Was hält uns zusammen wie ein Ball die Spieler einer Fußballmannschaft? - René Pollesch lamentiert in Stuttgart übers Wir und den irrlichternden Expansionsdrang
Abgang durch die Katzenklappe
von Steffen Becker
Stuttgart, 27. Oktober 2017. René Pollesch lässt am Schauspiel Stuttgart über das "WIR" schnellsprechen – über die Frage "Was hält uns zusammen wie ein Ball die Spieler einer Fußballmannschaft?". Das darf er eigentlich nicht, denn darüber hat schon Bundespräsident Steinmeier zum Tag der deutschen Einheit geredet. Und damit ist das Thema definitiv durch – uncool, nichts für Theateravantgarde. Aber Pollesch wäre nicht DER Pollesch, wenn er es nicht trotzdem zum Laufen kriegt.
"Mach dir keine Sorgen, das hat keine Handlung, du musst auch nicht ständig zuhören, lass es einfach wirken", sagt eine wildhaarige Zuschauerin zu ihrem konventionellen Begleiter. Das trifft es. Pollesch lässt Astrid Meyerfeldt auf der Bühne des Schauspiel Stuttgarts ergänzen: "Man kommt ins Theater, will eine Premiere spielen und alle sind besoffen." Das ist so der Rahmen, an den sich auch der Kritiker unbewusst hält dank eines hastig gestürzten Vorab-Bieres.
Damals Selbsterfahrungstrips, heute Selfie-Kultur
Nüchtern betrachtet geht es in dem Stück ums Ganze – den Planeten, der 1968 zum ersten Mal aus dem Weltall fotografiert wurde. Ein ikonisches Bild. Es symbolisiert, dass der Expansionsdrang des Menschen an seine äußeren Grenzen gestoßen ist. Er kehrte sich fortan nach innen – damals in Selbsterfahrungstrips von Hippies und heute in eine narzisstischen Selfie- und Hashtag-Kultur.
Das hat thematisch sicher auch was mit Kapitalismus und Entfremdung zu tun – hochgeistige Feuilletons werden das den Premierenzuschauern im Nachgang aufdröseln. Das Narzissmus-Stichwort gibt jedenfalls Gelegenheit, Donald Trump in die Inszenierung einzubauen – in Form kämpferischer "Pussy grabs back"-Rufe. Passend dazu schwebt aus einem gezackten Loch ein gekrümmtes rotes Etwas herab.
Für den angetrunkenen und schwulen Rezensenten sieht es aus, wie er sich eine mutierte Riesen-Klitoris vorstellt. Sie stellt sich später im Text aber als Zunge heraus. Andererseits spritzt das Ding dekorativ ab. Außerdem schreien die Schauspieler ständig FICKSÄUE. Irgendwas stimmt da also nicht. Aber egal, damit halten wir uns jetzt nicht auf.
Sex mit der Bowlingkugel
Auch die Darsteller meinen, "wir brauchen etwas, was die Handlung vorantreibt" – etwas Bedeutungsloses. Wir lernen von Pollesch: Im Film sind das meistens irgendwelche Gegenstände, die man (nach Hitchcock) "MacGuffin" nennt. Dinge prägen auch den Überbau des Stücks: "Ich würde gerne über ein Ding sagen können, dass das WIR sind, nicht weil wir darin leben, oder sitzen oder liegen, sondern weil es in der Lage ist, eine Gruppe zusammenzuhalten, wie etwa ein Ball die Spieler einer Fußballmannschaft", zitiert das Programmheft den Autor.
Man kann das im Maschinengewehrfeuer des Textes nicht reflektieren. Und hält sich daher an Einzelbeobachtungen fest. An den Beach Boys-Songs. Den 70er-Kostümen. Am bizarren Bühnenbild mit Tatzen-Thron und Tiger-Poster, das über eine Katzenklappe mit Juso-Logo verfügt (von Janina Audick). An der großartigen Astrid Meyerfeldt.
Sie spielt ihr ganzes komödiantisches Können aus: Wenn sie mit einer imaginären Bowlingkugel Bereitschaft zu Sex signalisiert und die weibliche soziale Sphäre des surrealen Herumstehens füllt, dann lachen die Singles im Publikum verzweifelt und der Rest befreit. Bei ihren Mitspielern wirken die Pollesch-Hektik, das Schimpfwort-Tourette ("FICKSÄUE") und die Schrei-Einlagen eher aufgesetzt, ihre Hysterie weniger lustvoll.
