Der Schwindel und sein Gegenteil - Simone Blattners Uraufführung des Stücks von Martin Heckmanns am Neumarkt Theater Zürich
Dein Lied lügt, Mann!
von Maximilian Pahl
Zürich, 6. Juni 2018. Es wäre diesem Abend am Zürcher Neumarkt zuzutrauen, dass er ein Schattenprofil anlegt, um sich über soziale Medien selbst zu bewerten. Eher schlecht zu bewerten. Denn Martin Heckmanns' Stück "Der Schwindel und sein Gegenteil" läuft als Herrenkomödie unter Selbstbehalt. Sie zeichnet in Simone Blattners Uraufführung einen virilen Waschlappen und seine Heimsuchung von aller Welt. Also von Dämonen, Vermieterinnen, Hölderlin und der Polizei. Von seinen vier SpielpartnerInnen erntet Urs Jucker überdies die Schuld an der Ungleichheit, dem Klima und der Armut, obendrein sei er als Alleinunterhalter für alle Totalitarismen mindestens mitverantwortlich. Doch zum Unterhalter ist er geboren.
Heckmanns mag es meta, lässt Protagonisten und Autor überblenden, liefert die Gags für die Figur, die in der Inszenierung ebenfalls Jucker heisst – und wenn auf etwas noch Verlass ist, dann auf Juckers publikumsoffenes Auskosten dieser Gags, auf sein Spiel mit momenthafter Not und der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden. Gross ist die Spielfreude bei der sozialen Jagd, in Juckers "sprachkritischem Traum" scherzen die Frauen mit politischer Korrektheit. "Es gibt keinen Mitgliedsausweis, auch keinen ohne" darf Marie Bonnet etwa flachsen, die insgesamt bestens aufgelegt später auch stimmlich demonstriert, was eine akademische Schnauze ist. Es gebe für Jucker "kein Recht auf ein von der Geschichte unbelästigtes Leben", sagt ein Freund namens Klein (André Willmund), und sogar die Schuhe werden am Telefon moralinsauer belehrend. Über Frauen, ihre Ideen und ihre Witze möge Jucker weder urteilen, noch singen ("Dein Lied lügt!"), noch schweigen. Was tun?
Eigene Schwächen zum Prinzip erhoben
Über das Trampolin und die Matten turnt auch André Willmund schelmisch als personifiziertes Geld in Dagobert Ducks Pyjama, während Hanna Eichel vor allem Begeisterung an den Tag legt: für all die bunten Themen und gar für Jucker selbst schwärmt sie als seine Frau Beatrice, bis sie seine Lieder als gesellschaftlichen Balsam zu durchschauen glaubt und "aus politischen Gründen" nicht mehr mit ihm schläft.
"10 Personen haben diesen Beitrag kommentiert", verkündet der Dämon chorisch, aber nach kurzem Schlagabtausch ("Hitler!" - "Selber!") distanzieren sich alle wild durcheinander von möglichst allem, ein letztes Flüstern fragt: "Wie reden mit Rechten?". Sogenannte Angestellte erscheinen bei Blattner als proletische Zwerge, als Harry Potter unter den Psychotherapeuten fühlt sich Miro Maurer reduziert auf seine Rolle und stellt keinesfalls besänftigende Todesfragen.
Als gegenwärtige Männer-Komödie aus Sicht eines Betroffenen und Angeklagten durchschaut das Stück seine eigenen Schwächen und erhebt sie zum Prinzip. Ein weißer männlicher Künstler mittleren Alters, trefflichst stellvertreten, hält hier in vergeblicher Bemühung um Korrektheit und damit in wohlfeiler Lächerlichkeit den Kopf hin. Der Mann im Schlafanzug ist bußfertig und ruiniert von Anfang an, im Nu ist er auch noch nass geschwitzt und sprachlos. Und noch während Jucker das vielbeschworene Bild pointiert, eilt der gewiefte Dramatiker Heckmanns allen Einwänden voraus: "Die Welt geht unter, und Ihr unterhaltet Euch über einen Mann im Schlafanzug!" Heckmanns wirft naheliegende Fragen auf: Was bleibt übrig? Ein Stück als "Mangel", das zeigt, "dass man es nicht zeigen kann"?
