What you see is what you get

4. September 2022. Alles anders bei der diesjährigen Wiesbaden-Biennale? Auf jeden Fall hat das Festival mit Kilian Engels einen neuen Leiter – dem tatsächlich nicht weniger vorschwebt als eine Umbesetzung des Ortes. Mit Menschen, die bislang auf der Bühne unterrepräsentiert sind.

Von Esther Boldt

"GhostFolk" von River L. Ramirez bei der Biennale Wiesbaden © Constanza Meléndez

4. September 2022. Nun also wieder das Foyer. Mit all seinem neobarocken Kitsch, marmorn und gülden, mit seiner Freitreppe, den antikisierenden Säulen, den barbusigen Figuren und dem Preußischen Adler, der über allem thront. Bereits die beiden Wiesbaden Biennalen 2016 und 2018, kuratiert von Maria Magdalena Ludewig und Martin Hammer, nahmen das aus heutiger Sicht so puppig-winzige wie höchst exzentrische Foyer des Hessischen Staatstheaters ins Visier, das – wie der gesamte Theaterbau – so viel älter tut, als es ist.

Während Ludewig und Hammer bei ihren stets wuchtig und lautstark daherkommenden Biennalen im Foyer erst ein Hotel, dann einen Supermarkt einrichteten, arbeitet sich ihr Nachfolger Kilian Engels unmittelbarer an der Geschichte des Gebäudes ab (wobei die Gegenwart gerade auch schon deftige Fragen aufwirft). Zur Eröffnung des Festivals verbindet die Architektin und Kulturwissenschaftlerin Tazalika M. te Reh recht virtuos eine Kurzeinführung in die Historie des Gebäudes (errichtet im Auftrag Kaiser Wilhelms II., eröffnet 1902, inklusive Kaiserloge) – über die Machtverhältnisse, die das Foyer zugleich reproduzierte und verschleierte, mit einem imaginären Richtfest der Biennale als ideelles Gebäude und Beobachtungen über die Möglichkeit, Räume und Konstruktionen neu zu lesen und anders zu erzählen.

Kritik am Stadttheatersystem

Soll doch genau dies hier passieren: Nicht weniger als eine Umbesetzung des Ortes schwebt Kilian Engels vor, der zuvor Chefdramaturg am Münchner Volkstheater war sowie Kurator des dort angesiedelten Festivals "Radikal jung" und stellvertretender Leiter der Otto-Falckenberg-Schule. Er, der bis 2020 am Stadt- und Staatstheater zu Hause war, versteht seine Tätigkeit als Kurator der Wiesbaden Biennale als "Befreiungsschlag" und übt scharfe Kritik am Stadttheatersystem: "Was ich gerade mache, hat viel mit dem zu tun, was ich in der Vergangenheit getan habe. Die Hierarchien dort, die Repräsentation, die misogynen, rassistischen, homophoben Stoffe des Kanons, das nehme ich alles als anachronistisch wahr." Um die Möglichkeiten des deutschen Theaterbetriebs neu auszuloten, habe er nun diejenigen auf die Bühne holen wollen, die dort bislang unterrepräsentiert sind. 

Was unzweifelhaft ein Gebot der Stunde ist und ein Paradigmenwechsel, mit dem sich viele Theaterschaffende seit Jahren sehr differenziert und engagiert befassen – in der freien Szene, die unter anderem den postkolonialen Diskurs erst ins deutschsprachige Theater brachte, bereits deutlich länger. Wege, diesen (eigentlich eine gesellschaftliche Mehrheit ausmachenden) 'Randgruppen' auf eine angemessene Art und Weise Raum zu geben, sie ins Zentrum zu rücken, werden vielerorts erprobt. Einfache Antworten auf das "Wie" gibt es leider nicht. Denn wenn die "Präsentation der Marginalisierten" wie bei der Wiesbaden Biennale als primäre kuratorische Klammer benannt wird, ruft dies natürlich offene identitätspolitische Fragen wach – beispielsweise: Manifestieren sich Zuschreibungen nicht durch ihre Wiederholung? Und können die einzelnen künstlerischen Arbeiten, derart stark gelabelt, noch für sich stehen und unabhängig von diesen Diskursen rezipiert werden?