Chor ist der Star
Der Star des Abends ist jedoch ein 15-köpfiger Frauenchor. Der übernimmt nicht die übliche kommentierende Funktion, sondern spielt eine eigenständige Person. Das hohe Sprechtempo der Inszenierung untereinander und mit einer "Grease"-Performance zu synchronisieren passt zum Irrwitz der Inszenierung. Und wird dafür mit Zwischenapplaus gefeiert – und zum Schluss mit Standing Ovation. Wie auch der Abend. Da ist Wehmut dabei. Mit dem Ende der Ära des Intendanten Petras wird Pollesch in Stuttgart zunächst nicht mehr zu sehen sein. Dafür in Warschau. Im Text nimmt er denn auch ständig auf den polnischen Theateravantgardisten Grotowski Bezug. Oder auch das war nur eines der bedeutungslosen Dinge, die die Handlung vorantreiben.
Was hält uns zusammen wie ein Ball die Spieler einer Fußballmannschaft?
von René Pollesch
Uraufführung
Regie: René Pollesch, Bühne: Janina Audick, Kostüme: Svenja Gassen, Chorleitung: Christine Groß, Licht: Sebastian Isbert, Dramaturgie: Anna Haas.
Mit: Christian Czeremnych, Julischka Eichel, Astrid Meyerfeldt, Abak Safaei-Rad, Christian Schneeweiß. Frauenchor: Irene Baumann, Meike Boltersdorf, Agnieszka Bonomi, Hannah Günter, Vera Hötzel, Florentine Hötzel, Anja Hundsinger, Sarah Kempin, Natascha-Carmen Kleins, Caro Mendelski, Nasra Mohamed-Ali, Annika Ott, Isabel Pickl Bermejo, Paula Scheschonka, Charlotte Schön, Lina Syren, Frederike Wiechmann.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-stuttgart.de
"Polleschs jüngstes Stück: schwach wie kaum eines zuvor, das er in den vergangenen fünfzehn Jahren in Stuttgart gezeigt hat", so Roland Müller von der Stuttgarter Zeitung (29.10.2017). Es mäandere von Thema zu Thema, bringe kühne Verknüpfungen hervor, stelle steile Thesen auf und verrutsche dabei in eine oberschlaue Selbstzufriedenheit. "Polleschs Gestus dabei: Hört, was ich euch zu lehren habe! Sensationelles, Revolutionäres, Unerhörtes! Drunter macht er es nicht, wobei seine Haltung umso überheblicher wirkt, je weniger man als Zuschauer die Plausibilität der behaupteten Zusammenhänge erkennt."
Einen skurrilen Theaterklamauk sah Monika Köhler vom Südkurier (29.10.2017). Und ein absurdes Spektakel, von dem nicht klar sei, ob es noch Theater sei "oder schon in eine nächste, noch unbekannte Dimension vorgestoßen ist". "Statt zu schauspielern lässt Pollesch das Ensemble sich künstlich aufregen, sich gegenseitig persiflieren, Deklamation in Wiederholungsschleife zum Running Gag werden und mit gelungener Situationskomik aussprechen, was das Publikum sich schon die ganze Zeit fragt: Warum es hier keine Handlung gibt, man hier so rumschreien und dauernd irgendwelche Sätze wiederholen muss."
Aufs Neue von Pollesch überrascht ist Nicole Golombek von den Stuttgarter Nachrichten (30.10.2017). Der Abend sei vergnüglich, "völlig durchgeknallt", klug und schön. Aus dem Ensemble verdient sich vor allem eine ihr Lob: "Die anrührende, quirlige, sensationelle Astrid Meyerfeldt".
"Es gab schon wildere Pollesch-Abende“, bemerkt Otto Paul Burkhard in der Südwest Presse (30.10.2017). "Kapitalismuskritik in Schnellsprechtempo. Das fünfköpfige Schauspielerteam um Astrid Meyerfeldt fightet sich weitgehend absturzfrei und mit wenig Souffleuse-Einsätzen da durch – rasante Satzschleifen ständig am Rande des Nervenzusammenbruchs."
