In Zwickmühlen und Zweifeln

2. November 2023. Mit Robert Ickes "Professor-Bernhardi"-Überschreibung führt sich Barbara-David Brüesch als neue Schauspieldirektorin ein – und unternimmt den hehren Versuch, unsere ganze komplexe Gegenwart in einen einzigen Abend zu packen. Wie weit lässt sich damit in zwei Stunden kommen?

Von Erich Nyffenegger

"Die Ärztin" in der Regie von Barbara-David Brüesch am Theater St. Gallen © Jos Schmid

2. November 2023. "Es ist erst vorbei, wenn es eine Leiche gibt." Dieser Satz – gesprochen von der Ärztin Prof. Ruth Wolff – schimmert in Barbara-David Brüeschs Inszenierung aus sehr verschiedenen Blickwinkeln. Einerseits aus jenem der Medizinerin, die den Totenschein erst dann ausstellt, wenn der Patient sein Leben tatsächlich ausgehaucht hat. Andererseits am Ende des Stücks, wenn die Protagonistin des Werks von Robert Icke, erschöpft von einer öffentlichen Treibjagd, über die Möglichkeit des eigenen Selbstmords nachdenkt.

Zwischen diesen beiden Momenten verdichten die St. Galler so gut wie jedes als "woke" apostrophierte Gegenwartsthema und treiben damit ein derartiges Verwirrspiel, dass nach der Pause ein relevanter Teil des Publikums darauf verzichtet, sich in Fragen von Geschlechter-Identität, Rassismus, Diversität, Sterbehilfe, Katholizismus, Medizinethik und Antisemitismus weiter belehren zu lassen.

Zwickmühlen und Zweifel

Robert Ickes Text basiert sehr frei auf Arthur Schnitzlers Drama "Professor Bernhardi": Die 14-jährige Emily liegt aufgrund einer Sepsis infolge einer missglückten Abtreibung in der Klinik der Ärztin Ruth Wolff im Sterben. Den katholischen Priester, den die Eltern des Kindes senden, weist die Medizinerin ab. Sie will verhindern, dass Emily durch die Sterbesakramente erkennt, dass es um sie geschehen ist und ihre letzten Momente auf Erden in Angst und Panik verbringen muss. Wolff ist Jüdin, wodurch sie eine Angriffsfläche bietet, die der durch den Priester aufgewiegelte Internet-Mob antisemitisch attackiert. Die Hauptfigur der Ärztin zahlt für ihre Integrität und den aus ihrer Sicht bedingungslosen Einsatz für ihre Patientin einen hohen Preis. Wobei im Laufe des Stücks ihre Gewissheiten ins Wanken geraten. Aus einem ganzen Strauß moralischer Zwickmühlen geht sie mit Zweifeln hervor, die die fachlich unangreifbare, menschlich aber durchaus kritisierbare Ruth Wolff fortan in ihrer Existenz erschüttern.

DieAerztin1 JosSchmidEin Klinikalltag, in dem Gewissheiten ins Wanken geraten © Jos Schmid

Die großartige Bühne von Alain Rappaport greift das Motiv des Schwarz-Weiß-Denkens in den Kontrasten hell erleuchteter weißer Klinikräume und dunkler Fassaden auf. Gleich auf drei Drehbühnen wechseln diese Sujets dynamisch im frisch sanierten Theater St. Gallen. Doch die stimmige Optik löst die Inszenierung nicht mit stimmiger Handlung ein. Das liegt vor allem am Ansatz der Regisseurin, die Figuren in eine Gegensätzlichkeit zu zwingen, die keine inszenatorischen Zinsen abwirft: Der als dunkelhäutig eingeführte katholische Priester wird von einem weißen Schauspieler dargestellt, im Text weiß angelegte Personen sind auf der Bühne dunkelhäutig. Männlich oder weiblich gelesene Figuren sind entweder weiblich oder queer – also in ihrer Identität nicht eindeutig zuordenbar: Ein Konzept übrigens, das Robert Icke in seiner eigenen Wiener Inszenierung des Textes letztes Jahr am Burgtheater ähnlich verfolgt hatte. Die Botschaft dahinter lautet wohl, dass es egal sein sollte, welche Hautfarbe, welches Geschlecht, welche Religion und welche sexuelle Orientierung jemand besitzt. Aber wenn alles egal ist, dann ist am Ende tatsächlich alles egal. Und was bleibt, ist eine Beliebigkeit, hinter der sich die hehren Botschaften von Toleranz und Akzeptanz in totaler Unschärfe auflösen.

