Freundliche Flieger

9. November 2023. Magdalena Schrefel hat die Geschichte ihres Bruders aufgeschrieben, der aufgrund einer seltenen Krankheit seit Geburt im Rollstuhl sitzt und bald seine Stimme verlieren wird: "Die vielen Stimmen meines Bruders". Ein behutsames, beglückendes Kammerspiel, das Marie Bues und Anouschka Trocker am Kosmos Theater Wien herausbringen.

Von Gabi Hift

"Die vielen Stimmen meines Bruders" von Magdalena Schrefel am – Schauspielhaus Wien © Heike Mondschein

9. November 2023.

Gib mir doch einfach meine Stimme wieder. Zumindest in der Geschichte!

Aber dann wäre es keine gute Geschichte.

Warum?

Eine gute Geschichte braucht Konflikt und Spannung und Wendepunkte und solche Sachen.

Ach was. Für mich braucht es nur ein gutes Ende, mehr nicht.

Die hier schreibt, ist die schon mit vielen Preisen bedachte Autorin Magdalena Schrefel. Der, der sich von seiner Schwester ein gutes Ende für seine Geschichte wünscht, ist ihr kleiner Bruder, Valentin Schuster. Die (wahre) Geschichte: Der Bruder ist seit der Geburt körperlich behindert und sitzt im Rollstuhl. Aber erst jetzt, hat er die Diagnose bekommen: ein Gendefekt, den außer ihm nur noch zwei Menschen auf der Welt haben, und der wahrscheinlich dazu führen wird, dass sich sein Zustand immer weiter verschlechtert und er demnächst seine Stimme verlieren wird.

Er wird eine sogenannte Sprachassistenz brauchen, eine künstliche Stimme. Dazu wünscht er sich keine Computerstimme, sondern eine menschliche. Und nicht nur eine – viele verschiedene, eine für jede Gelegenheit, eine Montagsstimme für den Alltag, eine, mit der er verführen kann, die soll in etwa so klingen wie Ryan Gosling; eine Gerechtigkeitsstimme; eine Stimme zum Streiten, eine für Wut und Verzweiflung; eine, um sich in der Familie durchzusetzen, und noch einige mehr. Das fasziniert seine Schwester, die Schriftstellerin. Sie will ihm dabei helfen, diese Stimmen zu finden und wenn es ihm recht ist, ein Stück daraus machen. Es gibt Konflikte, einen Wendepunkt und ein gutes Ende für beide – jedenfalls in der Geschichte.

Im Bann des Kammerspiels

Dass es hier nicht nur um die Geschichte des Bruders geht, sondern gleichzeitig um das gegenwärtig heißeste Eisen am Theater, die Frage der Repräsentation – “Wer darf für wen sprechen? Wer darf wen spielen?” – ist zwar völlig offensichtlich, aber es wird einem erst nach Ende der Vorstellung bewusst.

Bis dahin steht man völlig im Bann eines geradezu altmeisterlichen Kammerspiels zwischen Geschwistern. Dass das gelingt, liegt ebenso am unprätentiösen, genauen und poetischen Text wie an den beiden fulminanten Schauspieler:innen. Der Bruder spielt sich nicht selbst – obwohl das durchaus möglich gewesen wäre, Valentin Schuster ist seit Jahren in einer inklusiven Theatergruppe aktiv und hat also Übung. Aber, wie es gleich zu Anfang heißt:

DISCLAIMER: Das Sprechen strengt meinen Bruder an. Wenn er spricht, muss selbst ich ihm sehr genau zuhören. Aber dass Sie meinen Bruder verstehen, ist wichtig. Daher hat mein Bruder entschieden, sich hier von einem Schauspieler spielen zu lassen.

Es geht also NICHT um die erlaubteste Repräsentation, sondern um die, bei der ihn das Publikum am besten verstehen kann – ein Gedanke, den ich schon lange nicht mehr am Theater gehört habe.

Der Schauspieler, durch den man ihm nahe kommt, ist der junge Leonard Grobien. Er hat gerade ein Drehbuchstudium abgeschlossen. Dass er keine Schauspielausbildung hat, kann man kaum glauben, wenn man ihm zusieht. Er ist, genau wie der echte Bruder, als Folge eines Gendefekts behindert (bei ihm ist es die Glasknochenkrankheit) und sitzt seit der Kindheit im Rollstuhl.

Aber in anderer Hinsicht ist seine Situation ganz anders als die des Bruders: Er verliert keineswegs seine Stimme. Und er deutet das auch nicht im Spiel an. Ganz im Gegenteil, seine Stimme ist höchst melodisch, noch bei den traurigsten Sätzen schwingt eine kleine Belustigung über die eigene absurde Lage mit, seine Finger spielen dabei in der Luft Klavier oder trommeln munter gegeneinander.

Die vielen Stimmen2 1200 Heike Mondschein uPuppenspielerin Katharina Halus, Florentine Krafft und Leonard Grobien auf der von Heike Mondschein gestalteten Bühne © Heike Mondschein

Genauso fabelhaft ist Florentine Krafft als seine Schwester, die seit dieser Spielzeit neu am Schauspielhaus engagiert ist. Die beiden haben sich den trockenen Humor der Vorlage perfekt zu eigen gemacht und sind bezaubernd miteinander. Wenn sie sich kabbeln, necken, einander kränken, sich entschuldigen, sich in der Tiefe spürbar gern haben, kann man kaum glauben, dass das nicht ihre eigene Geschichte ist. Obwohl die beiden echten Geschwister gut sichtbar in der ersten Reihe sitzen. Am Anfang schaut man immer zwischen ihnen und den beiden, die sie repräsentieren, hin und her, aber bald übernimmt die Bühne mit ihrer stärkeren Wirklichkeit.