"René Pollesch scheint die Puste ausgegangen zu sein in dieser Schmalspurproduktion, die auf jeden Kameraeinsatz verzichtet, nur wenige Spielszenen bietet und ganz auf Meyerfeldts Stärke setzt", so Adrienne Braun in der Süddeutschen Zeitung (2.11.2017). Immer wieder überlasse Pollesch das Geschehen "wie erleichtert der Choreografin Nasra Mohamed-Ali, die mit dem Frauenchor lässige Formationen à la 'Grease' einstudiert hat".
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schön, dass es pollesch gibt ... und der einfach kunst macht, die sich an keinen "definitionsraum" hält. zwischenapplaus und standig ovationen sprechen für sich ... und pollesch ... und sein publikum
seine hinwendung zu grotowski zeigt sein tiefes verständnis für die konflikte der zeit - genau wie andererseits die wahl eines bp, der einen seiner "schutzbefohlenen" unschuldig in quantanamo einfach sitzen ließ ...
ein "gruß" an die journalisten, die diese fakten nicht erwähnen - scheinbar bedeutungslos da heruminterpretieren und >>> löschen ...
WER braucht diese bedeutungslosigkeit? lächerliche scheinautoritäten wie den bp? arbeitsplatzvernichter von künstlern wie castorf und pollesch?
Und Grotowski? Wirklich der? Grotowski und Pollesch?
Grotowski unterscheidet z.B. zwischen dem käuflichen und dem heiligen Schauspieler. Der käufliche Schauspieler lässt sich vergleichen mit der Kunstfertigkeit einer Hure. Dem käuflichen Schauspieler geht es nur um sich selbst. Der heilige Schauspieler dagegen zeige eine "Haltung des Gebens und Nehmens, die wahrer Liebe entpringt". (Grotowski, Für ein armes Theater)
Und dann aber dieses Ding da an der Bühnendecke? Nicht der Finger Gottes, der den Menschen bzw. Adam erschuf (siehe Michelangelo), ist ja auch ziemlich männlich dominiert, sondern die Zunge Gottes? Und dazu dann aber der katholisch-polnische Messianismus Grotowskis bzw. der "heilige Schauspieler, der das Sühneopfer wiederholt"?
Ein Dialog aus John Cassavetes Film ’Gloria‘, nachgesprochen von Astrid Meyerfeldt und dem Chor, lässt zum Schluss doch noch ein wenig Optimismus aufscheinen. Der Film handelt von einer starken Frau, die durch äußere Umstände gezwungen wurde sich um einen kleinen Jungen zu kümmern, der als Zeuge von Gangstern getötet werden soll. Der Junge fragt, ob er wohl sterben müsse. Gloria antwortet mit: „Wahrscheinlich ja, das System ist zu stark.“ Der Junge fragt zurück: „Haben es schon welche geschafft?“ und Gloria antwortet: „Ja, einige wenige schon.“
Langanhaltender Applaus und mehrmals Zwischenapplaus für die wirklich beeindruckende Leistung des Sprechchors.
Mir fiele zu der Katzen-, Tiger- oder Löwenpranke noch ein Auszug aus Peter Weiss' "Ästehtik des Widerstands" ein. Da wird problematisiert, dass die "Unteren" im Kampf gegen die "Oberen" auch noch übereinander herfallen. Schade. Zitat Weiss:
"Ich würde mich vor den Fries begeben, auf dem die Söhne und Töchter der Erde sich gegen die Gewalten erhoben, die ihnen immer wieder nehmen wollten, was sie sich erkämpft hatten [...] und blind geworden vom langen Kampf würden sie, die sich auflehnten nach oben, auch herfallen übereinander, einander würgen und zerstampfen, wie sie oben, die schweren Waffen schleppend, einander überrollten und zerfleischten, und Heilmann würde Rimbaud zitieren, und Coppi das Manifest sprechen, und ein Platz im Gemenge würde frei sein, die Löwenpranke würde dort hängen, greifbar für jeden, und solange sie unten nicht abließen voneinander, würden sie die Pranke des Löwenfells nicht sehn, und es würde kein Kenntlicher kommen, den leeren Platz zu füllen, sie müßten selber mächtig werden dieses einzigen Griffs, dieser weit ausholenden und schwingenden Bewegung, mit der sie den furchtbaren Druck, der auf ihnen lastete, endlich hinwegfegen könnten."
nach längerer Überlegung will ich mich nun doch einmal deutlich an Sie wenden, da es mich sehr stört, mit welcher Unaufmerksamkeit Sie diese Rezension verfassten.
