Der Bürger als Edelmann - Werner Düggelin begeistert das Zürcher Pfauen-Publikum mit Molières Pointen, Slapstick und Geschwister-Schmid-Schlagern
Fechtballett mit geglättetem Affektleben
von Claude Bühler
Zürich, 6. Februar 2014. Trampeleinlagen, vereinzelte stehende Ovationen, mehrere Vorhänge, "Bravo Dügg"-Rufe – das mehrheitlich bürgerlich herausgeputzte Zürcher Publikum bedankte sich beim 83-jährigen Werner Düggelin für eine Komödieninszenierung, die 75 Minuten lang in gelöstem Taktmaß fortschreitet.
Stumpfer Langweiler ohne Empathie
Seine Stückfassung ist von allem entschlackt, was nach heutigem Maßstab Anstoß erregen könnte. Schimpft der Bürger Herr Jourdain (Rainer Bock) in anderen Fassungen über die Frauen, so tadelt er hier seine Frau (Friederike Wagner) oder das Dienstmädchen Nicole (Henrike Johanna Jörissen) ganz individuell. Um Herrn Jourdain zu täuschen und seine Tochter Lucile (Dagna Litzensberger Vinet) heiraten zu können, spielt der jugendliche Liebhaber Cléonte (Christian Baumbach) hier nicht mehr einen "Großtürken", sondern einen Edelmann aus "Papua".
Geglättet ist in "Der Bürger als Edelmann" aber auch das Affektleben, insofern es Rückschlüsse auf den Charakter der Figuren erlauben könnte. Das Publikum muss etwa nicht fürchten, den panischen Sog desjenigen miterleben zu müssen, der im verbreiteten Wahn lebt, mehr sein zu wollen, als er ist. Rainer Bock spielt den Bürger, der Aristokrat sein will, wie man Buchhalter in den siebziger Jahren darzustellen pflegte: als stumpfen Langweiler ohne Empathie mit Seitenscheitel, Schnurrbart und rechteckigen Brillengläsern. Seine neue gesellschaftliche Ambition wird allein damit begründet, dass er die Marquise Dorimène (Hilke Altefrohne) erobern will.
Heiteres Abgründe-Rätselraten
Wegrasiert sind auch die Eitelkeit des Philosophen (Siggi Schwientek), die Ruhmsucht des Tanzmeisters (Ludwig Boettger mit Warhol-Frisur) und die Geldgier des Musikmeisters (Jürg Kienberger), die Jourdain alle engagiert, um ihn zu unterrichten und zum Edelmann zu formen. Dem Spannungseffekt, dass sie an dem untalentierten Bürgertrottel ungeniert Geld verdienen, wird mit betont freundlicher Figurengestaltung sogar entgegengewirkt. Auch der schmierige Adlige Dorante (Nicolas Roset), der Jourdain bewusst ausnimmt mit dem Versprechen, ihm Doriméne zuzuführen, ist ein so netter Bursche von nebenan, dass man über seine Abgründe heiter rätselraten könnte. Wir erfahren zwar vieles, erleben aber nichts.
Übrig geblieben ist der Großteil von Molières Text, der, weitgehend befreit vom Farbenreichtum einer mehrschichtigen Figuren-Darstellung, aus sich selber wirken soll. Das nüchtern-graue, klassizistische Szenario (Bühne: Raimund Bauer), das sich über drei Guckkasten in der Tiefe verjüngt, betont den Bühnen-Modellfall. Text, Figuren, Bühnenraum: In der Reduktion, die Düggelin wollte, wirkt Molière mit seinem durchsichtigen Stückegerüst zuweilen spröde, eindimensional, absehbar.
Die Frauen siegen über die Waschlappen-Männer
Das Premierenpublikum lachte fast nur über Textpointen, kaum je über die entlarvenden Selbstaussagen, fast nie über Phrasierungen, gar nie, wenn Frau Jourdain ihren Mann auslacht. Wo Partitur und Pointen die Spannung nicht genügend halten, setzt Düggelin auf Slapstick. Bei den schwächsten Gags verliert der Abend seinen auch tragischen Zusammenhang, sackt sogar stellenweise auf Schwankniveau ab.
