Schwere Kost

22. September 2023. Dass es Schokolade im Supermarkt gibt, freut die meisten. Die Gründe dafür sind weniger süß. Dominique Ziegler gräbt in die Geschichte der Schokoladenproduktion, die von Ausbeutung und Entmenschlichung handelt. Mit einem internationalen Ensemble hat er das Auftragswerk selbst inszeniert.

Von Valeria Heintges

"Choc! Die Süßigkeit der Götter" am Theater Biel-Solothurn © Joel Schweizer

22. September 2023. Das Museum ist geschlossen. Die schönen Bildchen und Filmchen von glücklichen Kühen und glücklichen Kindern, schwarzen und weißen einträchtig nebeneinander, das schöne Gerede von Toleranz und Respekt – all das ist leider heute nicht mehr zu erleben. Erst morgen wieder. Was nun? Die Kassiererin ist freundlich und bietet an, Vater und Tochter "la vraie histoire du chocolat", die wahre Geschichte der Schokolade, zu zeigen. Die handelt nur leider weniger von Toleranz und Respekt und friedlichem Nebeneinander. Sondern von Sklaverei, Ausbeutung, Landzerstörung, Kinderarbeit und Börsenkursen. Und von Macht und von Ohnmacht. 

Wunderbar doppeldeutig "Choc!", als Abkürzung von Chocolat und französisches Wort für Schock, hat der westschweizer Regisseur und Autor Dominique Ziegler sein Theaterstück genannt, das er nach drei Jahren Recherche als Auftragswerk für das Theater Orchester Biel Solothurn schrieb und auch gleich dort inszenierte. Es passt zur Thematik, dass auch auf der Bühne ein Sprachendurcheinander von Französisch, Hoch- und Schweizerdeutsch, ein wenig Englisch und diversen afrikanischen Sprachen, darunter Ashanti, Guiziga und Bété, gesprochen wird.

Berglandschaften und Börsenkurse

Denn Zieglers Erzählbogen folgt einer Chronologie durch die Geschichte der Kakaoproduktion. Beginnend 1519 bei Quetzalcoatl und dem Getränk der Götter im mexikanischen Tenochtitlán über Sklavenhandel, Kolonialismus, bleibende Verstrickungen der ehemaligen Kolonialmächte und endend in der Gegenwart mit Markenbotschafter Roger Federer. Dazwischen liegen Stationen beinahe auf der ganzen Welt, mit Schwerpunkt in Afrika, Europa und natürlich in der Schweiz. 

Abrechnung mit der Geschichte. Von links nach rechts: Jean-Alexandre Blanchet, Fidèle Baha, Clovis Kasanda, Mbilé Yaya Bitang © Joel Schweizer

Für dieses Dokumentartheater hat Siegfried Mayer hinter den vorderen noch einen zweiten Vorhang gebaut und dahinter eine variable Szenerie mit Hauswand, Wellblechdach und einer zweiten, rissig gewordenen Wand, die sich so auseinanderklappen lässt, dass die Risse wahlweise zu Bergsilhouetten oder wilden Börsenkursen werden können. Sehr engagiert spielen neben den beiden TOBS-Ensemblemitgliedern Janna Mohr und Gabriel Noah Maurer die hauptsächlich frankophonen Gäste Mbile Yang Bitang als sprachgewaltige Moderatorin des Alternativ-Museums und Fidèle Baha, Jean-Alexandre Blanchet, Emmanuel Dabbous, Clovis Kasanda und Hyacinthe Brika Zougbo in zahlreichen Rollen.

So schlimm? Noch schlimmer!

So ist Dabbous etwa der spanische General Cortés, der Schweizer Unternehmer Faesch, Ingenieur Guisan und Präsident Mitterand, während Fidèle Baha in blauer Monarchenrobe Louis XIV verkörpert, aber ebenso den Freiheitskämpfer Sankara. Die Besetzung ist colourblind, und es wirkt nur noch brutal-absurder, wenn der schwarze Schauspieler Baha als Louis XIV rücksichtslos die Sklaverei forciert und dann mit seinem Minister Colbert, hier ebenfalls schwarz, den Code Noir verabschiedet. (Artikel 44 definiert Sklaven als "meubles", Möbel, bewegliche Gegenstände, Artikel 38 erlaubt, dem entflohenen Sklaven die Ohren, beim zweiten Versuch den Fuss abzuschneiden und ihn beim dritten Mal zu töten). 

