Das gute Kino von Mannheim

11. Februar 2023. Das Nationaltheater hat seine Interimsspielstätte eröffnet. Und zwar mit einem Stück von Bertolt Brecht, der heute 125. Jahre alt würde. Ein Stück, das Brechts alte, in vielen Stücken durchgespielte Dialektik von Gut und Böse verhandelt. "Wir wären gut, anstatt so roh, doch die Verhältnisse ..."- Sie wissen schon!

Von Thomas Rothschild

"Der gute Mensch von Sezuan" von Bertolt Brecht am Nationaltheater Mannheim

11. Februar 2023. In den vergangenen Jahren konnte man gelegentlich den Eindruck gewinnen, dass von Theaterhäusern häufiger die Rede war als von den darin stattfindenden Ereignissen. Die notwendig gewordenen angekündigten, durchgeführten oder stornierten Sanierungen und vor allem deren Kosten erregten die Gemüter. Auch in Mannheim, wo das Nationaltheater seit August für eine auf fünf Jahre angelegte und 300 Millionen teure Sanierung schloss.

Böses Army-Kino, gutes Nationaltheater

Jetzt hat das Nationaltheater seine Interimsspielstätte "Altes Kino Franklin" eröffnet, ein zum Theater umgebautes Kino auf dem ehemaligen Stützpunkt der US-Army, und zwar – eine schöne Pointe – mit dem didaktischen Parabelstück "Der gute Mensch von Sezuan" von Bertolt Brecht, der just an diesem Tag 125 Jahre alt geworden wäre. Die Geschichte geht so: Weil die Prostituierte und Tabakverkäuferin Shen Te gerne ein guter Mensch wäre, sich das aber nicht leisten kann, verwandelt sie sich in ihren angeblichen Vetter Shui Ta, der die Härte aufbringt, die ihr fehlt: ein ebenso ergiebiger wie theateradäquater Entwurf.

Shen Te tut, was Schauspieler seit je tun. Sie nimmt eine fremde Identität an, gibt vor, jemand zu sein, der sie nicht ist. Und den Geschlechtertausch, der zurzeit auf den Bühnen Konjunktur hat, muss die Regie dem Stück hier nicht aufbrummen. Der Autor hat ihn bereits als grundlegenden Einfall eingebaut. Sogar den üblichen Zuschreibungen folgt er. Als Frau ist die Titelfigur gut, als Mann böse. Wir können zufrieden sein.

Von Göttern und Haifischen

Es beginnt wie ein Zaubermärchen des Wiener Volkstheaters und durchaus komödiantisch in chinesischem Gewand. Drei Götter sind auf der Suche nach einem guten Menschen. In Mannheim hüpft das Ensemble, ehe die Götter eintreffen, inklusive Haifisch, der bekanntlich die Zähne im Gesicht trägt, unter sechs Monitoren mit amerikanischen Fernsehbildern und in schrillen Kostümen, die eher auf Rosenmontag einstimmen als auf Brecht, ganz "natürlich" auf der offenen Bühne herum. (Brechtvorhang ade!) Hatten wir das nicht schon einmal?

Dann schlüpfen die Schauspielerinnen und Schauspieler in die einzelnen Rollen, wenngleich nicht in die erwartbaren Gewänder. Die Truppe verweilt durchgängig auf der Bühne, teils turbulent bewegt, teils erstarrt, und spricht meist frontal ins Publikum auf der nunmehr steil ansteigenden Tribüne des umgebauten Kinos, die an das Republic in Salzburg oder das Stuttgarter Theaterhaus erinnert.

Teils turbulent bewegt, teils erstarrt 

Brechts Text bleibt weitgehend unbeschädigt. Und das ist gut so. Kein Satz hat seine Gültigkeit verloren. Annemarie Brüntjen spielt die Titelrolle und en passant auch einen der drei Götter ganz im Sinne des Autors eher zurückhaltend, stilisiert, mit engen Gesten, als psychologisierend, und verkündet mit glaubhaftem Zorn vorne an der Rampe: "Wenn in einer Stadt ein Unrecht geschieht, muss ein Aufruhr sein / Und wo kein Aufruhr ist, da ist es besser, dass die Stadt untergeht durch ein Feuer, bevor es Nacht wird!"

 Sezuan2 1000 ChristianKleinerGute Menschen, böse Memschen © Christian Kleiner

Die Verse "Ich will mit dem gehen, den ich liebe./ Ich will nicht ausrechnen, was es kostet./ Ich will nicht nachdenken, ob es gut ist./ Ich will nicht wissen, ob er mich liebt./ Ich will mit ihm gehen, den ich liebe", brüllt Shen Te hinaus wie eine Kampfansage. Die Regie lässt keine Sentimentalität zu. Die Regisseurin Charlotte Sprenger, die mit dieser Inszenierung in Mannheim debütiert, verzichtet auch auf jegliche Chinoiserie.

Nicht entsagen wollte sie hingegen einem Trend, der einen seit einiger Zeit bei Stücken jeglicher Herkunft und jeglichen Genres verfolgt: dem Trend zur Revue und zum unbeholfenen Gestrampel ohne Choreografie. Das ist oft ebenso wenig ergründbar wie die Funktion der immer noch flimmernden Monitore unter dem Schnürboden.

Und Nacht ist jetzt schon bald!

