. Und die Zuschauer sind atemlos. Getroffen. Sie wehren das nicht ab, im Gegenteil, man spürt, dass sie genau das gewollt haben. Nicht nur Unterhaltung. Sondern, dass einer hineingreift in ihre Eingeweide, nur halt nicht, um die Oberfläche zu zerfetzen, sondern damit man wieder spürt, was da ist unter der Oberfläche. Damit man wieder mehr lebt.