Choc1 1200 Joel Schweizer uEine auf Entmenschlichung basierende Erfolgsgeschichte. Von links nach rechts: Hyacinthe Brika Zougbo, Mbilé Yaya Bitang, Fidèle Baha, Jean-Alexandre Blanchet © Joel Schweizer

Natürlich kann es in den sehr zugespitzten, zum Teil minikurzen Szenen, für die ebenfalls Siegfried Mayer unzählige Kostüme bereitgestellt hat, kaum gelingen, Charaktere zu zeichnen. Weniger wäre da manchmal mehr gewesen. Auch wirkt die Rahmenhandlung ein wenig drangeklebt, zumal die Museumsgäste Vater und Tochter bald genötigt werden mitzuspielen, auch wenn sie immer wieder zurückfinden und dann das Gebotene miesepetrig kommentieren: Mal ist ihnen alles "un peu lourd", etwas gar schwere Kost, und sie fordern ein bisschen mehr leichte Unterhaltung. Oder sie behaupten entrüstet: "So schlimm kann es doch gar nicht gewesen sein." Und ernten nur ein lapidares "Stimmt. Es war noch viel schlimmer." 

Geniales Marketing

Doch gelingt es dem wichtigen und mutigen Abend, der seine Thesen im Programmheft mit Zahlen belegt, auch dem letzten klarzumachen, dass das Geschäft mit der Schokolade alles andere als süß ist. Sondern funktionierte und funktioniert, weil früher das Leben eines Sklaven und heute das Leben eines afrikanischen Kindes in der Elfenbeinküste (44 % der Kakaoproduktion) oder Ghana (14,3 %) wenig bis gar nichts zählt. Weil sich früher die Sklavenhändler, später die Kolonialmächte und heute Lebensmittelgroßhändler wie Cargill (Gesamtumsatz: 165 Millarden Dollar) oder Konzerne wie Nestlé daran bereichern. Und weil Verbraucher:innen sich mehr an der Süße der Schokolade freuen als an den unfairen Produktionsbedingungen stören.

Und warum ist gerade die Schweizer Schokoladenindustrie so bekannt? Zieglers Antwort: Weil Schweizer Händler und Unternehmer von Anfang an im Handel involviert waren. Und weil hierzulande das Schokoladenmarketing erfunden wurden: Alle anderen Hersteller warben mit schwarzen Kindern, die weiße Familien mit Schokolade bedienen und glücklich machen. Nur die Schweiz machte die Geschichte unsichtbar und warb – wirbt bis heute – mit ihrem Idyll von Bergen, Seen und Kühen. Kühe riechen im echten Leben zuweilen ein wenig nach Mist. Aber wenn ihr Bild auf Papier gedruckt ist, kann man den Mist nicht riechen.

Choc! – Die Süssigkeit der Götter
von Dominique Ziegler
Uraufführung
Inszenierung und Text: Dominique Ziegler, Bühnenbild und Kostüm: Siegfried Mayer, Übersetzung und Beratung: Anna Magdalena Fitzi, Musik: Graham Broomfield, Produktionsleitung: Stefanie Günther Pizarro, Regieassistenz und Inspizienz: Joëlle Anina Müller.
Mit: Mbilé Yaya Bitang, Janna Mohr, Fidèle Baha, Jean-Alexandre Blanchet, Emmanuel Dabbous, Clovis Kasanda, Gabriel Noah Maurer, Hyacinthe Brika Zougbo.
Premiere am 21. September 2023
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.tobs.ch 

 

Kritikenrundschau

"In den rund zwei Stunden gelingt es Ziegler, diverse Kapitel seiner komplexen Recherche aufzuschlagen", schreibt Céline Graf in der Berner Zeitung (23.9.2023). "Obwohl der Abend durch Sprachen, Jahrhunderte und Schauplätze saust, behält man meistens den Faden", schreibt die Kritikerin. "Im Saal wechseln sich Lachen und empörtes Schnauben ab. Nicht umsonst steckt der Sohn des marxistischen Soziologen Jean Ziegler hinter dieser kritischen wie wütenden Inszenierung." Im Ganzen: eine "bitterböse Satire, die auch in den heiteren Momenten glänzt" und "ins Bewusstsein" schneidet.