Ghost Folk 1 805 u Constanza MelendezTänzeln auf der Metaebene: River L. Ramirez in "GhostFolk" © Constanza Meléndez

Doch zum Glück gibt es ja Künstler:innen wie River L. Ramirez, New Yorker Comedian, Musiker:in und Schriftsteller:in, mit grünem Haar, E-Gitarre und irisierender Stimme, und mit der Show "GhostFolk", in der River irgendwo zwischen Konzert und Comedy mit süffisanter Ironie Songs über gebrochene Herzen singt und anarchische Konzepte in den Raum stellt wie das einer Baby-Ökonomie. Dabei tänzelt River stets auf der Metaebene, persifliert Zuschreibungen, auf dass diese unwirksam werden, inszeniert und stilisiert die eigene "Marginalisierung" und reißt Witze darüber, nicht witzig zu sein. So richtig mag der Funke dennoch nicht überspringen.

Melancholische Bewegungen im leeren Raum

Aber da ist ja noch The Köln Concert von Trajal Harrell, US-amerikanischer Tänzer und Choreograf, seit 2019 Hausregisseur am Schauspielhaus Zürich, ein Eröffnungsstück wie eine warme Publikumsumarmung, in dem schöne junge Menschen zu Keith Jarretts berühmtem Klavierkonzert melancholische Bewegungen im leeren Raum vollführen. Schon 2018 war Harrell bei der Biennale zu Gast, als Schwarze Geisha. Im "Köln Concert" kommen die Leitmotive seiner Arbeit zusammen: Sein Faible für Mode und für Butoh, für Voguing und die Zerbrechlichkeit des Seins. Sieben Tänzer:innen in gekonnt re-arrangierter Kleidung (häufig: Tänzer, die nur einen Träger ihres Kleides über der Schulter tragen, sodass die andere freiliegt; oder auch: tiefe Rückenausschnitte, die vorn getragen werden) versenken sich in Jarretts Klavierspiel, entwickeln flirrende Soli und scheinen bewegt ob des eigenen Bewegtseins.

Ein so dekorativer wie nichtssagender Abend. Isolierte Figuren, im eigenen Lebensschmerz versunken, in tragischer Schönheit über die Bühne gleitend. Großer amerikanischer Kitsch, allenfalls emotional stimulierend, doch nicht intellektuell. Oder: Ein Stück, das nicht mehr sein will als das, was es darstellt, das nicht die Abstraktion sucht, sondern die Buchstäblichkeit, das keine Reste und Spuren produziert, keine offenen Enden, die von den Zuschauenden verknüpft, ergänzt, assoziiert werden dürfen. Eine Buchstäblichkeit, die im Übrigen auch andere Festivalarbeiten kennzeichnet: What you see is what you get.

Wie beispielsweise "Resistencia" des feministischen Kollektivs LASTESIS aus Chile. Im November 2019 wurde LASTESIS über Nacht bekannt, weil sein Video der Chor-Choreografie "Un violador en tu camino" ("Ein Vergewaltiger auf deinem Weg“) viral ging, mit der hunderte Frauen in Santiago gegen strukturelle Gewalt gegen Frauen protestierten, die in Chile ausgeübt wird von Polizisten, Richtern, Politikern. Nun waren bis zu 60 Wiesbadener:innen geladen, mit LASTESIS eine Choreografie zu entwickeln, auch basierend auf den eigenen Erfahrungen. Gekommen sind etwa zwanzig. Im Park hinter dem Staatstheater tanzen sie auf der Wiese, rufen ihre Wutchöre in den heraufdämmernden Abend, teilen ihre Gewalterfahrung, insistieren darauf, dass nein nein heißt. Das ist eindringlich, mitreißend, schmerzhaft.

Fröhlich aufeinanderprallende Welten

Und doch: Wer würde dem hier ernsthaft widersprechen? Gegen wen richtet sich der Protest, der, so wirkmächtig Patriarchat und Kapitalismus weltweit sind, in Wiesbaden doch andere Gegenüber und Akzentuierungen haben müsste als in Santiago de Chile? Und wäre es für diesen Hybrid zwischen politischem Protest und Performance nicht wirkungsvoller gewesen, wirklich in den Stadtraum hinauszugehen, auf die Straße, zu Passant:innen und einem sich zufällig einfindenden Publikum?