Widersprüchlichkeit des Menschseins

Und wie bewältigt das Ensemble – mit neuen Gesichtern – dieses szenische Dickicht? In der Titelrolle glänzt Diana Dengler mit eindringlicher Wahrhaftigkeit. Ihre Schwankungsbreite zwischen selbstsicherer Chefärztin und selbstzweifelnder Frau, die am Ende an den eigenen Prinzipien scheitern muss, dekliniert sie mit Trotz und Tränen als Widersprüchlichkeit des Menschseins an sich durch. Anja Tobler als männlicher Gegenspieler Prof. Roger Hardiman hat fast etwas Glitschiges in ihrer Darstellung eines Typus, der sich im Interesse der Karriere geschmeidig macht. Wiederum geschlechtlich flexibel präsentiert sich Tabea Buser in der Rolle von Dr. Michael Coupey, deren – oder dessen – Leidenschaft und Integrität an den gesellschaftlichen Mauern aus Vorurteilen und Ressentiments zerschellt.

DieAerztin3 JosSchmidZwickmühlen und Zweifel: Das St. Galler Ensemble auf Alain Rappaports Bühne © Jos Schmid

Souverän fällt Julius Schröder in der Rolle des Arztes Murphy seiner Chefin in den Rücken. Nancy Mensah-Offei verkörpert anerkennenswert die dunkelhäutige Assistenzärztin in einer weißen Medizinwelt, die sie nicht so richtig ernst nimmt. Die Figur des katholischen Priesters spielt Nils Torpus so energisch, dass es gelegentlich sogar für Gänsehaut reicht. Sami – die geschlechtlich changierende Freundin der Protagonistin – sucht nicht nur nach der eigenen Identität, sondern auch nach schauspielerischer

Durchschlagskraft, gespielt von Finn Nachfolger. Die Lebenspartnerin oder der Lebenspartner von Ruth Wolff, gespielt von Heidi Maria Glössner, bleibt im Ungefähren. Maya Alban-Zapata singt Lou Reeds "Perfekt Day" ebenso überzeugend wie sie ihre Rolle als Gesundheitsministerin verkörpert. Weniger stark wirkt Téné Quelgo in der Rolle des treu an der Seite von Ruth Wolff stehenden Prof. Cyprian.

Kreuzworträtsel im freien Fall

Überhaupt wirkt das St. Galler Ensemble in "Die Ärztin" merkwürdig inhomogen. An mancher Stelle entsteht der Eindruck, als habe sich die Besetzung nach Tauglichkeit in stereotype Schablonen gerichtet. Der Abend krankt insgesamt an einer Überfrachtung, die beim Zuschauen zur Überforderung wird und Einsichten erschwert: Als ob man von jemandem im freien Fall verlangte, er solle während des Absturzes ein kompliziertes Kreuzworträtsel lösen. Was bleibt, ist eine Ratlosigkeit, die dem Willen zum Opfer fällt, in gut zwei Stunden eine Gegenwart erklären zu wollen, die selbst in zwei Wochen nur ungenügend umrissen werden könnte.

