Klick den Gott doch weg!

27. August 2023. Uraufführung von Euripides? Das Luzerner Theater eröffnet seine Spielzeit mit einer Neufassung der Orestie von Raoul Schrott, inszeniert von Katja Langenbach. Die prominenteste Rolle übernimmt die Bühne, für die eine ganze Fachwerkscheune ins altehrwürdige Theater transferiert wurde. 

Von Tobias Gerosa

"Orestie" am Theater Luzern © Ingo Hoehn

27. August 2023. Das Luzerner Stadttheater ist eng, seit Jahren werden Erneuerungen, Erweiterungen oder ein Neubau diskutiert – jetzt sieht es gerade endlich so aus, als könnte die Erweiterung ein Wurf werden. Da stellt nun Hausszenograf Valentin Köhler das alte Haus für den Spielzeitbeginn radikal um: "DAS HAUS" in Majuskeln nennt er das Projekt, für das er im ländlichen Luzerner Umland eine alte Scheune ab- und dann im Theater wieder aufbauen liess.

Vom Bühnenraum über den Orchestergraben und über die ersten Parkettreihen steht da nun – der Giebel weit im Bühnenhimmel – ein ganzes Fachwerkgebälk, zweistöckig und angefüllt mit einem (fast) vollständigen Hausrat. Es ist das Haus der Atriden (später, für eine zweite Produktion, soll es das Haus von Dido und Aeneas werden) und es soll, wie das gehaltvolle Programmheft beschreibt, unser Haus sein, in dem wir laut und seit Sigmund Freud nicht mehr selber Herr sind: Was verbergen unsere Keller, welche dunkeln Ecken haben wir vergessen?

Wo Unrecht über Recht triumphiert

Als Theaterzuschauer bekommt man hier immerhin die Möglichkeit, durch Platzwechsel verschiedene Perspektiven einzunehmen. Und auf einmal sind dabei die seitlichen Rangplätze klar besser als diejenigen im Parkett oder auf der Tribüne auf der Hinterbühne. Live-Kameras und Bildschirme helfen, trotzdem alles mitzubekommen.

"Wo Unrecht über Recht triumphiert, brauchen wir auch keine Götter mehr" - wie ein Motto stellt der hier zweiköpfige Chor Euripides Quintessenz seiner beiden Stücke an den Anfang. Bei ihm zerbricht Orestes an den widersprüchlichen Forderungen, seinen Vater rächen zu müssen, aber seine Mutter nicht töten zu dürfen. Im Luzerner Theater sind alle Figuren immer irgendwo präsent, das Haus ist – das ist sofort klar – kein realistisch gedachter Raum. Aber der Reihe nach. 

Ein Sackkleid muss Elektra tragen: Carina Thurner © Ingo Hoehn

Der erste Teil ist "Elektra". In knackigen anderthalb Stunden rächen der zurückkehrende Orest und seine, mit einem Bauern verheiratete, Schwester Elektra ihren Vater Agamemnon, indem sie erst Aigisthos umbringen. Schließlich hat er ihren Vater erschlagen und "vögelt" ihre Mutter, wie Orest das in Raoul Schrotts Neuübersetzung ausdrückt. Woher die Elektra von Carina Thurner, die mit ihrer Kurzhaarfrisur und im grauen Sackkleid ein ganz graues Entlein ist, die Energie für den Entschluss aufbringt, zur Rächerin zu werden, ist nicht recht ersichtlich. Da ist Christian Baumbachs Orest, von Kostümbildnerin Sabin Fleck in Beige in Beige und in einen Hoodie gesteckt, als Figur vielschichtiger.

Konstante Irritation

Raoul Schrott hat seine Euripides-Neuübersetzung 2021 veröffentlicht. In Luzern wird sie jetzt zum ersten Mal gespielt. Sie hat Stärken in ihrer Poetik und ihren Bildern, gerade beim Chor, der mit seinen Erzählungen der Vorgeschichte dem Verständnis sehr hilft. In "Elektra" lässt Schrott die Figuren noch antikisierend sprechen. Schon am Anfang des "Orestes", dem zweiten Teil (oder zweiten Stück), wird sie moderner, umgangssprachlicher. Das bekommt den Dialogen gut, die vorher oft stocken und der propagierten Modernität der Figuren öfter widersprechen.

