Die Möwe - Nationaltheater Mannheim
Tanz der Zeittotschläger
von Esther Boldt
Mannheim, 29. November 2019. "Es ist leicht, auf dem Papier zu philosophieren. Aber wie erträgt man dieses Leben?", fragt Kostja. Für einen Moment erstarren die Gesten der Umstehenden, für einen Moment herrscht Schweigen. Dann lachen und plaudern sie weiter, als sei nichts geschehen. Dabei ist die ganze Gesellschaft bereits vergilbt, steckt in fast ununterscheidbaren, sonnengelben Anzügen und Kleidern. Der Sturm der Gezeiten hat sie wieder an diese Küste gespült, wie Strandgut. Allein, die Jahre sind nicht spurlos an ihnen vorübergegangen.
Sie leben, lieben und leiden aneinander vorbei
Dabei haben sie vorher noch florale und ornamentale Muster getragen, in violett, pink, schwarz und grün. Haben versucht, die Ritzen aufzuspüren oder gar die Hebel, um ihren Leben noch etwas Anderes abzuringen, einen Funken Glück, Liebe oder gar die große Kunst. Es ist ihnen nicht gelungen. Und so ist ihre heitere Exzentrik der Unterschiedslosigkeit gewichen.
Christian Weise inszeniert Tschechows bittere Komödie "Die Möwe" am Nationaltheater Mannheim, die Geschichte einer Gesellschaft, die den sich ankündigenden Veränderungen mit Erstarrung begegnet. In der Einöde des Landlebens, das hier weniger als luftige Sommerfrische daherkommt denn als kollektiver Zeittotschlag, leben, lieben und leiden sie aneinander vorbei: die eitle, selbstsüchtige Schauspielerin Irina und ihr etwas mimosenhafter Sohn Konstantin, der sich bekanntlich nach einem Theater der "neuen Formen" sehnt, der tüddelige, aber erfolgreiche Schriftsteller Trigorin und die naive Nina. Der Arzt Dorn, der Lehrer Medwedenko, Mascha, die Tochter des Gutsverwalters Ilja. Bis sie ihr Leben verplempert und vergeudet haben, die Falschen geliebt, das Falsche getan, das Falsche unterlassen. Und bis sie alle gleich sind, in ihrem Fehlen.
Bodenwelle ins verpasste Glück
Paula Wellmann hat der "Möwe" eine mit gelbem Teppich belegte Bodenwellenbühne gebaut, in drei Bögen nach hinten ansteigend. Sie kündet gleich zu Anfang von stürmischen Zeiten: Ein weicher, sanfter Ort, der sich doch hervorragend eignet zum Fallen und zum Stolpern. In einer Welle sitzt der Musiker Jens Dohle an der Orgel, und spielt die immergleichen Loops. Alle Schauspieler*innen sind stets auf der Bühne, belauern einander und bezeugen das Geschehen – oder sie tanzen, Schatten gleich, wie von Wind verweht über die Wellen.
Weise, Hausregisseur in Mannheim, inszeniert Tschechows vielgespielte "Möwe" als träumerische Groteske mit schön schrägen Momenten: Da ist beispielsweise Irina, von Johanna Eiworth als wunderbar selbstverliebtes, kontrollsüchtiges Biest angelegt. Als Trigorin sie für Nina zu verlassen droht, rückt sie ihm den Kopf gerade, in einer Verführungsszene von zärtlicher Bestimmtheit redet sie auf ihn ein, formt seine Lippen zwischen ihren Fingern, bis er nachgibt und sich wachsweich zurück in ihre Liebe presst.
Von der Unmöglichkeit der Selbstermächtigung
Christoph Bornmüllers Trigorin ist ein ausgesprochen tölpelhafter Dichter mit runden Schultern und flehenden Händen, der ungeschickt über die Bühne rutscht und fällt und in Verlegenheit gerät, wenn er, von der exaltiert-forschen, etwas dümmlich wirkenden Nina gedrängt, von sich selbst sprechen soll. Mehr Blättchen im Wind als Herr seines eigenen Lebens. Aber da befindet er sich ja in bester Gesellschaft.
Wo die Welt sich wandelt, beharrt diese Gesellschaft auf ihrem eigenen Unglück, auf der Unmöglichkeit, sich selbst zu ermächtigen. Sich zu entscheiden. Christian Weise und dem gut aufgestellten Mannheimer Ensemble gelingt ein berückender, eigenwilliger, sanfter und todtrauriger Theaterabend, an dem Träume der Protagonist*innen bleischwer wiegen und die Zeit doch wie im Tanz vergeht.
Die Möwe
von Anton Tschechow
Aus dem Russischen von Angela Schalenec
Regie: Christian Weise, Bühne und Kostüme: Paula Wellmann, Musik: Jens Dohle, Licht: Robby Schumann, Dramaturgie: Sascha Hargesheimer.
Mit: Johann Eiworth, László Branko Breiding, Boris Koneczny, Vassilissa Reznikoff, Eddie Irle, Almut Henkel, Sarah Zastrau, Christoph Bornmüller, Patrick Schnicke, Rocco Brück.
Premiere am 29. November 2019
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.nationaltheater-mannheim.de
Kritikenrundschau
Heribert Vogt von der Rhein-Neckar-Zeitung (2.12.2019) lobt "klasse Darsteller" und "frappierende Bühneneffekte". "Scheinbar ohne Zusammenhang werden die Menschen vom Schicksal hierhin und dorthin gespült. Aber dennoch gibt es den vitalen Traum von einem glücklichen Leben." Der Zuschauer sehe die Schaumkronen unerfüllter Sehnsucht auf den Wellen tanzen. "Und diese werden einmal eine neue Zeit erreichen. Die Hoffnung lebt also weiter – und deshalb auch in der Übergangsgesellschaft unserer Gegenwart."
"Dass Tschechows Figuren in ihrer Komik oft lächerlich wirken, ist bekannt. Doch Christian Weise vertraut ihrer langweiligen Durchschnittlichkeit, den Anzeichen einer weltmüden Vergeblichkeit nur selten. Wo man feine Seelenschwankungen erwartet, entscheidet er sich oft für derbe Reizbarkeit", schreibt Alfred Huber vom Mannheimer Morgen (2.12.2019).
"Christian Weise inszeniert Tschechows Möwe als einen Kreislauf aus unerwiderten Gefühlen und leeren Posen." Die Gattungsbezeichnung Komödie führe in die Irre. Der Grundton dieses Stücks sei wehmütig, so Daniel Stender vom SWR (30.11.2019).
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