Schöne Ratlosigkeit
Zur Ruhe kommt Jucker vorübergehend in der Heimat, wo die Dämonen Mundart sprechen. Bei der Betrachtung von Fotoalben sind Willmund und Jucker rührend, ebenso Maurer, Hölderlin zitierend, oder Bonnet, eine Kuh mimend. Pünktlich aber befällt den Protagonisten wieder Ratlosigkeit – als alle Figuren sich nochmals sammeln, wird er entschuldigt: "Schönheit ist ratlos. Gut zu sehen, wie einer ringt." Offen bleibt, ob es Jucker insgesamt heil da raus schafft – immerhin sein Lied ("Hilf mir, wenn du kannst, ich steck im Dreck fest") läuft nach ausgespielter Unsicherheit beim dritten Anlauf rund. Willmund sitzt dabei am Keyboard wie am Steuer eines Lastkraftwagens, Eichel umkreist das Geschehen als ungnädig voranschreitende Zeit, im Geist der temporeichen Inszenierung.
Ein traumhafter mehrstimmiger Chor kündet letzten Endes Gutes an – zumindest etwas "Besseres, als den Tod." Schliesslich liegt die Spitze der Selbstanfechtung wahrscheinlich in der Aussage: "Schlechte Kunst ist ein Zeichen für funktionierende Demokratie." Und diesem ausschweifend symptomatischen Theaterabend wäre eben sogar zuzutrauen, dass er selbst riskiert, schlecht im Sinne von naheliegend (oder gegenwartsfixiert) zu sein. Aber das ging gerade noch einmal gut.
Der Schwindel und sein Gegenteil
von Martin Heckmanns
Regie: Simone Blattner, Bühne: Nadia Fistarol, Kostüme: Sabin Fleck, Musik: Christopher Brandt, Video (und Beleuchtung): Karl Gärtner, Ueli Kappeler, Dramaturgie: Angela Osthoff, Maske: Denise Christen, Diane Bhutia.
Mit: Marie Bonnet, Hanna Eichel, Urs Jucker, Miro Maurer, André Willmund.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.theaterneumarkt.ch
Was auf den Einstieg folgt sei natürlich kein harmonischer gemeinsamer, sondern ein total einsamer Akt des uneigentlichen Sprechens übers Eigentliche, so Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (11.6.2018). "Heckmanns häuft quasi einen gesellschaftlichen Gassenhauer auf den anderen", und Regisseurin Simone Blattner sei bestens eingeführt. "Klug und passagenweise witzig ist es ja", so Kedves, "aber einfach nur daheim gelesen kommt es besser".
Eine bemerkenswerte Uraufführung am Neumarkt sah in der Neuen Zürcher Zeitung (9.6.2018). Ein Ich-Sucher und gescheiterten Liedersänger stehe im Zentrum, "ein postromantischer Hölderlin und Getriebener, in dessen Kopf Stimmen wohnen. Achtung: Wahnsinn!" Der Text spiele mit der Zuschauererwartung und mit seinem Material, "er bedient die Mechanik des Komischen und ist gleichzeitig dessen Kommentar". Fazit: "In der Hand der Heckmanns-Spezialistin Simone Blattner werde aus Papier das Beste, was dem Autor passieren kann: Aus dem Reden über das Nichtreden(können) schöpft die Regisseurin komische, skurrile Spielanlässe und Handlungssplitter."
Heckmanns Stück "ist ein enzyklopädisch-idealistisches Gedanken-Stationendrama, eine Art 'Faust' oder 'Peer Gynt' für die Postpostmoderne" und Heckmanns beschäftige sich jetzt wieder mit dem, was er am besten kann: "existentialistischer Selbstbefragung mit komischen und sprachkritischen Mitteln", schreibt der ebenfalls angetane Martin Halter in der FAZ (9.6.2018). Dass das Schwere leicht wirkt, liege auch an der Regie von Simone Blattner. "Sie versucht gar nicht erst, seine Pointen an realistische Settings, Klamauk oder Diskurstheater à la René Pollesch anzudocken. Sie baut Ruhezonen und Rhythmuswechsel, chorische und Dialekt-Passagen, Slapstick und Turnübungen in die hochtourig drehende Komödie ein und nimmt den Schwindel so beim Wort, als heiteres Schwindeln in und mit dem richtungslosen Taumeln."
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Für mich erfüllt die Aufführung alle im Stück aufgezählten Nutzenfunktionen. Danke für den wunderbaren Abend an alle Mitwirkenden.