Etwas Besseres als den Tod finden wir überall - Staatstheater Kassel
Gewalt ist auch keine Lösung
24. September 2022. Neue Gegner für die Bremer Stadtmusikanten hat sich Martin Heckmanns für sein Singspiel frei nach den Brüdern Grimm ausgedacht – und Esel, Hund, Katze und Huhn marxistisch-antikapitalistisch eingestimmt. Friederike Heller inszeniert die Uraufführung in Kassel, Musikerin Masha Qrella spielt dazu auf.
Von Simon Gottwald
24. September 2022. Ein Esel, ein Hund, eine Katze und ein Huhn, alle ohne Perspektive in ihrem bisherigen Leben, fliehen die alten Verhältnisse und schließen sich zu einer Musiktruppe zusammen, um ein besseres Leben zu finden. Eines auf dem anderen verbreiten sie Furcht und Schrecken bei denen, die es verdient haben – so weit ist der Stoff bekannt, den die Zuschauer von "Etwas Besseres als den Tod finden wir überall" am Staatstheater Kassel zu sehen bekommen. Dass der Hund marxistische Theorie liest, die Katze einen gewaltsamen Umsturz des Systems fordert und das Huhn im Schlachthaus die Vorzüge des Kommunismus verkündet, ist in der Vorlage der Gebrüder Grimm hingegen nicht zu finden. Und leider ist auch das Ende in Martin Heckmanns' Singspiel nicht so glücklich für die bunte Combo, wie man es aus dem Märchen kennt.
Band der Botschaft von einer besseren Welt
Nachdem Esel Grau einmal zu oft vom Müller für seine Kritik an den Arbeitsverhältnissen bis aufs Blut gepeitscht wurde, macht er sich auf, und findet in dem Wachhund Schlau, der es nicht erträgt, dass die Müllerin einem Flüchtlingskind das Brot verweigert, einen Gefährten. Ihre ersten musikalischen Gehversuche sind schon durchaus respektabel, wie sie mehrmals demonstrieren, aber um die Botschaft einer besseren Welt in dieselbe hinauszutragen, braucht es mehr als zwei Bandmitglieder.
So kommt ihnen die Katze Schwarz, schwanger und von ihnen zunächst für einen Klimaflüchtling gehalten, sehr gelegen, und schließlich komplettiert das Huhn Kommun die Gruppe und entgeht einem Ende in der Suppe der Müllers, für das es sich aufgrund seiner Unruhe stiftenden Forderungen nach besseren Lebensbedingungen für die Hühner qualifiziert hatte.
Punk wider das Theater der besitzenden Klasse
Die Tiere sind sich einig: Die Ausbeutung der Arbeiter, Kreuzfahrt- und Sextourismus im Angesicht im Meer ertrinkender oder inmitten unfruchtbar gewordenen Landes verhungernder Menschen, eine Klimakatastrophe, die nicht mehr am Horizont droht, sondern längst über uns gekommen ist, das alles ist nicht nur Rechtfertigung eines Umsturzes, sondern der Ruf danach. Schnell verabschieden die ersten sich von dem Plan, die Welt mittels Musik zum Umdenken zu bewegen: "Die besitzende Klasse hat Eure Kulturveranstaltungen bloß erfunden, um die tatsächlichen Gewaltverhältnisse zu verschleiern", sagt die Katze, und stimmt kurz darauf eine regelrechte Punk-Nummer an.
Nachdem schließlich auch der Esel von der Notwendigkeit der Gewalt überzeugt wurde, beginnt der Marsch der zu einem Lovecraft’schen Shoggoten verschmolzenen vier Reiter der Apokalypse nach dem Hause der Müllers, denn Räuber braucht dieses Stück nicht in Zeiten eines rücksichtslos gewordenen Kapitalismus.
Schlemmen, schießen, sterben
Müller von zur Mühlen, kapitalistischer Opportunist in Reinkultur, schlemmt noch Honigmelone und Schaumwein, als seine Frau die Katastrophe schon durch das Fenster nahen sieht, und erst im letzten Moment flüchtet er sich mit ihr in den Keller. Die revolutionäre Truppe beginnt, sich in internen Kämpfen ob der Versuchungen auf dem Tisch der Müllersleute zu zerfleischen, doch dann strecken Schüsse sie nieder. Auch Müller und Müllerin sterben. Nur die Jungen der Katze überleben.
Die Toten erheben sich und umarmen einander, die Unterdrückten nehmen die Unterdrücker in ihren Kreis auf, als wollten sie sagen, dass wir alle nur sterbende Körper sind, lebendig begraben unter einem Himmel, von dem eine feindliche Sonne auf uns herabstrahlt, weshalb es gleichgültig ist, wer wen wie unterdrückt oder ausgebeutet hat.
