Die Zeit ist noch nicht reif

10. September 2023. Na nu? Am Schauspielhaus Zürich hat für die Intendanten Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg die letzte Spielzeit begonnen. Ein Vorwurf: Mit zu viel künstlerischem Experimentiergeist hätten sie das Publikum verprellt. Für diese Version von Brechts "Leben des Galilei" kann das wohl kaum gelten.

Von Valeria Heintges

"Leben des Galilei" in der Regie von Nicolas Stemann am Schauspielhaus Zürich © Philip Frowein

10. September 2023. Man reibt sich verwundert die Augen. Sind wir nicht am Schauspielhaus Zürich, dessen Intendanten auch ihren Hut nehmen müssen, weil sie das Stamm-Publikum mit zu modernen, zu freien Inszenierungen verprellten und es deshalb einfach wegblieb? Aber kein Zweifel: Wir sind am Pfauen, gezeigt wird Bertolt Brechts "Leben des Galilei". Regie Nicolas Stemann, neben Benjamin von Blomberg einer der Intendanten, die nun ihre "Final Season" einläuten, wie alle Plakate verkünden.

Ein bisschen utopische Farbe

Aber das da auf der Bühne, das ist überhaupt nicht übermäßig modern und erst recht nicht übermäßig frei. Sondern vielmehr eine sehr wort- und dialoglastige Arbeit; sieben Schauspieler:innen in fast komplett schwarzen Kostümen, ihre weißen Schuhe die Ausnahme, die die Regel bestätigen – nur zwischendurch gönnen sie sich ein bisschen utopische Farbe. Kein Fremdtext, kein Ausbruch aus Rollen. Man kann sogar – mit ein bisschen Augenzudrücken – "Musik von Hanns Eisler" unterschreiben, aber Musikerin Andrina Bollinger verleiht mit ihrer Fassung für Gitarre und Klavier und ihrer Stimme der Sache einen überaus eigenen Ton.

Aber natürlich ist die Arbeit schon von Nicolas Stemann. Wer seine Fassung von Dürrenmatts Besuch der alten Dame und Sophokles' Oedipus Tyrann kennt, sieht auch die Verbindung: Während in den beiden Werken Vielpersonenstücke auf zwei Spieler:innen eingedampft wurden, gehen jetzt die vielen Personen auf ein starkes siebenköpfiges Ensemble über, das sich frei flottierend die Partien zuwirft. Im Wesentlichen ist Matthias Neukirch der opportunistische und Steven Sowah der kämpferische, mutige Galilei. Alicia Aumüller gibt die etwas emanzipierte Tochter Virginia und Maximilian Reichert den Schüler Andrea – sie beide stehen fest auf Seiten Galileis. Aber dann wird es schon komplizierter: Meist ist Gottfried Breitfuss Galileis Haushälterin Frau Sarti, aber zuweilen ist er auch mit Sebastian Rudolph und Karin Pfammatter auf der Seite der kirchlichen Gegner. Und am Ende, wenn das alles immer verwaschener wird zwischen den Guten und den Bösen, den Gescheiten und den Dummen, dann sind sie alle siebenmal Galilei gewesen.

Ein starkes, siebenköpfiges Ensemble: Andrea Bollinger, Gottfried Breitfuss, Steven Sowah, Matthias Neukirch, Maximilian Reichert, Alicia Aumüller, Sebastian Rudolph, Karin Pfammatter © Philip Frowein