Es entsteht eine konstante Irritation, die nicht gelöst, aber auch nicht wirklich produktiv wird. Erst wenn Anja Signitzer als Klytaimestra erklärt, warum es keine andere Möglichkeit gab, als Agamemnon zu töten, scheint der Text ganz natürlich. Auch Martin Carnevalis Menelaos gelingt das später. Der sprachliche Grat hin zu einer gewissen Flapsigkeit im Stil von Vorabendserien wird aber zunehmend schmaler, zumal der Abend mit einer musikalischen Tonspur unterlegt ist wie ein Film.

Orestie3 805 Ingo HoehnPylades mit Colt und Orest (Hugo Tiedje und Christian Baumbach). Im Hintergrund: Elektra (Carina Thurner) © Ingo Hoehn

Um ihrer Verurteilung durch Argos zu entkommen, entfesseln Elektra und Orest, unterstützt von Pylades mit Colt am Halfter (Hugo Tiedje) einen gewalttägigen, zunehmend klaumaukigen Ego-Shooter-Trip. Eigentlich könnte man schon von Terror sprechen: Weil sie nichts mehr zu verlieren haben, sollen möglichst viele andere noch mitleiden, wollen sie Menelaos' Familie wenigstens mit zerstören. Text und Inszenierung ironisieren das mit viel Waffengefuchtel und Gerenne durchs Haus. Schließlich wird die Situation durch eine Dea ex Machina am Fernsehschirm im Auftrag Apollos überraschend entschärft: Helena, die im Wirrwarr des Familienmassakers plötzlich irgendwie verschwunden war (!), meldet sich am Fernseher zurück und verkündet die überraschende Auflösung. Ungläubige Freude und schwupp, wird die göttliche Zuschaltung via Fernbedienung wieder weggeklickt. Und dann? Dunkel halt.

Überdrehte Farce

Regisseurin Langenbach setzt stark auf die Wirkung des Raumes. Ihr Umgang mit dem Text wirkt je nach Darsteller*in wenig einheitlich. Am Ende verpufft die Kraft des Stoffes in diesem, durch eine anderthalbstündige Pause zwischen den Teilen auf insgesamt fünfeinhalb Stunden gedehnten Abend. Es bleibt die Irritation über eine komisch umgekehrte Dramaturgie, welche die blutige Familiensaga schließlich in eine überdrehte Farce kippen lässt.

 

Orestie
von Euripides
Uraufführung der Übersetzung von Raoul Schrott
Regie: Katja Langenbach; Bühne: Valentin Köhler; Kostüme: Sabin Fleck; Licht: Clemens Gorzella; Video: Kevin Graber, Musik: Roderik Vanderstraeten, Dramaturgie: Dominik Busch, Live-Kamera: Annaka Minsch 
Mit: Rüdiger Hauffe, Carina Thurner, Christian Baumbach, Hugo Tiedje , Martin Carnevali, Anja Signitzer, Tini Prüfert, Anna Elisabeth Kummrow,
Premiere am 26. August 2023
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten (Elektra), 2 Stunden 20 Minuten (Orestes), eine Pause 

www.luzernertheater.ch

Kritikenrundschau

"Für diese Eröffnung der Saison hat das Luzerner Theater alles gegeben, von der Regie (Katja Langenbach), der Szenografie (Valentin Köhler), der Dramaturgie (Dominik Busch), der - alles fantastisch untermalenden - Musik (Roderik Vanderstraeten) bis zu den Darstellern," schreibt Susanne Holz in der Luzerner Zeitung (28.9.2023). "Hier glänzen als so radikale wie ernüchterte Elektra Carina Thurner und als seinen Mord an der Mutter verzweifelt bereuender Orestes Christian Baumbach." Auch die Liveamera bekommt Bestnoten von der KritikerinDie Neudichtung durch den österreichischen Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Raoul Schrott intensiviert ihrer Sicht "die Modernität des Euripides und dessen Realismus, der wie ein Krimi daherkommt, noch - indem Schrott Euripides` Sprache auf heutige Sprache herunterbricht." 