Großes Spiel der Ausbeutungen
Ob dies ein zufriedenstellendes Ende einer revolutionären Fantasie ist, ob es dem Zuschauer – ebenso wie ein Intermezzo der Müller im Publikum, die das bisher Gesehene lautstark kommentieren – seine eigene Rolle in dem großen Spiel der Ausbeutungen vor Augen führen soll oder ob es sich hier um einen ideologischen Bruch handelt, weil der Text die Kritik am System nicht über sich selbst hinausführen konnte, möge jeder für sich selbst entscheiden.
Die Inszenierung von Friederike Heller ist über Zweifel dieser Art jedenfalls erhaben. In den fantasievollen Kostümen von Sabine Kohlstedt liefern alle Schauspieler beeindruckende Leistungen ab: Danai Chatzipetrou verdient als Huhn Kommun größten Respekt dafür, den gesamten Abend das Zucken eines Hühnerkopfes konsequent durchgehalten zu haben, noch nie sah der Rezensent jemanden so herrlich vulgär Kaviar essen wie Clemens Dönicke, und Katharina Brehl hat der Katze genügend Verve für neun Leben mitgegeben.
Die Musik, die Masha Qrella komponiert hat und mit Band auf der Bühne auch selbst interpretiert, ist eingängig, changierend zwischen Pop, Rock, Soul und Postrock, aber nie eintönig – und das ist bei einem Theaterabend vielleicht das wichtigste, ganz besonders, wenn es sich um ein engagiertes Stück handelt.
Etwas Besseres als den Tod finden wir überall
Ein Singspiel von Martin Heckmanns
Regie: Friederike Heller, Bühne und Kostüme: Sabine Kohlstedt, Komposition und Live-Musik: Masha Qrella, Licht: Brigitta Hüttmann, Dramaturgie: Katja Prussas.
Mit: Jakob Benkhofer, Clemens Dönicke, Katharina Brehl, Danai Chatzipetrou, Lisa Natalie Arnold, Hagen Oechel, Masha Qrella, Andreas Bonkowski, Chikara Aoshima.
Uraufführung am 23. September 2022
Dauer: 2 Stunden, eine Pause
www.staatstheater-kassel.de
Kritikenrundschau
"Beeindruckend dichte und gewaltige Sprachkunst" erlebte Kirsten Ammermüller und schreibt ferner in der Hessisch Niedersächsischen Allgemeinen (26.9.2022): Friederike Heller greife mit ihrer Inszenierung die im Text angelegten Überschneidungen der Perspektiven auf. Masha Qurella habe eine eingängige und schwungvolle Form für die Songs gewählt. Und "eine großartige schauspielerische Leistung machte all das zugänglich und greifbar."
Der Abend erinnert Joachim F. Tormau in der Frankfurter Rundschau (26.9.2022) immer wieder "in erstaunlicher Weise an Kindertheater. Nur eben mit einem erwachsenden Text." Das sei mit "ziemlich grobem Pinsel gemalt" und zugleich voll feinem Humor.
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Schade, dass im zweiten Teil diese Gesellschaftskritik durch ein ziemlich simples Ende (alle sind tot bzw. alle müssen zusammenstehen) nicht konsequent zu Ende gearbeitet wird. Stattdessen wird Brecht und sein episches Theater bemüht (die Bühnenarbeiter werden von einem Schauspieler angewiesen, doch jetzt nochmal zu warten, er möchte noch in Ruhe erklären, wie er sein Sterben auf der Bühne erlebt). Am Ende stehen alle Schauspieler als eine Gruppe (gleichgesinnter) zusammen.So beibt für mich als offene Frage:Was soll ich als Zuschauer als Botschaft mitnehmen? Oder geht es gar nicht um eine Botschaft sondern (nur) um gute Unterhaltung? Die ist in jedem Fall gegeben.
"Das (Ende) ist ein bisschen kitschig. Aber auch ehrlich – nach einem Theaterabend, der ansonsten nicht viel mehr zu bieten als die Ideologien der aktuellen Bewegung. (...). Alles in allem aber sind sich sowieso alle viel zu einig, als dass irgendwelche Energie des Widerstands beschworen werden könnte. Oder gar die Zukunft am Freitag – Theater braucht über den Jubel der Einverstandenen hinaus vielleicht ja doch ein bisschen mehr als den Generalangriff der Demo-Sprüche."
Des Nichts
Das uns erwartet oder lockt
Sind wir zu Lebzeiten doch
Eigentümlich verstockt.
Könnten wir nicht
Auf Probe praktisch
Im Vorspiel quasi
Wie Geister uns sehen
Dann müssten wir nicht dauerhaft
Und fest auf einem Standpunkt stehen.
Tote auf Urlaub
Mit einem Körper als Geschenk, der empfängt
Und dieser Sprache als Gabe
Zur Gestaltung der Lage
In der wir uns finden, erfinden, verwandeln und
Eines Tages geht es dann
Deshalb fassen wir uns vorher an
Behende
Zu Ende.
(Das ist der Liedtext des Songs, der den Abend beschließt. Ich finde keinen Demo-Spruch darin. Eher Zweifel.)