Wo Dachs und Leopard keine Panzer sind

17. November 2023. Die Autorin Natalia Blok floh 2022 aus Cherson in die Schweiz. Ihr Sohn blieb in der besetzten Stadt zurück und widersetzte sich auf seine Weise dem Grauen. Jetzt hat sie ihm ein Stück gewidmet. Peter Kastenmüller hat es zur Uraufführung gebracht – und plötzlich steht auch der Zurückgelassene selbst auf der Bühne.

Von Leonard Haverkamp

"Das Leben ist unaufhaltsam" in der Regie von Peter Kastenmüller am Theater Basel © Lucia Hunziker

17. November 2023. Was nimmt man mit auf die Flucht? Im Falle Matwijs (Fabian Dämmich) sind es sechs oder sieben Winterjacken, die er hektisch übereinander streift, so wie zwei Mützen über eine Sturmmaske. Im selben Moment erklärt ihm seine Freundin Orysja (Elif Duygu Karci), dass sie doch nicht mit ihm nach Kyjiw fliehen wird – während er auf seinen Schwellfüßen aus Sockenschichten armerudernd über die Bühne schlittert. 

Provokation durch Humor

In "Das Leben ist unaufhaltsam" erzählt Natalia Blok die Geschichte ihres Sohnes Matwij, der in Cherson eingeschlossen ist, während sie selbst nach Basel fliehen konnte. In der "Heldenstadt" wehrt sich Matwij mit spielerischem Trotz gegen die russischen Angriffe, engagiert sich im Widerstand und filmt, was er in Cherson erlebt. Die Inszenierung von Peter Kastenmüller kann als Versuch gesehen werden, die von Tausenden Kriegsbildern abgestumpften Augen der Zuschauer*innen mit Humor zu provozieren – am Ende bleibt aber eher ein Stirnrunzeln der unguten Art.

Wer Roberto Benignis "Das Leben ist schön" gesehen hat, weiß, dass das Spielen und auch Albernheit helfen können, sich selbst den größten Gräueln zu nähern. Einen ähnlichen Ansatz kann man in Natalia Bloks "Das Leben ist unaufhaltsam" sehen. Wenn die ukrainische Theaterautorin ihren Sohn seiner Tante sagen lässt, sie könne ja fliehen, er werde dann auf ihre Katze aufpassen und der vielleicht das Rauchen beibringen. Oder zu seiner Orchidee Phalaenopsis Stepan: sie solle doch endlich aufblühen, "sonst fällt noch eine Bombe auf uns und du hast nicht mal geblüht". Dann muss man trotz der Komik schlucken.

Wenn dann aber sein Gegenüber bei den Worten "Atombombe. Putin. Bumm" lächelt, wie ein Kind, das gerade einen leisen Furz gelassen hat, ist das eher befremdlich. Schnell klingt dann das: "Ukrainer ergeben sich nie!", bei dem alle Spieler*innen die Fäuste in die Luft strecken, nach "Ein Indianer kennt keinen Schmerz".

Das Leben ist unaufhaltsam, Schauspiel, Theater Basel, November 2023, Foto Lucia Hunziker"Atombombe. Putin. Bumm" © Lucia Hunziker

Das scheint dann auch dem Mann in schwarzer Kapuzensweatermontur am Regietisch vorne links nicht mehr zu passen. Mit einem "Cut" bricht er den Klamauk, um Peter Knaack (der Matwijs Freund Maksym spielt) dann wie ein Aufziehmännchen mehrmals von vorne beginnen zu lassen. Von Szene zu Szene wird immer deutlicher, wer hier am Regietisch sitzt. Es ist Matwij Kushnar selbst, der scheinbar doch irgendwann die Flucht ergriffen hat und jetzt hier in Basel mit seiner Kamera die Inszenierung seines Chersoner Lebens filmt.

