Einmal Liebling, immer Liebling?

3. Juli 2023. Als Leiterin des Wiener Max-Reinhardt-Seminars ist Maria Happel im Juni nach Studierenden-Protesten zurückgetreten. Als Chefin der Festspiele Reichenau platziert sie zum diesjährigen Festival-Auftakt einen Nestroy-Jux, bei dem praktisch nichts schiefgehen kann. Weniger einfach liegen die Dinge beim zweiten Beitrag, einer Molière-Komödie – oder?

Von Gabi Hift

"Tartuffe" in der Regie von Guntbert Warns bei den Festspielen Reichenau © Lalo Jodlbauer

3. Juli 2023. Als erste Premiere der diesjährigen Reichenauer Festspiele hat Maria Happel im zweiten Jahr ihrer Intendanz etwas angesetzt, bei dem praktisch nichts schief gehen konnte. "Einen Jux will er sich machen" gehört zu Johann Nestroys beliebtesten Stücken. Und Robert Meyer, der hier nach seiner Zeit als Volksoperndirektor nach vielen Jahren zum Festival zurückkehrt, bei dessen Gründung er vor über 30 Jahren beteiligt war, ist ein absoluter Publikumsliebling der Wiener. Noch dazu hat er am Burgtheater im "Jux" jahrelang und vielgeliebt die Rolle des Lehrbuben Christopherl gespielt. Ich hatte im Vorfeld gedacht, dass etwas, das so ganz und gar auf Nummer sicher geht, wohl bestenfalls zu mittelprächtiger konventioneller Unterhaltung führen würde – und lag damit total falsch!

Aktueller Verzweiflungskern

Dieses Stück ist so großartig und passt so wunderbar zur heutigen Zeit, dass es keinen neuen Blick braucht. Eine genaue, liebevolle und kongeniale Beschäftigung mit dem, was Nestroy da kreiert hat, reicht völlig aus für eine großartige Aufführung. Die berühmten Zitate "Des is klassisch" (was alles von "das ist super" bis zu "das ist eine uralte Masche" bedeuten kann), und "Das schickt sich nicht!" (pikiert auszurufen, bevor man etwas dann doch tut) sind wie eh und je aus dem Sprachgebrauch der Wiener nicht wegzudenken. Ebenso unverändert aktuell ist auch der Verzweiflungskern der turbulenten Komödie: Das Scheitern des kleinen Angestellten Weinberl bei dem Versuch, aus dem Zwang des trüben Alltags auszubrechen und wenigstens einmal im Leben "ein verfluchter Kerl" zu sein.

Nestroys beißender Befund lautet, dass niemand aus dem Kerker der nie enden wollenden Arbeit herauskommen kann, weil es gar kein Außen gibt. Handel und Geld herrschen überall, auch und gerade in Liebesdingen. Das braucht leider keine Aktualisierung, das gilt heute genau wie im Wiener Vormärz. Den Mussi Weinberl zappeln zu sehen wie einen Frosch in der Milch, ist ein Riesenspaß, gerade, weil man weiß, dass man selbst in seiner Haut stecken könnte.

Überrascht vom Zaubertrick

Der Abend bietet erstaunliche Vergnügungen aller Arten. Das beginnt mit einem famosen Zweimannorchester aus Akkordeon und Tuba (Miloš Todorovski und Jon Sass), und setzt sich fort in einem verblüffenden Mechanismus, der es möglich macht, sechs verschiedene Spielorte auf der kleinen Bühne erstehen zu lassen, und das ohne Drehbühne (Bühnenbild: Christof Cremer). Was im Hintergrund zuerst wie ein gewöhnlicher bemalter Hängeprospekt erscheint, auf dem die Ladenfront des Gewürzkrämerladens – wie aus einem alten Bilderbuch entsprungen – zu sehen ist, fächert sich zu einer Reihe nebeneinander stehender, hoher Stellwände auf, die sich einzeln um ihre Längsachse drehen lassen; und schon formen ihre Hinterseiten sich zu einem neuen Bild: dem Krämerladen von innen. Aber als sich die Teile für die nächste Szene wieder zurückdrehen, erscheint wie durch ein Wunder statt des Bildes von vorhin ein ganz anderes, nämlich das Schaufenster eines Modegeschäfts. Völlig überrascht von diesem Zaubertrick, bricht das Publikum in Szenenapplaus aus. 

