Verirrt im Prosa-Labyrinth

2. Juli 2022. Zum Auftakt der 71. Festspiele in Bad Hersfeld verwandelt sich die Ruine der Klosterkirche in ihr Pariser Gegenstück, "Notre Dame". Kann die Bühnen-Bearbeitung des weltberühmten Romans von Victor Hugo, die Festspiel-Intendant Joern Hinkel besorgt, mit den optischen Schauwerten mithalten?

Von Michael Laages

"Notre Dame" in der Regie von Joern Hinkel © Bad Hersfelder Festspiele / S. Sennewald

2. Juli 2022. Auch wer eigentlich gar nicht so gern achtet auf die gesellschaftspolitische und historische "correctness" auf der Theaterbühne, wird hier aus dem Staunen nicht herauskommen – denn vollkommen unreflektiert erzählt Joern Hinkel, Intendant der Festspiele in Bad Hersfeld, in der Inszenierung der romantischen Legende von Quasimodo, dem gespensterhaft verunstalteten Glöckner von Notre Dame, auch die schauerlichen Vorurteile um die verführerische Straßen-Tänzerin Esmeralda mit, die im Paris des späten 15. Jahrhunderts dem unsteten Volk der "Zigeuner" zugeordnet wird und als "Ägypterin" verschrien ist. Im Programmheft wird dazu der "Gypsy"-Begriff hergeleitet vom Land am Nil; in aller Absurdität: von dort kämen die unerwünschten Fremden direkt über Polen nach Paris.

Rassistische Schauergeschichten neben hehrem Humanismus

All das wäre natürlich nur folkloristischer Blödsinn, geschuldet dem unaufgeklärten Geist der Zeit und also vielleicht nur halb so schlimm – weil aber nicht mal die Szenen bearbeitet sind, die die allerältesten und fundamental rassistischen Schauergeschichten von Kindsraub und schlimmeren Vorwürfen beglaubigen, muss sich das Inszenierungsteam um Joern Hinkel schon fragen lassen, wie es mit so einer Arbeit die hehren humanistisch-demokratischen Begrüßungsworte rechtfertigen will, mit denen die 71. Ausgabe des ruhm- und traditionsreichen Festivals natürlich auch begonnen hat.

Kurz – "Notre Dame", das Stück zum Start, suhlt sich zeitweilig geradezu in den uralten (und, so heisst es natürlich im Programmheft, "haarsträubenden") Mustern des historischen Anti-Ziganismus. Schon das sieht nicht gut aus.

Schwieriger Schwung in die nächste Szene

Auch darüber hinaus allerdings tut sich das Hersfelder Team enorm schwer mit dem historischen Roman. Hinkel und Dramaturg Tilman Raabke versuchen sich in einer Art Gleichgewicht zwischen Spielen und Erzählen. Teile des vielköpfigen Ensembles, Bettina Hauenschild etwa, Jürgen Hartmann und der langgediente Hersfeld-Gast Günter Alt, haben oft die Geschichte erzählerisch in Schwung zu halten, bis die Fabel im jeweils nächsten szenischen Raum angekommen ist und dabei die zentralen Figuren neu mischt. Von denen gibt es in diesem Roman-Fall enorm viele: Quasimodo, den Glöckner (kunstvoll verunstaltet spielt ihn Robert Nickisch), und Esmeralda, die "Zigeunerin", die alle Männer verzaubert, das Leben aber mit einer "Schwester" teilt, die allen als "Ziege" erscheint – Cathrine Sophie Dumont und Karla Sengteller sind ein ziemlich demonstratives Mädchen-Paar.

NotreDame 2 BadHersfelderFestspiele SSennewald uDie Schöne und das Biest: Esmeralda (Cathrine Sophie Dumont) und der Domprobst (Richy Müller) © Bad Hersfelder Festspiele / S. Sennewald

Erst dann kommt der aktuelle "Star" des "Notre Dame"-Personals ins Spiel: Richy Müller, sonst überwiegend "Tatort"-Kommissar in Stuttgart, als Claude Frollo, finstrer Domprobst der Kirche, entflammt in Liebe zur schönen Esmeralda und ist zum Äußersten bereit, um sie zu gewinnen. Erfolglos – Quasimodo, eine Art Findel-Sohn des Kirchenmanns, zerrt Esmeralda in die Kirche, wo sie für kurze Zeit Asyl und Schutz findet. Frollos Wahn gibt aber keine Ruhe – die schöne junge Frau wird hingerichtet, der Glöckner stürzt den Ober-Intriganten vom Turm der Kirche in den Tod.