Originell ist der Streit der jungen Paare Cléonte und Lucile, Covielle (Jan Bluthardt) und Nicole, als Fecht-Ballett choreographiert. Schlaggeräusche, "Ahhs" und "Uffs" mischen sich in die Dialoge. Am Schluss liegen die vier auf einem Haufen übereinander. Die Szene ist unterhaltsam, zitiert nebenbei Kinofilme, ist aber nicht zwingend stimmig zum Inhalt. Ein Teil des Publikums spendete spontan Szenenapplaus. Vielleicht auch, weil die Frauen siegen und die jungen Männer wie Waschlappen unterliegen?
Es gibt Anbiederungstendenzen. So lässt Düggelin etwa das Gesangstrio unter der Leitung von Jürg Kienberger die volkstümlichen Schlagerhits der Geschwister Schmid vorsingen. Das kann den einfachen Geschmack des Bürgers Jourdain vorstellen, der bei klassischen Stücken reklamiert, dass sei zu kompliziert. Die Ironie, mit der Marthaler-Mime Kienberger die biederen Stückchen wie "Stägeli uff, Stägeli ab, juhe" (1943) singt, passt nicht zur Dynamik Molières, aber wie abzusehen war, ging das Publikum mit.
So unterhält der Abend, aber er überrascht nie wirklich, geht nie unter die Haut. Der französische Dichter Jean Anouilh schrieb: "Molière hat in der Form der Komödie die schwärzesten Theaterstücke der Literatur aller Zeiten geschrieben." Zum Ende hat sich Düggelin daran erinnert und erfindet einen Schluss, bei dem alle Jourdain verlassen, auch seine Frau. "Valerie", ruft er gebrochen. Als Bild für den isolierten Egoisten stimmt es, als Finale dieser Aufführung wirkt es wie hilflos angeklebt.
Der Bürger als Edelmann
von Molière
Regie und Fassung: Werner Düggelin, Bühne: Raimund Bauer, Kostüme: Francesca Merz, Musikalische Leitung: Jürg Kienberger,Dramaturgie: Andrea Schwieter.
Mit: Hilke Altefrohne, Christian Baumbach, Jan Bluthardt, Rainer Bock, Ludwig Boettger, Henrike Johanna Jörissen, Jürg Kienberger, Claudius Körber, Dagna Litzenberger Vinet, Siggi Schwientek, Friederike Wagner. Sänger: Florian Glaus, Res Claudia Kost, Philipp Scherer. Tänzer: Marie Alexis, Andrew Cummings/Ivan Blagajecevic.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause
www.schauspielhaus.ch
"Anno 1670 war die Klassengesellschaft noch sehr undurchlässig", schreibt Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (8.2.2014). Heute sei sie durchlässiger. "Wer Geld besitzt, den empfängt der Jetset mit offenen Armen." Deshalb spiele der grandiose Rainer Bock in Düggelins sanft modernisiertem Molière nicht einfach den peinlichen Parvenü. "Vielmehr strahlt er die unternehmungsfreudige Lust eines Gutsituierten aus, der sich kauft, was er begehrt." Düggelin meine es gut mit seinem Protagonisten, "als hoffte er, dessen Flucht aus der kleinkarierten Umgebung könnte gelingen". Aber Pustekuchen. Am Ende, wenn Monsieur Jourdain langsam aus dem irren Theater-Rausch erwache, flüstere er den Abgesang auf sein tollkühnes Traumleben mit Ungläubigkeit, Bedauern, Verzweiflung. "Herzzerreissend. Hinreissend."
Der "hinreißend immer noch spannkraftwitzige und menschenliebende, weit über achtzig Jahre alte Regisseur Werner Düggelin, ein großer, ingeniöser Zuhörer und sanft beharrlicher Belauscher seiner Figuren" entwickele für Molières Herrn Jourdain, "der auf den Bühnen, die er sowieso nicht allzu oft betritt, sonst keine Chance hat, außer verlacht zu werden", eine "geradezu verrückte" Zärtlichkeit und Sympathie, schreibt Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (8.2.2014). Düggelin nehme ihn nicht beim komischen Effekt, sondern beim ernsthaften Wünschen und Wollen. "Und vor allem: Lernenwollen." So bekomme "der Mann, der wild entschlossen ist, seinem Dasein die Phantasiekronen des höheren Lebens aufzusetzen", von der Regie das "große Glück" spendiert, "das aus einem Leben werden kann, wenn man es ganz zu Theater macht". Und das Düggelins Bühne hier "schwebeleicht und urkomisch und feinmenschlich" widerspiegele.
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