Einen Jux 01 805 Lalo Jodlbauer uErstaunliche Vergnügungen aller Arten: Kaspar Simonischek und Alexandra Schmidt im "Jux" © Lalo Jodlbauer 

Das ganze Ensemble brilliert. Von der größten bis zur kleinsten Rolle erlebt man höchst eigenwillige, schrullige Persönlichkeiten, die alle mit Eifer ihren eigenen Interessen nachgehen. Robert Reinagl ist ein reizend eitler, aufbrausender Gewürzkrämer, Elfriede Schüsseleder seine lakonisch hantige Haushälterin, Paula Nocker der vorwitzige, pubertierende Lehrbub Christopherl. Einzig David Oberkogler in der Rolle des Kommis Weinberl (die Rolle, die Nestroy selbst gespielt hat) bleibt ein bisschen blass. Ihm fehlt bei allem Geschimpfe über die Verhältnisse die unerschütterliche Zufriedenheit mit der eigenen Person, ohne die eine Nestroyfigur nicht aufblühen kann. Aufs Wunderbarste beherrscht dafür Robert Meyer die Fähigkeit, auf obstinate Art er selbst zu sein. Er ist in der zweiten Paraderolle, als Hausknecht Melchior, geradezu genial. Bei ihm zündet ausnahmslos jede von Nestroys Pointen, so dass man aus dem Lachen gar nicht herauskommt. Wie er die Wiener Leichtigkeit mit einer bayerischen Prise von valentinesk anarchischem Irrwitz unterlegt – das ist klassisch!

In der Stadt verfangen sich die Herren dann im Strudel einer famosen Damenwelt. Mercedes Echerer und Maxi Blaha sind vom Kostüm schamlos zu den zwei abstrusen Schreckschrauben aufgepimpt. Dieses keinesfalls politisch korrekte Manöver macht sowohl dem Publikum als auch den beiden Damen offensichtlich großen Spaß. Echerers mimt mit Aplomp die melodramatische alte Jungfer, deren riesig ausgestopfter Busen vor Leidenschaft bebt. Maxi Blaha ist mit entzückenden beschuhten Stelzenfüßen zu einer Größe von über zwei Metern aufgebockt, mit denen sie so gekonnt herumstolziert, dass der Herr neben mir flüstert: Mein Gott, die ist wirklich so groß, die ist echt. Vom Ringelspiel der Intrigenauflösung taumeln alle in rasendem Feydau'schen Tempo zurück in eine Welt aus Geld und Profiten, aus der es kein Entrinnen gab und gibt, und hinein in den Jubel des beglückten Publikums.

Wenig zu lachen

Deutlich weniger zu lachen gibt es am nächsten Tag bei "Tartuffe" von Molière in der Regie von Guntbert Warns. Auch hier ist der Star ein Publikumsliebling: Stefan Jürgens, liebster Piefke der Österreicher, hat viele Jahre in "Soko Wien" die Rolle eines deutschen Kommissars gespielt, der erst lernen muss, den Wiener Schmäh zu verstehen, und damit die Herzen der Wienerinnen erobert. Im Vorjahr hatte er in Reichenau großen Erfolg in "Des Teufels General", wofür er Publikumspreis bei der Nestroy-Verleihung 2022 gewann. Dieses Jahr spielt er nun etwas gänzlich anderes: den heuchlerischen Tartuffe.