Aber sonst? Hat das Schauspielhaus Zürich bestimmt seine konservativste Inszenierung seit langem abgeliefert. Mit wenig Requisiten, einem sehr deutlichen, beinahe platten Bühnenbild von Jelena Nagorni, bei dem sich die Bodenplatten bewegen und wie Schalensplitter an den Himmel hängen, wenn auf der Bühne das alte ptolemäische Schalenmodell zertrümmert wird. Mit einer großen Feier für die Freunde des Worts, für die Fans gepflegter Unterhaltung und die Streiter für die guten Argumente. Gerade letztere kommen bei Brecht ja auch voll auf ihre Kosten. Schließlich geht es um den Astronomen und Physiker Galileo Galilei, der – gerade erst wurde Giordano Bruno für die gleiche Behauptung verbrannt – mithilfe des neu erfundenen Teleskops beweisen kann, dass sich eben nicht die Sonne um die Erde, sondern die Erde um die Sonne dreht. Dass also das ptolemäische Weltbild vielleicht mit der Bibelmeinung übereinstimmt, aber leider nicht mit der Realität. Im Laufe des Stückes muss Galilei aber feststellen, dass die Zeit noch nicht reif ist für seine Entdeckung oder die Macht der Kirche noch zu stark.

Die Entscheidung für das gute Leben und Essen

Und so landet er erst im Kerker, dann im acht Jahre dauernden Schweigen. Schließlich entscheidet er sich, im Anblick der Folterinstrumente, für das gute Leben und das gute Essen. Und widerruft. Doch gelingt es ihm, an seinen Bewachern vorbei, sein Hauptwerk zu Ende zu schreiben und außer Landes zu schmuggeln. "Leben des Galilei" kam in einer ersten Fassung auf den Tag genau vor 80 Jahren, am 9. September 1943, an gleicher Stelle in Zürich zur Uraufführung. Unter dem Eindruck der Atombombe schrieb Brecht eine zweite Fassung auf Englisch, die 1947 im Exil in Los Angeles zur Premiere kam, und eine dritte, die 1956 am Berliner Ensemble, nach Brechts Tod, aufgeführt wurde.

Zwischen Heils- und Verdammnisbringerin

Nicolas Stemann nutzt diese letzte Fassung, in der die Wissenschaft stärker im Spannungsfeld steht zwischen Heils- und Verdammnisbringerin, der Wissenschaftler zerrissen wird von Zweifeln am und Glauben an den Fortschritt. Denn es ist alles drin in dem Werk: Anrennen des Wissenschaftlers gegen die Dummheit seiner Umgebung, aber auch sein Kampf für den Fortschritt um jeden Preis und seine fehlenden Skrupel angesichts todbringender und zerstörerischer Forschung. Ebenso die Tendenz der Mächtigen, die Wissenschaftler zu fördern, die ihnen nutzen, und diejenigen zu behindern und zu zerstören, deren Ergebnisse ihnen nicht passen. Der Kampf des Individuums um seinen Platz im Universum und in der Gesellschaft. Die Szenen über die Pest hat schon Brecht eingefügt, sie passen Post-Corona sehr gut; die zerstörerischen Folgen des "Fortschritts" waren auch schon da, die Worte "Klimawandel" und "Zerstörung des Planeten" hat Dramaturg Moritz Frischkorn noch eingefügt. Und ja: Man kann das Werk natürlich auch so lesen, dass nicht nur Galilei fürs Offensichtliche kämpft. Denn jeder, der genau hinschauen würde, würde ja merken: Die Gesellschaft Zürichs ist längst divers... 

23 24 Das Leben des Galilei lPhilip Frowein 11 Der Kampf des Individuums in der Gesellschaft: Maximilian Reichert, Gottfried Breitfuss, Alicia Aumüller, Karin Pfammatter, Steven Sowah, Matthias Neukirch © Philip Frowein

Wenn die Gedanken beim Zuhören und Zuschauen auch wegen der guten Schauspielleistungen so inspiriert werden, kann man das ja auch goutieren, auch wenn dabei die Ästhetik etwas bieder daherkommt. Aber ein bisschen langweilig ist es halt doch.

