Logik der McKinsey Queer Recruiting Days

8. Mai 2022. Die griechische Mythologie kennt Körper-Veränderungen, auf die man fast neidisch sein kann. Enis Macis neues Stück "Lorbeer" sucht nach Pendants der Gegenwart von Ernest Hemingway bis zu heutigen Vermarktungslogiken. Franz-Xaver Mayr hat das Stück in Stuttgart uraufgeführt.

Von Steffen Becker

Tino Hillebrand, Elias Krischke in "Lorbeer" © Björn Klein

7. Mai 2022. "Irgendwo müssen wir anfangen", schreibt Autorin Enis Maci in einem Chat mit dem Dramaturgen Mazlum Nergiz. "Zum Beispiel bei Daphne. Daphne will ihren Stalker Apoll abschütteln und wird von ihrem Vater, dem Flussgott Peneios, in einen Lorbeerbaum verwandelt. Der Stalker reibt sich dann aber trotzdem am Baum und sucht die Boobs unter der Rinde." Regisseur Franz-Xaver Mayr widerspricht ihr in seiner Inszenierung des Stücks "Lorbeer" am Schauspiel Stuttgart. Er beginnt nicht mit Brüsten in Bäumen der griechischen Mythologie. Sondern mit einem Märchen.

Vor einer pink beleuchteten Leinwand erzählen fünf Schauspieler:innen im Wechsel und im blondierten Tantra-Sekten-Look von einer Prinzessin. Sie wird vom Helden vor einer Hexe gerettet, indem er sie mehrfach in Naturphänomene verwandelt. Zum Schluss beschließen beide: Es sollte überhaupt keine Königreiche mehr geben. Das anarchistische Ende setzt den Ton der Aufführung. Es geht um radikale Veränderung. Und um diese zu verdauen, schickt Regisseur Mayr das Publikum erst mal in eine 20-minütige Pause. Nach 15 Minuten Spielzeit.

Der neue Garten Eden

Die beabsichtigte Irritation geht bedingt auf: Hauptthema der unerwarteten Reflektionszeit sind die Veränderung der Sektpreise auf 6,50 € für 0,1 l (schamlos!). Drinnen geht es weiter mit Hemingway und seinem schambesetzten und deswegen erst posthum veröffentlichten Roman "Der Garten Eden". Darin geht es um wechselnde Geschlechterrollen, was für das Macho-Image des Autors wohl so eigen war, dass Lektoren das Werk zur Veröffentlichung 1986 stark nachbearbeiteten.

Mit Peinlichkeit haben "Lorbeer" und die Stuttgarter Inszenierung kein Problem. Aber das Autorin/Regisseur-Duo Maci/Mayr sucht nach einer mit 2023 kompatiblen Variante, um das Gefühl vorzuführen. Das ist nicht mehr die Geschlechtsumwandlung der Hemingway-Figur Catherine zu Peter, sondern die Vereinnahmung von Identitätsfragen durch die kapitalistische Vermarktungslogik: Bei Maci/Mayr gipfelt die Frage Transsexualität in einen ausufernden Chor mit der einzigen Zeile "McKinsey Queer Recruiting Days".

lorbeer 2 foto bjoern kleinVon Daphne und Apoll zu Ernest Hemingway: Tino Hillebrand, Lisa-Katrina Mayer, Sebastian Röhrle, Elias Krischke in "Lorbeer" in Stuttgart © Björn Klein

Wie das alles mit Motiven aus der Mythologie, Virginia Woolfs "Orlando" und der albanischen Großmutter der Autorin zu tun hat? Schwer zu sagen. "Lorbeer" ist als Reigen konzipiert, aus dem sich das Publikum individuell Sinn und Assoziationen ziehen kann. Ein Dialog über Hemingways Catherine bringt es auf den Punkt. Was bringt Hemingway zum Ausdruck? Hat Catherine Sex mit ihrem Mann bereits als Mann oder benutzt sie einen Dildo oder einen Finger – oder wird überhaupt kein Sex beschrieben.