Diese Geschichte um einen angeblich heiligen Mann, der behauptet, die verzweifelte Suche nach Sinn im Leben vieler Leute befriedigen zu können und dies zu einem lukrativen Geschäftsmodell gemacht hat, könnte hochaktuell sein. Es bräuchte dazu aber eine Idee, was man heute mit dem 400 Jahre alten Stück erzählen will, und eine solche Idee gibt es hier nicht. Es erschließt sich nicht, welcher Art die Sehnsucht des Hausherrn Orgon ist, die ihn zum leichten Fang für den Betrüger Tartuffe gemacht hat. Zu Molières Zeiten hatte die Kirche enorme Macht, die Frömmigkeit des Klerus als Heuchelei anzuprangern war damals hochbrisant und führte ursprünglich zum Verbot des Stücks. Ins Heute lässt sich das aber nicht eins zu eins übersetzen. So bleiben die Verhältnisse zwischen den Figuren unerklärlich.

1414 Tartuffe c Lalo JodlbauerDer rote Tisch als Spielfläche im "Tartuffe" © Lalo Jodlbauer

Die Aufführung kämpft auch mit der immer schwer zu bespielenden Arenabühne des "Neuen Spielraums". Die Texte der Schauspielerinnen sind von jenem Teil des Publikums, das gerade in ihrem Rücken sitzt, ohnehin schwer zu verstehen. Wenn, wie hier, viel geschrien wird, wird es noch problematischer. Und die jeweiligen Bühnenbildner müssen sich immer aufs Neue Lösungen ausdenken, damit die Figuren sich nicht ständig gegenseitig abdecken. In der Mitte des einheitlich in Rot getauchten Bühnenraums von Ezio Toffolutti steht eine riesige Tafel, an die die Figuren sich nicht nur zum Essen setzen, sondern auf die sie auch im Gespräch hinaufkrabbeln, auf der sie herumstolzieren und wo sie sich auf der Tischplatte wälzen.

Hysterischer Heulanfall, kindlicher Schmerz

Als Stilmittel herrscht das Prinzip hochtouriger komödiantischer Übertreibung. Das soll vermutlich an die Commedia dell`arte anknüpfen. Aber das damaligen Figurenarsenal entstammt einer untergegangenen Gesellschaft, zu der das heutige Publikum keinen Bezug mehr hat. So sieht man hier viel aufgeregtes Schreien und ausladende Gesten, deren Künstlichkeit sich oft nicht erschließt. Manche ziehen sich dennoch gut aus der Affäre, allen voran die mit allen Stilwassern gewaschene Stefanie Dvorak als fädenziehende Zofe Dorine. Johannes Deckenbach als Schwiegersohn in spe Valère, der sich plötzlich vom Brautvater ausrangiert und durch Tartuffe ersetzt findet, gelingt es als einzigem, in einem hysterisch übertriebenen Heulanfall auch echten kindlichen Schmerz mitschwingen zu lassen – und damit bringt er einen auch zum Lachen. Für eine Komödie, die nicht zündet, ist der Arenaspielraum auch deshalb besonders hart, weil man hinter den Schauspielerinnen immer die steinernen Gesichter der Zuschauer sieht, die einem gegenübersitzen.

Ein Trick der Regie?

Als Stefan Jürgens als Tartuffe – erst ziemlich spät im Stück – endlich auftritt, bildet er zuerst zu den anderen einen scharfen Kontrast. Er ist lässig und schnoddrig, und man denkt kurz, das Übertriebene und Unauthentische der Familie sei nur ein Trick der Regie gewesen, um Tartuffe als Einzigen zu zeigen, der wie ein echter Mensch wirken kann, und damit seine Macht zu erklären. Aber leider wird Jürgens schon bald zum selben Spielstil verdonnert wie alle anderen Figuren, und das treibt ihm schnell jegliches Charisma aus. Als Tartuffe letztendlich enttarnt wird, nützt das nichts mehr, Orgon hat ihm bereits sein gesamtes Hab und Gut per Schenkung übergeben.

Am Ende wird trotz allem lang geklatscht, vielen Leuten scheint es doch irgendwie gefallen zu haben, obwohl es kaum etwas zu lachen gab. Wer in Reichenau einmal zum Liebling erkoren wurde, der oder die muss sich wohl kaum Sorgen machen, jemals wieder aus der Gunst des Stammpublikums zu fallen. Umso mehr muss man noch einmal die großartige Arbeit würdigen, die Robert Meyer mit seiner Truppe im "Jux" geboten hat – die hätten ja unter den Fittichen des Lieblings eine g’mahte Wiesn vorgefunden, auf der sie sich sommerfrischemäßig hätten ausruhen können. Stattdessen haben sie mit soviel Liebe zu ihrer Profession gearbeitet, dass es eine große Freude bereitet, und sie haben den diesjährigen Festspielen damit einen garantierten Hit verschafft.