Die Ärztin
von Robert Icke
Inszenierung: Barbara-David Brüesch, Bühne: Alain Rappaport, Kostüme: Sabin Fleck, Video: Georg Lendorff, Dramaturgie: Laura Friedrich, Regieassistenz: Marlon Tarnow.
Mit: Diana Dengler, Anja Tobler, Téné Quelgo, Tabea Buser, Julius Schröder, Nancy Mensah-Offei, Manuel Herwig, Nils Torpus, Finn Nachfolger, Heidi Maria Glössner, Maya Alban-Zapata.
Musik: Michael Flury, Annie Aries und Christian Müller.
Premiere am 1. November 2023
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause

www.konzertundtheater.ch

Kritikenrundschau

"Die Regie in St. Gallen folgt der Empfehlung Robert Ickes, die vielen Rollen konträr zu besetzen", schreibt Bettina Kugler im St. Galler Tagblatt (3.11.23, €). Das heißt: "Schauspieler of Colour spielen Weisse und umgekehrt, Männer verkörpern Frauenrollen, Frauen Männerrollen". Dieser Ansatz zwinge das Publikum, "das Denken in Schubladen aufzugeben, eigene Vorurteile zu hinterfragen", bemerkt die Kritikerin und urteilt: "Anfangs mag dies mit Gewinn irritieren; es wirkt aber auch aufgesetzt und vorgestanzt. Irgendwann nervt es nur noch, ebenso wie das überdrehte Gezappel der Hart-und-unbarmherzig-Show 'Im Ring', in der Ruth Wolff von sogenannten Experten ins Kreuzverhör genommen wird."

"Robert Icke bindet die Knoten clever, mit Spannung, direkt an den verzwickten Identitätsdiskursen, die uns täglich bewegen" – mit der Herausforderung fürs Publikum, dass die Rollen farbenblind besetzt sind, so Andreas Klaeui auf SRF2 (3.11.2023). Brüesch inszeniere "das reich befrachtete Stück mit klaren Linien, etwas schwerfällig im ersten Teil, sie lotst uns geschickt durch den Dschungel von Konflikten, von denen Icke keinen auslässt".

Kommentare  
Die Ärztin, St. Gallen: Brandaktuelles Thema
Wir haben der Premiere die Ärztin beigewohnt und teilen die subjektive Kritik von Erich Nyffenegger keineswegs. Weder ist uns aufgefallen, dass ein angeblich relevanter Teil die Aufführung nach der Pause verlassen hätte, noch dass einzelne Schauspieler:innen abgefallen wären.

Wir waren von der Aufführung regelrecht begeistert. Die Ärztin ist richtig gutes Theater! Zeitnahes, brandaktuelles Thema verhandelt in einer bestechend unterhaltsamen Inszenierung mit Einfallsreichtum, Witz und Drive. Selten ist Theater so physisch und erzielt eine nachhaltige Sogwirkung, die das Publikum zum Nach- und Weiterdenken anregt. Denn genau darum geht es, die eigenen verhärteten Sprach- wie Denkmuster zu hinterfragen, Neuem mit Offenheit zu begegnen, um sich von der Bequemlichkeit des Gestrigen zu befreien und nicht so zu enden wie die Ärztin Ruth Wolff.

(...)
Die Ärztin, St. Gallen: Großer Wurf
„Nur weil Du es nicht siehst heisst es nicht, dass es nicht da ist“ Als Teil des Publikums, das diesen intensiven Abend mitverfolgt hat, kann ich die Sicht des Kritikers überhaupt nicht teilen. Auch hat meiner Wahrnehmung nach niemand das Theater verlassen.
Aber eigentlich geht es ja um diese eindrückliche Inszenierung mit einem erfrischenden und divers besetzten Ensemble. Die zu Beginn überraschende Gegenbesetzung der Figuren stellt sich im Verlaufe des Abends als grossen Wurf der Regisseurin heraus. Dadurch entstehen sehr lustige Situationen, welche Ruth Wolffs Abstieg herrlich auflockern! Die subtilen Spitalkostüme stehen im krassen Gegensatz zum religiös verbrämten Vater, der auf primitive Weise diese elitäre von Partikularinteressen unterwanderte Gesellschaft auf den Boden der Realität zurückholt. Das Bühnenbild aus 3 Drehbühnen unterstreicht die Absicht keine Perspektive unterlassen zu wollen - und trotzdem spricht sie eine einheitliche ästhetische. Dafür gehe ich in Theater. Was für ein Geschenk zur Neueröffnung dieser fantastischen Kulturstätte.
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