Ich habe nicht am Anfang begonnen, sondern in der Mitte - Brunner, Schütz, Ulbricht und Žić befragen an der Gessnerallee Zürich ihre Familiengeschichten
Wer hat dich aufgeklärt?
von Andreas Klaeui
Zürich, 10. Oktober 2013. Am Ende läuft alles darauf hinaus: Es ist einfach ein sehr kindlicher Abend. Kindlich in dem Sinn, dass er vom Erwachsenwerden erzählt. Aus einer Nachwuchsperspektive, aus der Erschütterung heraus, dass das Leben ja nicht mit der Geburt beginnt. Sondern – wie es der Titel des Abends fasst – "in der Mitte". Dass da eine Frau war, vielleicht eine junge Frau, wie das Kind heute selber eine ist, die erst durch das Kind zur Institution Mutter wurde. Dass vorher Großmütter, Urgroßmütter schon junge Frauen waren. Dass man von ihnen eigentlich gar nichts weiß.
Kindlich ist dieser Abend in der Zürcher Off-Stätte Gessnerallee, an dem unter anderem die Überraschungsgewinnerin des Mülheimer Dramatikerpreises Katja Brunner mitwirkt, auch in einem formalen Sinn – "Ich habe nicht am Anfang begonnen, sondern in der Mitte" wirkt fast wie eine Familienaufführung im häuslichen Kreis. Mit viel Improvisation, manchen prägnanten Momenten und dazwischen verlegenem Warten aufs Stichwort. Und mit einer durchaus kindlichen Sensibilität für die wunden Punkte in der Familiengeschichte, auf die es lustvoll den Finger zu legen gilt.
Biografisches Durcheinander
Er beginnt wie der Dia-Abend bei Omas Geburtstag. Erinnerungsbilder aus dem Familienalbum, das Neugeborene, der Weihnachtsbaum. Katja Brunner, Amadea Schütz, Marie Ulbricht und Ivna Žić – alle vier mit Jahrgängen zwischen 1986 und 1991 – haben in ihren Schuhschachteln gewühlt und viel Hübsches gefunden, wie das halt so ist. An die vier Wände projiziert, wechselweise anekdotisch kommentiert, überlagern sich Bilder und Geschichten, ergänzen und widersprechen sich, geraten in einen Wettstreit und in ein biografisches Durcheinander.
Das ist hübsch im narrativen Gespinst – aber auch ziemlich unverbindlich. Interessant wird's an den Stellen, wo die drei Autorinnen-Performerinnen (Ivna Žić tritt nicht auf) die biografischen Erzählstrategien befragen. Wo sie den familiären Erinnerungskulturen ihren unvoreingenommen nüchternen Kinderblick entgegensetzen – was tut die Urgroßmutter da eigentlich auf dem Gemälde? Wo sie an ihre Vorgängerinnen die Fragen stellen, die im Leben nie gestellt werden: Wer hat dich aufgeklärt? An wen hast du beim Masturbieren gedacht mit 15?
Rosenduft und Vergänglichkeit
Das alles hat etwas Adoleszentes, es enthält eine gewisse Portion Naivität und viel Literatur. Es hat aber auch seine kostbaren, sehr anrührenden Seiten – zum Beispiel wenn die drei auf dem leeren Boden, wie bei einer Papier-Anziehpuppe, Schicht für Schicht die Omakleider übereinanderlegen, von der Unterwäsche bis zum Strickjäckchen, mit Brille, Ehering, Parfum (Rosenduft), und derart eine Gegenwart evozieren, die die Vergänglichkeit nicht verleugnet. Davon hätte es mehr gebraucht: von solchen Momenten, in denen die Performerinnen dem Themensturm Prägnanz und Bildkraft zu verleihen vermögen. So bleibt der Abend einigermaßen unstrukturiert.
Jaja, es ist was Schwieriges mit der eigenen Geschichte und der Familiengeschichte. Und gewiss, man soll auch von selbst zu leben lernen. – Vielleicht hätte es einfach einer strengeren Dramaturgie bedurft, und einer externen Regie.
Ich habe nicht am Anfang begonnen, sondern in der Mitte (UA)
von: Katja Brunner, Amadea Schütz, Marie Ulbricht, Ivna Žić
Bühne: Martina Mahlknecht, Kostüm: Sophie Reble, Musik: Daniel Sapir, Licht: Joshua Imgrüth, Dramaturgie: Larissa Bizer.
Mit: Katja Brunner, Amadea Schütz, Marie Ulbricht, Ivna Žić.
Dauer: 80 Minuten, keine Pause
www.gessnerallee.ch
www.produktionswerkstatt.ch
Mehr zur Mitperformerin und Dramatikerin Katja Brunner? Anlässlich des diesjährigen Heidelberger Stückemarktes hat Matthias Weigel die (spätere) Mülheim-Siegerin im Video porträtiert. Außerdem die Presseschau zu einem Interview mit Katja Brunner im Zürcher Tagesanzeiger aus dem Mai 2013.
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