 

Einen Jux will er sich machen
Von Johann Nestroy
Regie: Robert Meyer, Bühne und Kostüme: Christof Cremer, Musik & Akkordeon: Miloš Todorovski, Musik & Tuba: Jon Sass, Licht: Friedrich Rom.
Mit: Robert Meyer, Robert Reinagl, Alexandra Schmidt, David Oberkogler, Paula Nocker, Elfriede Schüsseleder, Karin Lischka, Maxi Blaha, Mercedes Echerer, Kaspar Simonischek, Katharina Stefan, Philip Stix, C. Weinberger.
Premiere am 2. Juli 2023
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

Tartuffe
Von Molière
Aus dem Französischen von Ludwig Fulda
Regie: Guntbert Warns, Bühne: Ezio Toffolutti, Kostüme: Erika Navas, Musik: Bernhard Moshammer, Licht: Lukas Kaltenbäck.
Mit: Stefan Jürgens, Dirk Nocker, Emese Fay, Laura Dittmann, Skye MacDonald, Elisabeth Augustin, Michael Masula, Johannes Deckenbach, Stefanie Dvorak, Rainer Friedrichsen, Matthäus Zaborszyk.
Premiere am 1. Juli 2023
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.festspiele-reichenau.at

Kritikenrundschau

Schon lange habe niemand die Nestroy'schen "Kommerz-Kanaillen" derart "zärtlich ins Visier genommen, so einlässlich und liebend behandelt wie diesmal Robert Meyer", ist Ronald Pohl im Standard (2.7.23) begeistert. Ihm nämlich gelinge zweierlei aufs Trefflichste: "Er bewegt, in seiner Eigenschaft als Regisseur, vor den Kulissen eines bunt ausgemalten Bilderbuchs (…) entzückende kleine Karikaturen": Figuren, die in ihren Kostümen steckten "wie in Charakterpanzern" - und "tieftraurige Geschichten erahnen" ließen. Zudem überzeuge Meyer auch als Darsteller in der Rolle des "vor plebejischem Irrwitz funkelnden" Hausknechts Melchior.

"Flott, mit spielfreudigem Ensemble" inszeniere Robert Meyer diesen Nestroy, zeigt sich Norbert Mayer in der Presse (2.7.23, €) ähnlich angetan. Auch "der Mut zur Übertreibung" werde gepflegt, berichtet der Kritiker und erklärt: "Böse Possen brauchen das."

"Leider kann Regisseur Guntbert Warns nicht recht verdeutlichen, was er erzählen möchte", bedauert Ronald Pohl im Standard (3.7.23). Orgon verkörpere "das Dilemma des Frühvergreisten, der auch durch das Tragen unwürdiger Perücken kein bisschen begehrenswert" erscheine; könne er sich "noch so erotisch auf den Tisch fläzen". Auch Mutter Pernelle und Schwager Cléante blieben vage: "keine Salonlöwen, sondern Papiertiger", bilanziert der Kritiker.

Kommentare  
Tartuffe, Reichenau: Namen
Die geradezu überschäumende Begeisterung über Nestroys JUX bei den Festspielen Reichenau sei Frau Gabi Hift gegönnt, daß sie aber den Schauspieler des Valere in TARTUFFE mit dem Schauspieler des Gerichtsvollziehers verwechselt und obendrein keine Namen für den Regisseur zu haben scheint, zeugt nicht unbedingt für einen genauen Blick!
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Lieber Daniel Spitzer, haben Sie herzlichen Dank für Ihre Hinweise, die wir direkt auf unsere Redaktionskappe nehmen und umgehend korrigiert haben. Mit freundlichen Grüßen aus der nachtkritik-Redaktion, Christine Wahl
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