Eine Unaufmerksamkeit, die bei den hier behandelten Themen häufig zu finden ist.
Natürlich kann man den maschinengewehrgefeuerten Text betrunken nicht reflektieren, daher kann ich diese Aussage von Ihnen wirklich nicht ernst nehmen. Die Mehrheit der 700 Zuschauer konnte dies scheinbar schon, was man am Applaus und Gelächter gut hören konnte.
Des Weiteren schreit der Chor mehr als 10 mal laut und deutlich „PUSSY GRABS BACK“ und nicht „PUSSY STRIKES BACK“. Dieses Aufgreifen der Reaktionen von Frauen auf Trumps Aussage „Grab them by the pussy“ wird hier von Ihnen falsch zitiert.
Dass durch den grandiosen Monolog von Astrid Meyerfeldt sowie durch andere Abschnitte im Text das Stück inhaltlich gut an die aktuelle Sexismus-Debatte anknüpft, verpassen Sie hier zu erwähnen.
In der wichtigen von Ihnen als „Sex mit der Bowlingkugel“ beschriebenen Szene wird auf humorvolle Art auf die sozialen Bereiche der Geschlechter und das Reduzieren der Frau auf ein „surreal herumstehendes“ sexuelles Objekt eingegangen.
Zunächst vielen Dank für Ihre Offenheit. Ich finde allerdings, dass sie auch beim Beschreiben des Bühnenbildes ein wenig zu salopp interpretieren, denn so sieht eine Klitoris nicht aus.
Ich würde mir wünschen, dass man sich in Ihrer Position ernsthafter mit den Inhalten auseinandersetzt bzw. aufmerksamer rezensiert.
Mit freundlichen Grüßen
(Anmerkung der Redaktion: das "Pussy"-Zital in der Kritik wurde nachträglich korrigiert.)
"Meine" Premiere dieses Stückes unterscheidet sich in zwei Dingen:
1. Es gab keine Standing Ovations. (Ich saß hinten. Ich hätte sie gesehen.)
2. Astrid Meyerfeld ist die einzige im Ensemble, deren Stimme keine Schreifunktion zu besitzen scheint (oder sich dieser Ästhetik völlig verweigert). Wie dann anscheinend die "Hysterie" bei ihr besser rüberkommen soll als beim Rest des Ensembles ("aufgesetzt"), weiß ich nicht.
Auch ich habe wie der Herr Nachtkritiker, in der Mitte des Saales sitzend, einige verteilte Standing Ovations beobachtet .
dazu möchte ich anmerken:
Die Hysterie und Energie, die ein Schauspieler/in auf der Bühne verköpern kann, hat hoffentlich nicht das geringste damit zu tun, wie gut, laut, penetrant er schreien kann mag oder nicht.
Ganz im Gegenteil, Wenn ich im Schauspiel ständig angeschrien werde ist das für mich meistens ein Zeichen dafür . dass der Regie/Darstellern keine bessere Idee eingefallen ist Ihrer Figur einige sonstige Form von Tiefe oder Kraft zu verleihen. Entschuldige dass ich das mal hier als Zuschauer so unverblümt loswerden mag und diese Gelegenheit gleich ausnutze
, aber es fällt mir in letzter Zeit öfter auf ,dass umso mittelmässigere die Inszenierung ist, ich umso öfter und lauter angeschrien werde.
Frau Profispielerin Meyerfeld hat bei ihrem Bowlingclimax meiner Ansicht nach, nur ganz subtil gezeigt, das sie es als Captain ein klein wenig besser kann als die U21 Jugendmannschaft.
Dennoch erweist sich spätestens nach neunzig Minuten der oben von Thomas Rothschild versprochene Geniestreich als zäher Arbeitssieg des Theaterkunstgewerbes.
pollesch trifft lösch, das ganze pausenlose gelaber und geschreie dreht sich komplett dramaturgiefrei im kreis und wird lähmende 80 min.lang zäh…und zäher!
die zuschauer blicken fassungslos auf die bühne und suchen irgendeinen roten faden- nix zu finden !
die liebloseste inszenierung seit jahren, (...)
aber die musik war gut!!!