Fraglos ist das Programm der Biennale spannend und ambitioniert, viele der geladenen Produktionen laufen oder liefen in diesem Jahr auch auf Festivals wie "Tanz im August" in Berlin, dem Sommerfestival bei Kampnagel in Hamburg oder der Ruhrtriennale, viele Künstler:innen – wie Samira Elagoz, Dorothée Munyaneza und Alexandra Bachzetsis beispielsweise, die in den nächsten Tagen nach Wiesbaden kommen – sind aus guten Gründen seit Jahren fester Bestandteil dieser Festivalszene. Doch es reicht eben nicht aus, diese angesagten Produktionen einzukaufen, Festivals bedürfen eines sorgfältig, nun ja, kuratierten Rahmens, der der Biennale in diesem Jahr weitgehend fehlt. Sie geht nicht hinaus in die Stadt, beispielsweise, auch lokale Institutionen, Initiativen und Communities sind kaum präsent. Trotz des voraussetzungsreichen Programmes gibt es keine Austauschangebote, keine Podiumsdiskussionen, keine Einführungen und Künstler:innengespräche.

Auch das ist ungewöhnlich für ein internationales Festival, doch Kurator Engels meint: "Ich sehe das nicht als didaktische Veranstaltung hier, es geht um Kunst, ich halte die Produktionen selbst für absolut zugänglich." Ach ja, und Untertitel bei englischsprachigen Produktionen gibt es auch nicht. Das mag alles auch damit zusammenhängen, dass der Biennale 2022 deutlich weniger Geld zur Verfügung stand als in den Vorjahren, unter anderem weil es nicht gelang, Bundesförderung zu erhalten. Doch es hätte dem Festival gutgetan, die klaren künstlerischen Positionen fürs Gespräch zu öffnen und die Reibungen, die sich zwischen Programm und Ort unweigerlich auftun, in einer Form gestaltend zu begleiten. So aber prallen die Welten fröhlich und unvermittelt aufeinander. Für wen, fragt man sich zwischendurch, ist dieses Festival eigentlich gemacht? Nun, einige Tage bleiben Stadt und Biennale ja noch, zusammenzufinden. Oder auch nicht.

 

The Köln Concert 
von Trajal Harrell
Choreografie, Bühne, Kostüme, Regie: Trajal Harrell, Dramaturgie: Katinka Deecke, Musik: Keith Jarrett, Joni Mitchell, Licht: Sylvain Rausa.
Mit: Titilayo Adebayo, Maria Ferreira Silva, Trajal Harrell, Nojan Bodas Mair, Thibault Lac, Songhay Toldon, Ondrej Vidlar.
Premiere am 12. September 2020 in Zürich
Dauer: 60 Minuten, keine Pause 

Resistencia o la Reivindicación de un Derecho Colectivo (Widerstand oder die Einforderung eines kollektiven Rechts) 
von LASTESIS
Mit: LASTESIS (Daffne Valdés Vargas, Paula Cometa Stange, Lea Cáceres Díaz, Sibila Sotomayor Van Rysseghem) und Wiesbadener:innen.

Premiere am  7. März 2021 beim Festival Santiago a Mil, Santiago de Chile
Dauer: 40 Minuten, keine Pause 

GhostFolk 
von River L. Ramirez
Gitarre/Vocals/Performance: River L. Ramirez.
Mit: Sarah Galdes (Schlagzeug), Teeny Lieberson/Lou Tides (Bass, Gesang).
Premiere am 18. Oktober 2021 in New York 
Dauer: 60 Minuten, keine Pause 

www.wiesbaden-biennale.eu

 

 Kritikenrundschau

"Genau 30 Jahre nach der Gründung des einst vorbildlich paneuropäischen Theatertreffens der 'Neuen Stücke' verabschiedet sich die Biennale Wiesbaden dezidiert von jeglichem Theater traditionellen Zuschnitts", schreibt Eva-Maria Magel im Rhein-Main-Teil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2.9.2022). "Keine inszenierten Texte, keine Akteure, die Gedanken anderer darstellten, solle es geben, hat Engels, einst Dramaturg am Münchner Volkstheater, angekündigt. Das ist konsequent umgesetzt." Dennoch zieht die kurze Hauptshow des ersten Abends, Trajal Harrells Choreographie für sieben Tänzer "The Köln Concert" vom Schauspielhaus Zürich, dem Eindruck der Kritikerin zufolge "das klassische Wiesbadener Theater- und Festivalpublikum an." Die Performance 'Resistencia' der chilenischen Aktivistinnen von Lastesis, entwickelt mit Wiesbadenerinnen und Wiesbadenern, wie Magel schreibt, mache auf Gewalt vor allem gegen Frauen und queere Personen aufmerksam und das Recht auf Eigenständigkeit und Sicherheit geltend. "Auf einer Tanzfläche mitten in der Grünanlage und sehr auf die chilenisch-südamerikanischen Verhältnisse zugeschnitten, verfehlt der aktivistische Einsatz allerdings seine Wirkung."