Verloren ist der finstre, tragische Zauber der Vorlage

In Hugos extrem verschachtelter Personnage kommen aber auch noch ein armer, in "Zigeunerin" und Ziege zugleich verliebter Dichter (Matthias Schlung) und ein eitler Militär vor (Oliver Urbanski), dem Esmeralda unglücklich verfällt; außerdem Anouschka Renzi in einigen mehr oder minder verruchten Frauenrollen sowie viel Arme-Leute-Volk und verwöhnte Nichtsnutze; wer es ernsthaft aufnehmen wollte mit dem Reichtum des Roman, müsste ihn aber auch in den Reichtum eines klugen Theater-Stoffes zwingen.

Der Text in Bad Hersfeld hingegen ist sehr arm. Er, nicht die fatale Historizität der "Zigeuner"-Problematik, ist das ärgste Problem des Abends.

NotreDame 6 BadHersfelderFestspiele SSennewald uViel Arme-Leute-Volk und wenig erzählerischer Reichtum © Bad Hersfelder Festspiele / S. Sennewald

Nur den Windungen und Wendungen der verschachtelten Fabel will (und kann) er auf der Spur bleiben, damit ist er (und ist die Regie) vollauf beschäftigt – keiner der Figuren aber kommt er wirklich nahe, niemandem, keiner Figur, gibt er wirklich Tiefe und Profil. Einzig Richy Müllers aller Sicherheit des Glaubens beraubtem Kapuzenmann sind wirklich reflektierte Passagen vorbehalten; daneben aber ist der Roman weithin derart plump und platt aufbereitet, dass der finstre, tragische Zauber der Vorlage auf der Bühne nicht zum Leuchten gebracht werden kann.

Faszinierendes Flimmern im Bühnenbild

Nur der einzigartige Ort in Bad Hersfeld ermöglicht ein bisschen Magie – mit neuer Mapping-Technologie aus dem Computer lassen sich Bilder von Außen- und Innenräume der historischen Pariser Kathedrale auf das Hersfelder Ruinen-Gemäuer projizieren, darüber hinaus auch eine Art flimmernder Stadtplan-Grundriss, wenn der verzweifelte Domprobst sich zu Beginn des zweiten Teils orientierungslos durch die Pariser Gassen treiben lässt. Verschiebbare Kulissentürme markieren den wuchtigen mittelalterlichen Kirchenbau; der vielbewährte Jens Kilian ist ja mittlerweile Spezialist für den riesigen Hersfelder Bühnenraum.

Wäre hier etwas zu retten gewesen? Kaum. Anders als im Vorjahr mit dem "Club der toten Dichter" sowie dem Goethe-Musical (beide jetzt wieder im Spielplan neben "Notre Dame" und Ende nächster Woche Ben Jonsons "Volpone") sind die Bad Hersfelder Festspiele zu Beginn der 71. Ausgabe krachend gescheitert: an der eigenen Ambition. Und an einem über die Zeiten hinweg bedeutenden Roman.

 

Notre Dame
nach dem Roman von Victor Hugo bearbeitet von Joern Hinkel und Tilman Raabke
Regie: Joern Hinkel, Bühne: Jens Kilian, Kostüme: Daniela Selig, Musik: Jörg Gollasch, Lichtdesign: Ulrich Schneider, Sound-Design: Joerg Grünsfelder, Mapping: Maximilian Pfisterer, Sheidan Zeinalov, Choreographie: Richard Weber, Dramaturgie: Tilman Raabke.
Mit: Günter Alt, Cathrine Sophie Dumont, Peter Englert, Jürgen Hartmann, Bettina Hauenschild, Kristina Kufner, Luca Lehnert Richy Müller, Robert Nickisch, Torsten Nindel, Anouschka Renzi, Karla Sengteller, Matthias Schlung, Oliver Urbanski, Lara Aylin Winkler, Kindern und großer Statisterie.
Premiere am 1. Juli 2022
Dauer: 3 Stunden mit einer Pause

www.bad-hersfelder-festspiele.de

 

Kritikenrundschau

Durchweg sei die Produktion gut besetzt, so Hadwiga Fertsch-Röver von HR2 (4.7.2022). Für Cathrine Sophie Dumont Esmeralda hätte sich die Kritikerin jedoch mehr Raum und Rätselhaftigkeit gewünscht. Sehr beeindruckt war sie von Robert Nickisch: "Ganz tolle Schauspielerleistung, unbedingt preisverdächtig!"

