In Watte gepackt

16. Dezember 2023. Ihre von Kafka-Texten inspirierte spartenübergreifende Inszenierung nennt Choreografin und Regisseurin Saar Magal im Untertitel "Tanz und Schauspiel über die Lächerlichkeit des menschlichen Bemühens". Dabei gibt es hier einiges Hochvirtuose zu sehen und zu hören.

Von Tobias Gerosa

"Ein Kafka-Projekt" © Ingo Hoehn

16. Dezember 2023. Kafkaesk kann nicht nur Literatur, das Original sein: Wenn Regisseurin und Choreographin Saar Magal am Theater Basel ihr Kafka-Projekt mit dem einfallsreichen Titel "Kafka-Projekt" zeigt, stehen die Texte Franz Kafkas nicht im Zentrum, auch wenn der Angeklagte und der Bittsteller K. immer wieder auftauchen und auch die Hauptfigur aus dem "Bau" und schließlich sogar das ungeheure Ungeziefer, als das sich Gregor Samsa in der "Verwandlung" wiederfindet.

Gefängnis aus Schubladen

Saar Magal und ihr Team erzählen nicht die Geschichten, sondern setzen suggestiv und dicht Stimmungen um. Alles wirkt dabei gleichzeitig sehr präsent wie seltsam unwirklich – kafkaesk eben. Kann man mehr wünschen?

Die Bühne, die Magal zusammen mit Marie Roth gebaut hat, wirft die Figuren in ein gefängnisartiges Archiv. Bis unter die Decke bestehen die Wände aus Schubladen. Was darin sein mag? Welche sich überhaupt öffnen lässt, wirkt unberechenbar. Einmal klettert ein tanzender Fellknäuel aus einer, dann fährt aus einer andern ein langer Korpus (für die übersexualisierten Assistenten des Inspektors in ihren knallroten Highheels und Handschuhen). Hinter den Griffen verbirgt sich aber auch eine Art Zelle oder heller Museumsraum für den Liebeskampf des Schloss-K., der in Textschleife gleich mehrfach "Stunden des gemeinsamen Atmens" erleben darf.

Vor allem aber funktionieren die Schubladen wie eine Kletterwand. Immer wieder hangeln sich die sechs Performer:innen daran hoch (bei Matias Rocha Moura sieht das leicht aus, wie wenn unsereiner über die Straße geht), versuchen zu flüchten oder sich einen geschützten Platz zu erklettern.

Die Grenze zwischen Mensch und Tier

Denn was in diesem Raum passiert, wer da nun meist ohne Worte Macht über sie hat, verstehen sie nicht. Herr K. (meist Schauspieler Julian Anatol Schneider, der die meisten Texte spricht) versucht, von fünf stummen Verfolgern, die ihn tänzerisch bedrängen, zu erfahren, warum er verhaftet wurde. Auch andere Figuren scheitern daran, mit ihren Mitteln die Situationen zu verstehen oder zu lösen, in die sie geworfen sind. Die körperliche Direktheit von Magals Choreographie schafft auch die bei Kafka verschwimmende Grenze zwischen Mensch und Tier, ein szenisch heikles Thema, völlig schlüssig und beunruhigend einzubinden: Ohne je die Maus oder das ungenannte Tier aus dem Bau nachzuspielen, ändern sich die Bewegungen und Begegnungen der Figuren, werden Blicke tierischer und menschliche Abstandsregeln aufgehoben. Klar, dass vor allem die TänzerInnen (die allerdings durchaus auch sprechen) diese wie in den Texten feinen Differenzierungen darstellen.

Glamouröse Anzugträger © Ingo Hoehn

Zentrale Rolle in der Erzeugung der Stimmung hat die Musik. Lena Geue und Pablo Gīw leiten vom Bühnenrand mit viel Elektronik und analoger Trompete auch die allermeisten Szenenwechsel. Wie sie vom (scheinbar?) einfachen Hintergrundgeräusch Atmosphären abwandeln, durch sich einschleichende Beats den Rhythmus des Geschehens verändern, ist mehr als nur Begleitung. Genauso gut sind songartige Passagen in die Dramaturgie eingebunden – Adaya Berkovich deckt dabei ein sehr breites Spektrum an Ausdruck ab.