"Wie fruchtbar Engels' Konzept sein kann, die Biennale um 'andere Menschen' kreisen zu lassen als gewohnt, machte der Eröffnungsvortrag der Architektin Tazalika M. te Reh deutlich, die im Foyer des mit Kaiser Wilhelm II. verknüpften Staatstheaters ebendieses Foyer aufs Korn nahm", schreibt Marcus Hladek in der Frankfurter Rundschau (2.9.2022). "Besucher vom 3. Rang durften einst nur von außen reingucken; das Parkett war Adel und Großbürgern vorbehalten. Ein baulicher Spiegel des preußischen Dreiklassenwahlrechts also." Da mache es aus Sicht dieses Kritikers Sinn, "wenn Engels' Biennale im Staatstheater bleibt: um es radikal zu öffnen. Ob es aber der richtige Weg ist, 'reguläre' Sprechtheaterstücke und Ballette zu meiden, die Engels für vielfach homophob und frauenfeindlich hält? Sein Gruß an Ex-Intendant Manfred Beilharz im Foyer nahm da bittere Süße an."

"Alle Themen der diesjährigen Wiesbaden Biennale sind in der Stadt unterrepräsentiert: Postkoloniales, Queeres, Trashiges (...) Ein hochkarätiges Programm, dem trotzdem die Rahmung fehlt", schreibt Shirin Sojitrawalla in der taz (8.9.2022). "Es gibt weder Publikumsgespräche noch ein Diskursprogramm, bei den verhandelten Themen und den sich oft nicht selbst erklärenden Arbeiten eigentlich ein Muss. So aber macht man sich auf alles seinen eigenen Reim." Kilian Engels hatte aber weniger Budget und weniger Zeit für die Vorbereitung als seine Vorgänger:innen. Fazit: "Es ist eine Festivalausgabe unter besonderen Bedingungen. Fakt ist: Sie beschert den Wies­ba­de­ne­r:in­nen Produktionen, für die sie sonst mindestens nach Frankfurt fahren müssten."

Kommentare  
Wiesbaden Biennale: Widerspruch!
"The Köln Concert" als nichtssagender, dekorativer Kitsch? Dieser These muss ich widersprechen, da sie den Kontext übersieht, in dem die Arbeit entstanden ist.

September 2020: wenige Wochen zwischen den Corona-Lockdowns spielen die Theater wieder. Die Sitzreihen sind herausgenommen, Ingo Sawillas Twitter-Bild aus dem Berliner Ensemble ging um die Welt. Die Theater-Ensembles ringen mit den Abstandsregeln, die kaum ein Spiel zulassen. Zwangsläufig geraten die Inszenierungen hölzern, statisch und bleischwer. Die Stimmung im Saal war regelrecht eisig, wie "dabeigewesen" damals nach einer Pollesch-Premiere am DT so treffend zusammengefasst hat.

In dieser Situation gelingt Trajal Harrell in Zürich ein elegant-schwebender Abend voller Melancholie und Sehnsucht, der so viel über Nähe und Distanz mitten in der Pandemie erzählt. Eindrucksvoll waren damals auch die LAB_WORKS COVID_19 des Berliner Staatsballetts in der Komischen Oper, die in kleinen Teams erarbeitet wurden und in Miniaturen über dasselbe Thema reflektierten. Vergleichbares habe ich im Theater damals vermisst. Die Versuche endeten in Corona-Slapstick.
Wiesbaden Biennale: Gerne mehr davon
Habe den Artikel sehr gerne gelesen, weil er informiert, differenziert, reflektiert, die eigene Position klar bennent und dennoch mit seiner Ausgewogenheit die Möglichkeit lässt, ihr nicht zu folgen. Gerne mehr davon!
Biennale Wiesbaden: Wie auswendig gelernt
Leider wirken die Themen eher wie auswendig gelernt und aufgesagt und verbinden sich nicht wirklich mit einem inhaltlichen Konzept. Aber Kuratieren ist (war?) eben mehr als einfach nur irgendetwas angesagtes einzuladen…
Biennale Wiesbaden: Theatertheater
Ja, ich stimme “Langweilig” da zu... Schade auch, dass das Konzept mit dem Festival in die Stadt raus zu gehen, aufgegeben wurde. So wird hat alles zu Theatertheater...
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