Das Wirtshaus zur letzten Latern - Das Viertelfestival Niederösterreich lädt zu einem skurrilen, geheimnisvollen Abend in einem Wirtshaus im Wald
Stimmen aus dem Keller
von Gabi Hift
Rapottenstein, 27. Juli 2018. Tief im Wald, hinter den letzten Häusern von Rappottenstein im österreichischen Waldviertel, öffnet sich eine Lichtung und da steht das mysteriöse Wirtshaus zur letzten Latern. Zwei liebenswürdige Wirtsleute in schwarz, in die Jahre gekommene Grufties, wie's scheint (Alexandra Sommerfeld und Gilbert Handler), begrüßen die Gäste und kündigen die Freuden des Abends an: in Kürze soll eine prominente fünfköpfige Band eintreffen, die Köchin wird Köstlichkeiten auftischen, es gibt eine Tombola und die Liveübertragung einer Rede zur Nation.
Neue Lieblingslieder
Es ist, so erfahren wir, kein gewöhnliches Wirtshaus, es verschwindet immer wieder und materialisiert sich kurz darauf an einem anderen Ort. Die Wirtsleute selbst wissen nie wo sie landen werden, am Morgen waren sie noch in Lappland, immer wieder sollen Zuschauer verloren gegangen sein, die so unvorsichtig waren auf einen Sprung hinauszugehen. Davor werden wir gewarnt. Bis jetzt ist alles auf angenehme Art wie erwartet: Horror und Mystery, unheimliche Geräusche aus dem Keller, auf der Bühne steht ein Turm aus altmodischen Lautsprechern, eine Jukebox, die die Zuschauer besser kennt als die sich selbst und bei Geldeinwurf das Lieblingslied spielt von dem man selbst noch gar nichts wusste.
Aber dann werden nach und nach alle Erwartungen unterlaufen. Die Band hat sich verfahren und ist in Stockhausen (sic!) steckengeblieben, das versprochene Festmahl ist auf ein einzelnes Punschkrapferl zusammengeschrumpft, das die Wirtin versonnen selber aufisst. Bei ihren Moderationen schweift sie ab, verstummt auch mal ganz, den Wirt stört das kaum. Die Lotteriegewinne sind Teebeutel, auf denen "Zeit zu entspannen" steht. In diesem Universum scheint nicht einmal die Idee des Dramas zu existieren.
Die Wirtsleute unterhalten die Gäste nun selbst mit Moritaten (Text und Musik: Gilbert Handler) – "Tiefkühltruhe, im Keller steht a Tiefkühltruhe, und wenns ganz still ist in der Nacht, kannst es hören". Beide haben wunderschöne Stimmen und eine herrliche, campige Ironie. Alexandra Sommerfeld beherrscht die unmögliche Kunst, inbrünstig jubilierend zu singen und dabei amüsiert und unbeteiligt zu wirken. Inbrünstig und unbeteiligt – das ist natürlich ein Oxymoron und von denen tauchen bald immer mehr auf.
Ein skuriller Drahtseilakt
Die gesprochenen Szenen zwischen den Wirtsleuten sind von Karin Koller geschrieben und inszeniert. Sie hat einen ganz eigenen und skurrilen Humor – von ihr geschriebene Figuren reagieren oft schräg und merkwürdig. Als der Wirt seine Wut über einen Stromausfall an seiner Frau auslässt, scheint sie in einem Universum zu leben, in dem Aggression etwas anderes als bei uns oder einfach nichts bedeutet. Man muss sich Sommerfeld und Handler so vorstellen wie Artisten, die mit atemberaubender Konzentration auf einem Seil balancieren, das nur wenige Zentimeter über dem Boden gespannt ist. Dann steigt auch noch einer von ihnen herunter, einfach so, und gleich darauf wird weiter balanciert.
Die Wirtin hat auch eine kleine Sehnsucht: sie möchte mal wieder Schlittschuh laufen. Schon schnürt sie die Schuhe und trippelt mit Schonern auf den Kufen aufs Parkett. Im Theater kann es eigentlich nur zwei Möglichkeiten geben: entweder sie macht sich zur Lachnummer, oder sie zeigt wie ihre Sehnsucht stirbt und bringt alle zum Weinen. Aber Sommerfeld, die auch gelernte Tänzerin ist, skizziert eine ziemlich gelungene Kür: doppelter Rittberger, Toeloop, Arabesque. Ein bisschen lustig ist es schon, weil da ja kein Eis war – als ein tot geschoss‘ner Hase auf der Sandbank Schlittschuh lief – aber kein Drama, keine Comedy, nach welchen Regeln wird hier gespielt?
Und dann ist da noch der dritte Player, der Geist des Wirtshauses selbst, die akustische Inszenierung des Hausherrn, des Komponisten Günther Rabl. Das Ungetüm von Jukebox gehört mitsamt dem ganzen Raum zu einer eigenen Klasse von Darstellern – es sind die Geschöpfe Günther Rabls, Lautsprecher aus allen Jahrzehnten, auf denen er seine Kompositionen abspielt, elektroakustische, das bedeutet, er kann auf Tonträgern so arbeiten wie ein Bildhauer an seiner Skulptur. Ein riesiger Lautsprecherturm steht draußen auf der Wiese und verschiedene Geschöpfe residieren im Keller. Das Wirthaus, begreift man langsam, existiert in einem Zwischenreich zwischen Leben und Tod, das die Buddhisten "Bardo" nennen- das hier aber mit einer sehr Wienerischen Angstlust besungen wird- im wunderbaren Lied von Gilbert Handler: "Oft fühl I mi wie dem Schrödinger sei Katz‘ / Bin mir net sicher ob i scho hinich bin oder net."
Ein Chor im Keller
Aber das eigentlich Unheimliche sind mehr und mehr die Klänge und Gesänge von draußen und aus dem Keller. Unten singt ein Chor und man versteht fast den Text, die Melodie, man glaubt sie zu kennen und sie entschlüpft wieder. Unheimlich ist was wir nicht entschlüsseln können, das wir aber doch fast verstehen, das vertraut ist, wie die Stimmen der Eltern aus dem Nebenzimmer, als wir als Kinder wach im Bett gelegen haben. In einem letzten Lied singen die Wirtsleute: Ich will noch nicht gehen- und machen die Tore der Halle weit auf und gehen hinaus ins Finstere. Von draußen weht‘s kalt herein und schwarz, man hat die Bedeutung fast verstanden, und jetzt scheint der Mond und man kann draußen mit Wein hinunterspülen, dass einem ihr Zipfel doch wieder entglitten ist.
Das ist sehr fein und zart und hinterfotzig, ein Wienerischer Verwandter von Marthaler Etablissements und von Philip Quesnes "Melancholie des dragons". Möge das Wirtshaus seine Pforten noch an vielen geheimen Orten der Welt öffnen.
Das Wirtshaus zur letzten Latern
Regie: Karin Koller; Texte: Gilbert Handler, Karin Koller, Anestis Logothetis u.a.; Musik: Gilbert Handler, Günther Rabl u.a.; Künstlerische Leitung: Günther Rabl, Gilbert Handler; Bühne und Raum: Gernot Sommerfeld Tontechnik: Wolfgang Musil; Assistenz: Wagner Felipe dos Santos
Licht: Martin Schwab; Netzwerktechnik und Elektronik: Georg Danczul; Akustische Inszenierung: Günther Rabl.
Eine Produktion von VON KOPF BIS FUSS, in Kooperation mit ELECTRIC ORPHEUS ACADEMY
Mit: Alexandra Sommerfeld, Gilbert Handler.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause.
www.viertelfestival-noe.at
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