Kollektive Autofiktion

Schon zuvor haben Projektionen Aquarell-wabernder Bilder und KI-generierter Echos der Spielenden ein Hinfortfühlen in die Stadt nördlich der Krim ermöglicht. Ab und zu konnten sogar dieselben Bilder mit Matwij und seinen Freunden geteilt werden – wenn sie das Onlineactionspiel "Dota" zocken und sich dabei zum Dinner verabreden. Wirklich berührend wird es aber erst, als ein Kurzfilm Kushnars gezeigt wird: "Matwijs Traum" zeigt das Hadern mit der Flucht, dem Ankommen in der Schweiz und auch den Probenprozess, in den der Filmemacher hineingeworfen wird.

Immer wieder stellt sich die Frage, wie nah das Geschehen auf der Bühne der Realität in der besetzten Stadt kommt. Hier steht der vor dem Krieg geflüchtete Matwij Kushnar neben Schauspieler Fabian Dämmich, der ihn spielt. In einer Version seines Lebens, das seine Mutter Natalia Blok in der Ferne verschriftlicht hat, inszeniert durch Peter Kastenmüller, einem in Deutschland geborenen Theaterregisseur. Die kollektive Autofiktion lässt uns den Krieg in seiner Alltäglichkeit und Absurdität erleben und erhebt – untermauert durch die Biografien Kushnars und Bloks – einen gesteigerten Wahrheitsanspruch.

Erschwertes Eintauchen

Gleichzeitig liegt auf ihr die sichtbare Schicht der Inszenierung, die ein Eintauchen erschwert. Beispielsweise während Matwijs Tante in einer Videonachricht erzählt, dass ihre Katze 20 Leoparden geworfen hat, diese sich aber leider nicht mit dem Dachs verstehen, "weil der halt kein Truppenpanzer ist", verliert einen der Monolog an ihr Kopftuch aus Luftpolsterfolie. Zu viel Theater. Immer wieder muss man sich fragen, ob Gedanken wie "der Natur sind Kriege egal" aus dem Kriegsgeschehen nach Basel transportiert wurden – oder hier abstrahiert und nach Cherson zurückprojiziert.

Die theatralen Elemente schaffen – trotz ihrer oft gelungenen Ästhetik – mehr Ablenkung als Reflexionsraum. Am Ende liegt auch die Frage in der Luft, wer sich über das Absurde in der Katastrophe lustig machen darf. Der, der den Krieg erlebt hat, wirkt beim Applaus jedenfalls eher ernst. Rechts neben ihm verbeugt sich Fabian Dämmich um so routinierter und lächelt dem Publikum zu. Irgendwie sinnbildlich für diesen Abend.

Das Leben ist unaufhaltsam
von Natalia Blok
Aus dem Ukrainischen von Lydia Nagel
Regie: Peter Kastenmüller, Bühne und Kostüme: Alexander Wolf, Video: Jan Speckenbach, Live-Kamera und filmischer Beitrag: Matwij Kushnar, Lichtdesign: Stefan Erny, Roland Heid, Dramaturgie: Inga Schonlau, Angela Osthoff.
Mit: Carina Braunschmidt, Fabian Dämmich, Elif Duygu Karci, Peter Knaack.
Premiere am 16. November 2023
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.theater-basel.de

 

Kritikenrundschau

"Kriegsverbrechen ist ein fast sachliches Wort für das, was in der Ukraine passiert. Dieser Abend will weder einen realen Eindruck davon geben noch uns Erleichterung verschaffen, er ist eher ein Akt der Selbstbehauptung", schreibt Annette Hoffmann von der Badischen Zeitung (21.11.2023). "Es ist ja immer ein bisschen obszön, sich auf einigermaßen bequemen Theatersesseln einen Krieg anzusehen." Peter Kastenmüller nehme einem diese moralische Klemme nicht. "Er verfremdet das unmittelbare Zeitgeschehen durch Dopplungen, durch Computerspiele und, ja auch durch Humor."

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