Wohlig kafkaesk

Kann man mehr wünschen, als wie hier Sound, Bilder, Körperlichkeit und unterstützend Textfragmente und damit die so oft getrennten Sparten zusammenkommen? Vielleicht wird die Bedrohlichkeit in den letzten Szenen des auf die gerade richtige Länge gebrachten Abends etwas zu sehr in Wohligkeit aufgelöst. Der nur online, aber im Programmheft nicht verwendete Untertitel "Tanz und Schauspiel über die Lächerlichkeit des menschlichen Bemühens" bringt das ganz gut auf den Punkt. 

Zum Klangbaden schön der bittersüße Chorsong, zu dem schon fast discomäßig farbige Lampen vom Bühnenhimmel schweben; flauschig warm die Watte-Massen, die aus einer der Schubladen fließen, die vorher spiegelnd glatte Bühne bedecken; eher putzig als ekelhaft die Heuschrecke als Ungeziefer und schließlich gelingend: die Flucht mit dem Schluss der Erzählung "Der Bau". Wenn die Welt in diesem Sinn kafkaesk ist, kann man es darin aushalten.

Ein Kafka-Projekt
nach Franz Kafka 
Konzept & Inszenierung: Saar Magal, Bühne: Marie RothSaar Magal, Kostüme: Marie Roth, Komposition & Livemusik: Lena GeuePablo Gīw, Choreographie: Saar Magal, Lichtdesign: Vassilios Chassapakis, Dramaturgie: Kris Merken.
Mit: Adaya BerkovichVera FlückMason Manning,Matias Rocha Moura,Julian Anatol SchneiderLukas Magnus Paulsteiner.
Premiere am 15. Dezember 2023
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

Fabienne Naegeli vom SRF (18.12.2023) zeigt sich beeindruckt von der akrobatischen Kletterei an den Schubladen. "Und auch die szenischen Bilder, welche die Performer und Musiker kreieren sind einnehmend und ausdrucksstark." Inhaltlich lasse der Abend die Kritikerin jedoch ratlos zurück. Zu viele Werke würden nur zitiert. "Kurzum: Die Inszenierung lässt einen eintauchen in den Bilderkosmos von Kafka, in Stimmungen von Kafka, aber mehr nicht."

"Etwas Ähnliches wäre wohl auch herausgekommen, hätte man ChatGPT nach einem möglichst kafkaesken Bühnenbild gefragt", bemerkt Florian Oegerli von der bz (18.12.2023) spöttisch in Bezug auf das Bühnenbild. "Das ist aber nur ein kleiner Wermutstropfen, kraxeln und turnen die sechs Darstellenden doch so akrobatisch an diesen Elementen herum, dass man sich beinahe im Cirque du Soleil wähnt." Und weiter: "Doch so abwechslungsreich und unterhaltsam 'Ein Kafka-Projekt' auch ist, fragt man sich am Ende, was das Stück genau möchte. Zwar vermag es die durchschnittliche Kafka-Leseerfahrung gut zu illustrieren – aber das war es dann auch schon so ziemlich."

Bettina Schulte von der Badischen Zeitung (18.12.2023 )schreibt: "Ästhetisch ist alles ganz herrlich ausgeklügelt und schon allein wegen des Crossover-Ansatzes auf der Höhe der Zeit. Doch eine gedankliche Auseinandersetzung mit der vertrackten Prosa Kafkas lässt sich eher nicht erkennen. Die Bedrohlichkeit der Systeme der Macht ist wie weggelasert."

"Sämtlichen Werken von Kafka gemeinsam ist das Leiden unter fremdbestimmten, undurchschaubaren Strukturen. Und genau diese Gemeinsamkeit arbeitet das spartenübergreifende Kafka-Projekt vorzüglich heraus an einem 80-minütigen Abend der Verwandlungen innerhalb eines zwanghaften Systems", so Siegbert Kopp vom Südkurier (19.12.2023). "Hier wird Kafka nicht einfach dramatisiert und dann nachgespielt, dieser Abend ist selber kafkaesk. Er ist ein eigenständiges Gesamtkunstwerk aus Tanz, Schauspiel und Musik: Theater, das mit seinen eigenen Mittel durchaus das Niveau des Schriftstellers erreicht."

 

 

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