Wie kann man ein Leben ehren?

15. Juni 2023. Der britische Theatermacher Alexander Zeldin ist bekannt für hypernaturalistische Bühnenbilder, in denen sich Gesellschaftspanoramen ausbreiten. In seiner neuen Arbeit konzentriert er sich auf eine Person: seine eigene Mutter und ihre Lebensgeschichte.

Von Gabi Hift

"The Confessions" © Nurith Wagner-Strauss

15. Juni 2023. "Luceat lux vestra" steht auf der Spruchgirlande, die über dem Podest im Festsaal der Schule hängt, "Euer Licht möge leuchten". Drei junge Mädchen in billigen Ballkleidern albern herum und kichern aufgeregt, gleich werden die Gäste zum Abschlussball kommen. Eine von ihnen, Alice, will als einzige den Sprung wagen, will aus dem kleinen australischen Kaff nach Melbourne gehen und Kunstgeschichte studieren. 

Alexander Zeldin hat sich mit hyperrealistischen Sozialdramen einen Namen gemacht, nun versucht er etwas völlig anderes, eine große epische Erzählung über die ganze 80jährige Lebensspanne einer einzelnen Frau: seiner Mutter. Er hat sie viele Stunden lang interviewt, hat Vieles erfahren, von dem er davor nie gehört hatte, und aus ihren "Confessions" ein Stück gebaut. Man weiß nicht genau, was daran exakt stimmt und was dazu erfunden ist. Jedenfalls ist es atemberaubend persönlich.

Ansätze des Aufbegehrens

Die Form ist denkbar einfach: Szenen aus dem Leben von Alice folgen chronologisch aufeinander, als große, ruhige Tableaus. Sie sind nicht auf Dramatik aus, sondern auf eine möglichst wahrhaftige Darstellung der Lebensumstände einer Gruppe von Menschen an einem ganz bestimmten Ort zu einer ganz bestimmten Zeit. In Alice – unglaublich charismatisch gespielt von der australischen Schauspielerin Eryn Jean Norvill – brennt ein Funken von Eigensinn, der einen unweigerlich auf ihre Seite zieht. Man wünscht sich, sie möge sich auflehnen, den Zwängen entkommen, und herausfinden, was sie selbst sich vom Leben wünscht. Am Anfang sind es nur schüchterne Ansätze eines Aufbegehrens. Das Nichtbestehen der Aufnahmsprüfung für die Uni zwingt sie zurück zu den Eltern. Eigentlich will sie es noch einmal probieren, aber als die Mutter sie zur schnellen Heirat mit dem Verlobten drängt, denn nur mit einem Ehemann sei sie "sicher", gibt sie nach. 

Wir erleben sie in den 60ern als junge Ehefrau und Volksschullehrerin, die ihrem Mann, einem Sergeant der Airforce, der sich freiwillig nach Vietnam gemeldet hat, folgsam Cocktails mixt. Aber als er gewalttätig wird, schafft sie es, ihn zu verlassen. Es gelingt ihr, den Erlös aus dem Verkauf des Hauses zu behalten, sie zieht nach Melbourne, beginnt nun doch zu studieren und verliebt sich in ihren Professor, einen schwer trinkenden Dichter. 

Schockierende Szene, in der nichts passiert

In den 70ern, in der Künstlerszene und inmitten der sexuellen Revolution, wird sie vergewaltigt. Das ist eine qualvolle Szene, obwohl nichts davon auf der Bühne zu sehen ist. Ein Universitätsdozent, der es nicht erträgt, dass Alice über sein Spezialthema, Watteaus Pierrot, mit einem ganz eigenen persönlichen Ansatz schreiben will, macht sie zuerst öffentlich lächerlich und lädt sie dann ins Atelier eines befreundeten Malers ein. Als Alice, um seinen Zudringlichkeiten auszuweichen, auf die Toilette flieht, folgt er ihr und sagt über die Schulter zu seinem Freund mit zynischem Lachen: Es wird nicht lange dauern. 