 

Leben des Galilei
von Bertolt Brecht
Inszenierung: Nicolas Stemann, Musik: Hanns Eisler, Live-Musik: Andrina Bollinger, Bühnenbild: Jelena Nagorni, Kostümbild: Ellen Hofmann, Video: Johanna Bajohr, Licht: Christoph Kunz, Dramaturgie: Moritz Frischkorn.
Mit: Alicia Aumüller, Gottfried Breitfuss, Matthias Neukirch, Karin Pfammatter, Maximilian Reichert, Sebastian Rudolph, Steven Sowah.
Premiere am 9. September 2023
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.schauspielhaus.ch


Kritikenrundschau

"In all das Schwarz und Weiss zaubert das Ensemble so viel Farben, Töne und Tänze, in den ganzen wütenden Untergang so viel Willen zum Widerstand und, ja, auch Witz, dass man selbst während der dritten Wiederholung eines Monologs die meiste Zeit dranbleibt", schreibt Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (11.9.2023). "Nicolas Stemann hatte keine Angst, zu langweilen, und hat den gewaltigen Stoffstrom einfach fliessen lassen. Wir trudeln mit."

"Stemann rückt das faktische oder psychologische Geschehen in den Hintergrund, um das Stück als Sprachfuge zu inszenieren; im Mittelpunkt steht weniger der Mensch als der gesellschaftliche Diskurs. Das ist an sich eine interessante Versuchsanordnung", schreibt Ueli Bernays in der Neuen Zürcher Zeitung (11.9.2023). Interessanterweise wirkten die Auftritte und Argumente der fortschrittlichen Galilei-Partei oft absehbar und geschwätzig. "Weil man ohnehin mit Galileis Vernunft sympathisiert, lacht man umso lieber über die karikierten Reaktionäre. Die Inszenierung erlebt ihre Höhepunkte deshalb, wenn sich im rhapsodischen Fluss des Geredes einzelne Witzfiguren herauskristallisieren."

"Irritierend texttreu" ist Egbert Tholls Kritik in der Süddeutschen Zeitung (20.9.2023) untertitelt. Ein hübsches Hörspiel entstehte an dem Abend, "manchmal ein bisschen aufgeraut, wenn doch mal einer seinen Spieldrang nicht bändigen kann." Auch sei es eine Freude, die Leute auf der Bühne beim Erforschen der Geschichte zu beobachten. "Aber dennoch ist der Abend kein Erkenntniskrimi, kein flamboyantes Plädoyer für die Wahrheit, kein Fanal gegen deren Unterdrückung durch die Obrigkeit. Sondern eher eine Aufforderung zu einem sanft von schönen, klugen Worten umspülten Theaterschlaf."

"Die Rollenwechsel, das chorische Sprechen, die gesungenen Szenenprologe, tragen zum brechtschen Verfremdungseffekt bei, der uns die Illusionshaftigkeit des Theaters präsent halten soll und uns ermahnt, nicht alles zu glauben, was auf der Bühne geschieht", so Salomé Meier in der FAZ (20.9.2023). Und am Anfang wie am Schluss stehen in Stemanns Inszenierung Zweifel da, wo einst die Gewissheit war: "Was tun wir mit dem Wissen, das wir von der Welt haben?" Nicht immer erreichen die Bezüge auf unsere Zeit durch die Regie die nötige Brisanz. "Zwischendurch schweifen die Gedanken ab oder erheischen den Blick auf die Uhr während der dreistündigen Vorführung. Dennoch: Einen Weckruf, Verantwortung zu übernehmen für unser Denken, bietet diese Inszenierung allemal."

 
Kommentare  
Galilei, Zürich: Spiegeleffekt
Interessant, dass es die NZZ ist, die die Argumente der Vernunft als "absehbar und geschwätzig" beurteilt, jener Zeitung, die die beispiellose Kampagne gestartet hat vor einem Jahr - im Wind-Schatten der schweizerischen Rasta und deutschen Winnetou-Debatte über scheinbare W-ness (man mag das Wort gar nicht mehr schreiben).

Es ist schön, dass der SWR den Spiegel-Effekt erkannt hat, scharf wie ein Bild des James Webb Telekops.

https://www.swr.de/swr2/buehne/bekaempfte-gegenwart-leben-des-galilei-am-schauspielhaus-zuerich-100.html?fbclid=IwAR2wknY8OLFdSLZiXWDiEiR6cjF9nf9csXR-_4DJQbt6pl8SlyvF_MdHrF8
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