Kommentare  
Orestie, Luzern: Leidenschaftliche Darstellung
Sehr geehrter Herr Gerosa! Vielen Dank für Ihre Kritik anlässlich der Premiere des Theaterstücks ‚Orestie‘ in Luzern. Ich schätze Ihre Anschauung bezüglich der teils uneinheitlichen Textdarstellung, auch im Hinblick auf Ihre Ausbildung in den Fachbereichen Germanistik und Geschichte. Leider, und das ist mir unbegreiflich, gehen Sie mit keinem Wort auf die fein ausgearbeitete, leidenschaftliche Darstellung der beiden Hauptcharaktere ein, was ja zweifelsohne den Kern dieses Stückes darstellt. Das Kostüm der ‚Elektra‘ inklusive Kurzhaarfrisur unterstreicht m.M. nach perfekt die Figur der verzweifelt ‚Gefallenen‘ aus der Oberschicht. (...)
Orestie, Luzern: Einwand
Sehr geehrter Herr Gerosa,

auch ich möchte Ihnen, bei allem Respekt, eine kleine „Kritik zur Kritik“ zu diesem Artikel über „Die Orestie“ im Theater Luzern zukommen lassen, welcher ich selbst als Zuschauer beigewohnt habe. Selbstverständlich ist die Wahrnehmung eines Stückes eine subjektive Erfahrung und Ihre persönliche Meinung und Bewertung des Stücks hat in jedem Fall seine Berechtigung. Nichtsdestotrotz kann ich Ihre Kritik, basierend auf meinen Eindrücken, in keinster Weise nachvollziehen und möchte deshalb meine Gedanken dazu mit Ihnen teilen.

Ich bin der Meinung, dass die sprachliche Gewandtheit der Übersetzung des griechischen Klassikers von Raoul Schrott und die schauspielerische Inszenierung in Ihrer Kritik nicht richtig dargestellt wurde (bzw. vielleicht auch gar nicht verstanden wurde?). Die Raffinesse des Stückes zeigt sich doch genau dadurch, dass dem Publikum am Anfang des Abends, bei dem noch die volle intellektuelle Aufnahmefähigkeit vorausgesetzt werden kann, der schöne klassische Textstil der Antike nähergebracht wird. Das mag den Inhalt der Geschichte für manche Zuseher:innen, die moderne Stücke gewohnt sind, vielleicht schwieriger erlebbar machen, wurde aber, besonders von den Hauptdarstellenden, wunderbar herausgearbeitet und auf die Bühne gebracht. Warum das Kostüm und die Frisur der Elektra, das sehr eindrücklich die verzweifelte und aussichtslose Situation der gebrochenen Figur darstellt, und die fein ausgearbeiteten Monologe der Schauspielenden von Ihnen beispielsweise mit „ganz graues Entlein“ betitelt werden, bei der „der Rache-Entschluss nicht ersichtlich ist“, lässt sich aus meiner Sicht nicht nachvollziehen. Die Leistung der Schauspielenden in einem 3,5 Stunden Stück durch einen so unbedarften Satz zu degradieren, enthält sich jeglicher objektiven Bewertungsmetrik und ist journalistisch nicht wirklich wertvoll. Um die Aufmerksamkeit des Publikums in der Folge des sehr langen Stücks weiterhin mitzutragen, entwickelt sich die Sprache und Umsetzung der Geschichte im Laufe des Abends dann immer mehr in eine modernere Interpretation des Texts, bis hin zu einer fast filmischen Inszenierung. Was Sie als „gewisse Flapsigkeit im Stil von Vorabendserien“ bezeichnen, habe ich als schrittweise Weiterentwicklung des Stückes durch die Inklusion von modernen Elementen wahrgenommen, was die Aufmerksamkeit des Publikums bei einem so langen Stück bis zum Ende möglich und spannend macht. Wenn ich Ihre Kritik lese, kommt es mir so vor, als dass Sie mit der Fusion von Antike und Modernität in diesem Stück nicht wirklich einverstanden sind und deshalb als „flapsig“ bezeichnen. Ich finde aber, dass modernes Theater kein „entweder-oder“ ist, sondern genau die Aufgabe hat, auch antike Texte verständlich und spannend an eine junge Zielgruppe zu transportieren. Ich finde, das ist mit dieser Produktion hervorragend gelungen und lässt sich für ein Publikum, dass sich auf den Abend – ohne eine vorab festgesetzte Erwartung an die „Orestie“ – einlässt, sehr erfahrbar machen. Nicht zuletzt auch aufgrund der tollen Leistung der Darstellenden.

Ich möchte Ihnen, wie gesagt, mit meiner Meinung zu Ihrer Kritik nicht zu nahetreten. Da viele Theaterbesuchende sich – meiner Erfahrung nach – jedoch sehr von Kritiken beeinflussen lassen, wird diese doch eher negativ behaftete Darstellung dem wertvollen Theaterstück nicht gerecht. Die Kritik sollte nicht so einseitig dargestellt werden. Einer Gegendarstellung meiner Eindrücke von Ihrer Seite her stehe ich natürlich sehr offen gegenüber.
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