The Confessions3 Nurith Wagner Strauss c© Nurith Wagner-Strauss

Dann passiert – nichts. Auf der Bühne nur der Maler, der darauf wartet, dass sein Schlafzimmer frei wird. Quälende Minuten lang wartet man, auf einen Schrei, einen Streit, darauf, dass sie aus dem Zimmer stürmt. Aber es bleibt still. Nach einem Lichtwechsel, es wird Morgen, kommt Alice von hinten und telefoniert mit zittriger Stimme nach einem Taxi. Mit dieser schockierenden Szene wird man in die Pause entlassen. Man kann nicht umhin zu fürchten, dass sie schwanger geworden sein könnte – und dass dieses Kind Alexander Zeldin sein könnte. Obwohl mit äußerster Zurückhaltung gezeichnet, ist das Ganze doch so intim, dass es einem den Atem nimmt. 

Liebeserklärung an beide Eltern

Zeldin hat in Interviews von seiner Bewunderung für Annie Ernaux und für Karl Ove Knausgård gesprochen. Werden hier nun auch seine schrecklichen Traumata, die er als Kind vielleicht erlebt hat, ausgebreitet?

Aber es kommt ganz anders. Geradezu umgekehrt. Nach der Pause begegnen wir Alice in den 80ern in London als geschiedene Frau. In der Bibliothek ist sie es, die einen sympathischen Herren anspricht. Und diesen verschrobenen, traumatisierten, charmanten Juden, der sein Glück nicht fassen kann, kürt sie, herrlich selbstbewusst, zum Vater ihrer Kinder. Wir erleben eine wunderbar glückliche Ehe, die bis zum Tod des Mannes nach einer schweren Krankheit nah und heiter bleibt. Und wir erleben einen Sohn, der eine so schöne Liebeserklärung an seine beiden Eltern inszeniert hat, dass man tief ergriffen davon ist. 

The Confessions1 Nurith Wagner Strauss c© Nurith Wagner-Strauss

Schon von Beginn an schaut sich eine ältere Frau die Szenen von der Seite des Zuschauerraums aus an, irgendwann kommt sie an den Rand der Bühne und man begreift, dass sie die alte Alice ist, gespielt von Amelda Brown, die skeptisch, aber interessiert dabei zuschaut, wie ihre Geschichte da auf der Bühne zu neuem Leben erweckt wird. Und in den letzten Szenen gibt es auch ein Alter Ego des Regisseurs als Kind, den pubertierenden Sohn, der beim Begräbnis des Vaters vor lauter Schluchzen nicht reden kann und weglaufen will, und die Mutter zwingt ihn sanft: Du musst jetzt etwas sagen. 

Theater als Erkenntnisinstrument

In der allerletzten Szene übernimmt die Darstellerin der alten Mutter die Rolle und kommt selbst auf die Bühne, die nun wieder der alte Festsaal der Schule ist, wie zu Beginn. Alice ist mit ihrem Sohn, der im Stück nicht Alexander, sondern Leander heißt, nach Australien gefahren, um ihm zu zeigen, wo sie herkommt. Da, wo sie damals, am Abend des Abschlussballs, so zuversichtlich und froh in ihr Leben gestartet ist, stellt sie sich auf die Bühne und erzählt ihrem Sohn von sich. "Ich mag mich selbst nicht sehr", sagt sie. Und steht da wie Watteau’s Pierrot, der in seinem weißen Kostüm ernst nach vorne aus dem Bild und aus seiner Rolle als Marionette heraustritt. "Aber du magst die Kunst", sagt ihr Sohn. "I feel like forgiveness is near" sagt sie, "es fühlt sich an, als ob Vergebung nahe ist". Und es wird dunkel. 

Die Art, wie Schauspieler:innen sich hier den dargestellten Menschen anverwandeln, hat man in dieser Ernsthaftigkeit schon lange nicht gesehen. Es wirkt altmodisch, obwohl schwer zu sagen ist, wann so eine Spielweise, oder fast eher: Seinsweise, je in Mode gewesen wäre. Andererseits wirkt es wie die Wiederkehr des Glaubens an die einfache, geradlinige Kraft des Theaters als Erkenntnisinstrument. "Die große Frage", schreibt Alexander Zeldin im Programmheft, "ist: Wie kann man ein Leben ehren?" Nach dem Abend ist die Frage beantwortet: genau so, wie er es hier gemacht hat. 