Doch dann kommt das wunderbare, im Kontext fast surrealistische "Lied vom achten Elefanten", das zum Stück gehört wie jener Satz – "Den Vorhang zu und alle Fragen offen" –, den viele für eine Erfindung von Marcel Reich-Ranicki halten und der seinen Sinn verliert, wo es keinen Vorhang gibt. Das Lied vom Herrn Dschin und seinen Elefanten zur von Philipp Plessmann bearbeiteten Musik von Paul Dessau wird im "Alten Kino Franklin" als mehrstimmiger Chor gesungen. Einfach so. Ohne Verrenkungen. Eine Wohltat!

Der gute Mensch von Sezuan
von Bertolt Brecht
Musik von Paul Dessau in einer Bearbeitung von Philipp Plessmann
Regie: Charlotte Sprenger, Bühne: Aleksandra Pavlović, Kostüme: Bettina Werner, Musik: Philipp Plessmann, Jones Landerschier, Licht: Robby Schumann, Dramaturgie: Lena Wontorra, Kunst & Vermittlung: Ronja Gerlach.
Mit: Leonard Burkhardt, Annemarie Brüntjen, Jessica Higgins, Ragna Pitoll, Arash Nayebbandi, Eddie Irle, Philipp Plessmann, Boris Koneczny, Rocco Brück, Jones Landerschier.
Premiere am 10. Februar 2023
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.nationaltheater-mannheim.de

 

Kritikenrundschau

Charlotte Sprenger habe Humor und einen erfrischend unehrfürchtigen, ideenreichen Zugriff auf das Stück, schreibt Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (12.2.2023). Die Regisseurin sei "eindeutig ein Talent, auch wenn sie schon noch sucht, blufft, stockt, Theatermoden mixt und sampelt. Aber es sind da immerhin zehn Leute auf der Bühne, und zwar die ganze Zeit, und wie sie die arrangiert, choreografiert, im Spiel und bei Laune hält, das ist durchaus gekonnt." Die Lieder vom 'Sankt Nimmerleinstag' und vom 'Achten Elefanten' seien Höhepunkte. "Und auch der Schluss zündet, wenn sich die junge Regisseurin ihren eigenen Reim macht auf den alten Brecht.“

Chralotte Sprenger zeige ein wenig ratlose, aber immerhin heitere Ansätze, findet Ralf-Carl Langhans im Mannheimer Morgen (13.2.2023). Schauspielerisch gelängen im Verbund mit Annemarie Brüntjen gute Szenen. Allerdings fehle dem Abend über drei lange Stunden der Atem, "der inszenatorische und choreographische Rhythmus, den es braucht, um ein solches Stück im Großformat lebendig zu halten".

Brechts Text besitze durchaus noch kritische Widerhaken, so Dietrich Wappler in der Rheinpfalz (13.2.2023). Sprengers Inszenierung deute dies aber nur an, interessiere sich noch am meisten für die hier ebenfalls gestreifte Geschlechterfrage: "Als Frau wird die ehemalige Prostituierte Shen Te nicht sonderlich ernst genommen, als rätselhafter Vetter dagegen genießt sie umstandslos Renommee und Respekt. Annemarie Brüntjens Darstellung löst die- sen Gegensatz immer mehr auf, sie streift sich die Klamotten beider Figuren schichtweise über den Körper, wird in beiden Rollen härter, selbstbewusster und brüllt ihrem wankelmütigen Lover ihre Liebeserklärung wie eine Kampfansage entgegen." Am Ende gleite der Abend endgültig ins Revuehafte.

"Regisseurin Charlotte Sprenger erzählt Brechts Stoff durchaus klassisch", konstatiert Kevin Hanschke in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (14.2.2023). Im ersten Teil des Abends entwickele sich daraus mitunter eine Verwechslungskomödie, die besonders durch das wandelbare Schauspiel von Annemarie Brüntjen geprägt sei. Nach der Pause folge eine sozialistische Nummernrevue, "die Brechts episches Theater auf die Spitze treibt". Am Ende regiere das Kapital, habe die Religion ausgedient. "Wirkliches Interesse an den daraus entstehenden Schwierigkeiten hat diese am Ende doch recht brave Inszenierung leider nicht."

 

 

Kommentare  
Der gute Mensch von Sezuan, Mannheim: Masse statt Klasse?
Ein mittelmäßiger Abend mit einer grandiosen Annemarie Brüntjen (- Lob auch an Leonard Burkhardt und Jessica Higgins). Aber ansonsten dümpelt das Ganze etwas vor sich hin - drei Stunden sind zu lang und die Musik klingt des Öfteren auch abseits der Komposition schief (wozu es überhaupt zwei Musiker braucht erschließt sich nicht ganz, meist spielt nur einer).
Die Inszenierung ist am besten, wenn nur zwei oder drei Darstellende auf der Bühne sind. Diese intimeren Momente geben dem Ganzen Halt. Ansonsten ist einfach überall ein bisschen zu viel von allem. Das scheint auch die Idee dahinter zu sein, wird aber nicht überzeugend genutzt bzw. führt zu nichts.
Ich bereue nicht, es gesehen zu haben, und der neue Theaterraum hat viel Potenzial. Aber nochmal müsste ich die Inszenierung nicht schauen.
Kommentar schreiben