Körper-Verknotungen

"Man muss nicht immer alles analysieren, man kann auch einfach mal rezipieren", lässt Regisseur Mayr seine Schauspieler:innen feststellen. Zur Rezeption bietet "Lorbeer" tatsächlich einiges. Eine hervorragend getimte Musikauswahl, die die Bühnenstimmung wahlweise einfängt oder antreibt. Farbkompositionen der Beleuchtung, die die ansonsten leere Bühne emotional aufladen. Und vor allem: ein Ensemble, das buchstäblich miteinander verschmilzt. Tino Hillebrand, Teresa Annina Korfmacher, Elias Krischke, Lisa-Katharina Mayer und Sebastian Röhrle verknoten Text und Körper – an manchen Stellen buchstäblich zu einem sich knetenden Menschen-Teig.

lorbeer 3 foto bjoern kleinMenschen-Kollektiv: Enis Macis "Lorbeer" von Franz-Xaver Mayr inszeniert © Björn Klein

Die Inszenierung als Kollektiv verlangt ihrem Taktgefühl und ihrem Vertrauen aufeinander alles ab. Dahinter steckt mehr als nur Schaulaufen schauspielerischen Könnens. Das Stück bietet zwar auch Raum für individuelle Performance. Elias Krischke etwa verrenkt und erkundet im Faltenrock seinen Körper. Aber das Kollektiv übernimmt die Führung der Szene: "Die Naht, an der der Schwanz verlötet ist meistens ist sie grade, bei dir aber kraus, wie die Gischt, wie die bewegliche Linie zwischen Wasser und Land." Das Wort Gischt zischen sie noch mehrmals giftig hinterher, bis die Botschaft klar ist. Veränderung ist vor allem deshalb schwierig, weil sie Gemeinschaft sprengt. Man verlässt "Lorbeer" jedenfalls mit einem ausgeprägten Wunsch nach Status Quo.

Lorbeer
von Enis Maci
Uraufführung
Regie: Franz-Xaver Mayr, Bühne & Kostüm: Korbinian Schmidt, Musik: Matija Schellander
Licht: Stefan Maria Schmidt.
Mit: Teresa Annina Korfmacher, Elias Krischke, Lisa-Katrina Mayer, Sebastian Röhrle, Tino Hillebrand.
Premiere am 7. Mai 2022
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, eine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

Kritikenrundschau

"Märchenhaft klar" bleibe dieser Abend "keineswegs", schreibt Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (9.5.2022). Viel mehr sei es ein "Gedanken- und Bewusstseinsstrom, den Maci mäandern lässt, wie es die Mode verlangt". Der Texte stürze das Publikum "in heillose Verwirrung, denn die Autorin windet Themen, Zitate, Überlegungen derart beliebig um- und nebeneinander, dass man immer auf der Suche nach dem Sinn" sei. An "hübschen Choreografien, pastellenen Farben und fantastischen Kostümen" herrsche in Franz-Xaver Mayrs Inszenierung zwar "kein Mangel" – doch auch diese "vermögen den bei aller Buntheit dunklen Abend nicht zu erhellen".

"Es geht um ein Spiel mit sexuellen Identitäten, und Maci schlägt dazu einen Bogen von der Antike über Hemingway bis in die digitale Gegenwart", fasst Otto Paul Burkhardt in der Südwest Presse (9.5.2022) das neue Stück der Autorin zusammen. Das sei eher eine "literarische, essayistische Reflexion" und eigentlich "wenig tauglich fürs Theater". Mayrs Inszenierung sei ihrerseits ebenfalls ein "kollektiv spielerisches Nachdenken über Möglichkeiten der Emanzipation aus engen Geschlechterrollen". So sehen sein "ein Essay, fürs Theater choreografiert".

"Maci hat einen poetischen und im Ton- fall zurückhaltenden Text geschrieben“, schreibt Jürgen Berger in der Schwäbischen Zeitung (11.5.2022). Jedoch: Der schnelle Bilderreigen der Inszenierung sei so dominant, dass der Text in den Hintergrund zu rücken scheine. "Da steht ein Chor auf der Bühne, in dem keine Individuen unterwegs sind, sondern Textträger einer bildkünstlerischen Auseinandersetzung mit 'Lorbeer'."

Das Ensemble biete ein sehr fein abgestimmtes Körpertheater, "eine sorgsam ausgewählte Musik tut ein Übriges dazu und wer sich darauf einlässt, betritt tatsächlich zeitweilige neue Welten des Sehen", so Arnim Bauer von der Ludwigsburger Kreiszeitung (10.5.2022). "Leider hält Mayr das aber nicht immer durch, je länger sich der Abend hinzieht, und das tut er dann tatsächlich, desto mehr scheinen ihm die Ideen zu fehlen, es gibt minutenlange, dröge Phasen, in denen einfach monologisch der Text rezitiert wird, ohne dass die Bilder außer den farbenfrohen Kostümen dazu vorhanden wären."

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