The confessions
Regie: Alexander Zeldin, Bühne, Kostüme: Marg Horwell Bewegungsregie, Choreografie: Imogen Knight, mit Musik von: Yannis Philippakis, Sounddesign: Josh Anio Grigg, Casting: Jacob Sparrow, Regieassistenz: Joanna Pidcock, Unterstützung Dramaturgie: Sasha Milavic Davies, Stimmcoach: Cathleen McCarron, Produktionsleitung: Faye Merralls.
Mit: Joe Bannister, Amelda Brown, Jerry Killick, Lilit Lesser, Brian Lipson, Eryn Jean Norvill, Pamela Rabe, Gabrielle Scawthorn, Yasser Zadeh Licht Paule Constable.
Produktion A Zeldin Company / Compagnie A Zeldin
Ein Auftragswerk von National Theatre of Great Britain (London), RISING Melbourne, Théâtres de la Ville de Luxembourg, Koproduktion: Wiener Festwochen, Comédie de Genève, Odéon-Théâtre de l’Europe, Centro Cultural de Belém, Théâtre de Liège, Festival d’Avignon, Festival d’Automne à Paris, Athens Epidaurus Festival, La Fondazione Piccolo Teatro di Milano– Teatro d’Europa, Adelaide Festival, Centre Dramatique National de Normandie-Rouen
Wien-Premiere: 14. Juni 2023
Dauer: 
3 Stunden, eine Pause

www.festwochen.at

 

Kritikenrundschau

Dauerhafte Spannung bescheinigt Margarete Affenzeller der Inszenierung im Standard (16.6.2023), sie bleibe "überraschend bis zum Schluss". Die "fast filmisch gedachte Dramaturgie und Erzählweise" trage Alexander Zeldins Produktion gut durch den Abend. Die Aufführung löse damit ein, was der Theatermacher vorab beteuert habe, urteilt die Kritikerin: "`The Confessions' lässt es menscheln. Ein einfaches Privatleben, mit realer Vorlage, erklimmt hier erfolgreich den Thron einer Bühne und wird so Politik."

Dass die Aufführung funktioniere, obwohl Alexander Zeldin – im Gegensatz zu früheren Arbeiten – an diesem Abend das Theater "alles andere als neu erfindet", liege vor allem an der "äußerst charismatischen Hauptdarstellerin" Eryn Jean Norvill und den weiteren fantastischen Schauspielprofis, findet Martin Thomas Pesl auf DLF Kultur (14.6.2023). Dennoch: "Wenn man den Hyperrealismus und dieses Direkte und die Arbeit mit den Laien weglässt" – wie der Theatermacher es bei "The Confessions" getan habe – "dann ist das, wenn wir ehrlich sind, ziemlich konventionelles Theater", urteilt der Kritiker. "Aber darin ist es halt auch konsequent und handwerklich richtig gut".

"Zeldins Anliegen ist rundum sympathisch", attestiert Petra Paterno dem Theatermacher in der Wiener Zeitung (15.6.2023). "Rundweg geglückt" sei sein jüngster Abend allerdings nicht. Zeldin schlage mit "The Confessions" neue Wege ein - auf denen "bereits Hochbetrieb" herrsche. Was er "auf die Bühne hievt, ist in der Literatur längst angekommen" gibt die Kritikerin zu bedenken und nennt diverse Autorinnen, die sich dem autofiktionalen Erzählen seit langem "auf komplexerem Niveau" widmeten. Auch szenisch bleibt die Inszenierung "aufgrund ihrer selbstverordneten, passagenweise durchaus stimmigen Unaufgeregtheit (…) in der Gleichförmigkeit stecken, was bei einer Dauer von drei Stunden unvermeidlich zu Längen und Durchhängern" führe.

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