"An vielen Stellen gut, an manchen sogar hervorragend“, so lautet das Urteil des Kritikers Hans Riebsamen von der FAZ (4.7.2022). "Nach und nach nimmt die Geschichte Fahrt auf, wird immer dichter und läuft nach der Pause auf einen optischen und dramatischen Höhepunkt zu.“ Richy Müller lasse allein schon durch seine starke Bühnenpräsenz erschaudern. Robert Nickisch gelinge es, den menschlichen Kern in dem scheinbar tierhaften Glöckner freizulegen. "Besonders auffällig war zudem der kluge Einsatz der Musik, die Stimmungen verstärkt und die Wahrnehmung des Publikums an wichtigen Stellen lenkt."

Kommentare  
Notre Dame, Bad Hersfeld: Schlecht
Die Show war schlecht, anders kann man es nicht sagen. Wieso?

Lächerliche unsinnige Kostüme, die direkt von AliExpress oder einem vergessenen Secondhand-Laden zu kommen schienen.

Schlechte, amateurhafte Einsatz von Requisiten und Bühne.

Mangel an sinnvollem Schauspiel und die Monotonie der Erzählenden.

Die oft -sich durch das bisschen Text- kämpfenden Schauspieler (...)

Die völlig unpassende Musikauswahl und unterbenutzte Beleuchtung. (...)

Zu keinem Zeitpunkt wird das Publikum wirklich auf die Tragödien aufmerksam gemacht, die in dieser Geschichte verwoben sind, und zu keinem Zeitpunkt wird irgendeine glaubwürdige Beziehung zwischen den Charakteren hergestellt.
Notre Dame, Bad Hersfeld: Enttäuschung
Diese Inszenierung ist das letzte was je auf einer Bühne erlebt habe. in der Pause sind wir gegangen um mir nicht noch Frust aufzubauen. Auf diese Aufführung habe ich mich mit meiner Frau sehr gefreut und viel Geld ausgegeben. Diesen Regisseur sollte man in die Wüste schicken. Durch die sehr spät beginnende Vorstellung musste ich auch noch eine Übernachtung buchen, da nach der Vorstellung eine Rückfahrt mit der Bahn nicht mehr möglich war. Ob wir jemals wieder eine Vorstellung in Bad Hersfeld besuchen werden ist fraglich, so tief sitzt die Enttäuschung..

Heinrih Jakobi
Notre Dame, Bad Hersfeld: Schade um's Geld
Dieses Theaterstück ist das Schlechteste was ich je gesehen habe. Im ersten Akt ist überhaupt nicht zu erkennen, um was es geht. Die Handlungen total verwirrend und undurchschaubar!
Die Zeiten wechseln ständig hin und her, die Kostüme passen nicht wirklich und die Musik auch nicht!
Wäre ich alleine da gewesen, wäre ich in der Pause am liebsten nach Hause gegangen.
Wobei der zweite Teil dann etwas besser war, aber trotzdem schade fürs Geld!
Notre Dame, Bad Hersfeld: Robert Hossein
Dass man auch aus diesem Stoff ein aufregendes Monumentalspektakel machen kann, hat Robert Hossein 1978 im Palais des Sports bewiesen. Vielleicht muss man dafür Franzose sein.
Notre Dame, Bad Hersfeld: kaum Emotion
Auch die Sitzplätze relativ weit nach hinten waren teuer, häufig konnten wir aber nicht erkennen, wer die Geschichte weiter erzählte.

Die Romanfiguren waren hier auf der Bühne oft nicht glaubwürdig. Esmeralda war als Tänzerin nicht so verführerisch. Quasimodo war nicht so schrecklich - er war mehr wie ein freundlicher Handwerker der irgendwann in der Vergangenheit sich verletzt hatte. Esmeralda und Mutter treffen sich zum ersten Mal nach x Jahren - kaum Emotion. Esmeralda wird dann erschossen, Mutter schaut nur rum. Quasimodo schüttet kochendes Öl in die Menschenmenge, aber niemand schreit.

Und die Pausen zwischen den Redebeiträgen: A sagt was....1,2,3,4.....dann B sagt was. Kein Wunder dass es dann 2,5 Std dauert!

Sorry, es hat für uns nicht geklappt!
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