Casting für die passenden Stimmen

Das Ganze ist in der Inszenierung von Marie Bues und Anouschka Trocker sehr schlicht aufgebaut. Ein kleines Podest, darauf ein Stuhl für die Schwester. Eine Leinwand, auf der der Herr vom Stimmlabor sich online zuschaltet (Samuel Koch; nur die, denen der Name etwas sagt, wissen, dass der Schauspieler querschnittgelähmt ist, auf der Leinwand sieht man nur seinen Kopf – die Pointe liegt darin, dass hier ein Querschnittgelähmter sehr amüsant einen bornierten Typen spielt, der von einem Fettnäpfchen ins nächste stolpert, weil er sich nicht in einen Behinderten hineinversetzen kann – was zeigt: Jeder kann alles spielen). Die Stimmen, die gecastet werden, kommen vom Band und scheinen aus einer Maske zu sprechen, der die Puppenspielerin Katharina Halus in der Luft ein Eigenleben schenkt.

Durch die Probetexte, die die Schwester für das Casting geschrieben hat, lernt man verschiedene Aspekte des Bruders kennen: Den der entschlossen, mutig und zuversichtlich ist. Den, der verzweifelt ist, aber nicht so gezeigt werden will. Sondern lieber als Held. Den, der manchmal so traurig ist, dass er nicht sprechen kann. Den, der verlangt, sie solle ihn glänzen lassen. Den, der sich beschwert, dass immer alle den lustigen Behinderten sehen wollen, der immer einen flotten Spruch macht, nie traurig ist, alles meistert, trotzdem. Und der dabei tatsächlich witzig und charmant ist und stolz darauf. Und bei all diesen Widersprüchen, wie er denn nun von seiner Schwester darzustellen sei, welche Stimme die passende wäre, gibt es niemals eine richtige Lösung. Das Schöne ist, dass das in Bewegung bleibt, dass die Schwester sich schämt, wenn sie unaufmerksam war, aber er sagt, das braucht sie nicht.

Schöne Zukunft

Als letzte Stimme verlangt er die seiner Schwester. Nun braucht er sie nicht mehr, sie hat ihm mit ihrem Schreiben ihre Stimmen geschenkt, er phantasiert sich in große Zukünfte hinein – Polizist will er werden, Feuerwehrmann und schließlich Astronaut. Und seine Schwester und die Puppenspielerin machen es auf der Bühne für ihn wahr und lassen eine weiße Gliederpuppe im Raum schweben.

Die vielen Stimmen3 1200 Heike Mondschein uLeonard Grobien und Florentine Krafft © Heike Mondschein

Diese Aufführung ist etwas Erstaunliches: Sie ist höflich, rücksichtsvoll und freundlich. Ich hätte niemals gedacht, dass ich das einmal als Kompliment schreiben würde, aber genauso ist es gemeint. Sie drängt die Zuschauerinnen nicht in ein Mitleid, dem sie anständigerweise nicht entrinnen könnten. Sie ist nicht auf Anklage aus oder auf radikale Kritik, nur manchmal. Sie zeigt, wie es gehen kann, zwischen Geschwistern: Wer wünscht sich nicht so eine Schwester, so einen Bruder? Und zwischen Zuschauerinnen und Künstlerinnen, die einander etwas erzählen wollen, interessiert sind und vorsichtig, und sich missverstehen und dann wieder mögen. Wie er da am Ende durch sie spricht, die durch ihn spricht, der durch sie spricht – in eine riesigen charmanten Möbiusschleife des Diskurses – so könnte es doch eigentlich gehen zwischen den Menschen. Nicht gerade ein happy end, aber ein im Gespräch bleiben, nicht weil man sollte, sondern weil man Vergnügen hat an der Gesellschaft der Anderen.

 

Die vielen Stimmen meines Bruders. Ein Stück für anwesende und abwesende Stimmen und Körper
von Magdalena Schrefel, mit Valentin Schuster
Regie: Marie Bues und Anouschka Trocker, Bühne und Kostüme: Heike Mondschein, Musik: Liz Allbee, Video: Bateira, Konzeption Puppenspiel: Sarah Zastrau, Katharina Halus, Licht: Oliver Mathias Kratochwill, Ton: Christoph Pichler, Dramaturgie: Tobias Herzberg.
Mit: Leonard Grobien, Katharina Halus, Florentine Krafft, Samuel Koch (im Video). Stimmen: Martin Engler, Godehard Giese, Tobias Kluckert, Levin Çavuşoğlu, Tobias Herzberg.
Premiere am Kosmos Theater Wien am 8. November 2023
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

In Koproduktion mit dem Kunstfest Weimar und Schauspielhaus Wien

www.schauspielhaus.at
www.kunstfest-weimar.de
www.kosmostheater.at

 

Kritikenrundschau

Das Stück verhandele auf mustergültige und lockere Weise Fragen der Repräsentation, schreibt Margarete Affenzeller vom Standard (9.11.2023). Sie resümiert: "Ein sparsamer Abend, kaum sechzig Minuten, der insgesamt recht moderat verstreicht."

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