Nix hat sich verändert!

12. November 2023. Ist das Eintreten für eine bessere Welt, sind Forderungen wie "Friede den Hütten, Krieg den Palästen", wie sie einst Georg Büchner erhob, heute veraltet? Der Dramatiker Björn SC Deigner hat sich an die Fersen Büchners geheftet, Zino Wey die dichterische Nachempfindung uraufgeführt.

Von Thomas Rothschild

"Zeit wie im Fieber. Büchner-Schrapnell " am Schauspiel Stuttgart © Björn Klein

12. November 2023. Verlag und Theater schreiben gleichlautend: "Die Losung Georg Büchners 'Friede den Hütten, Krieg den Palästen!' kommt uns heute allzu simpel vor." Wieso eigentlich? So "argumentiert" gemeinhin, wer zwar mit den Hütten sympathisiert, aber um seinen Palast fürchtet.

Lösen wir die Metapher auf und sprechen Klartext: Stellung beziehen für die Armen und gegen die Reichen. Was an der Forderung von mehr Gerechtigkeit wäre "allzu simpel" oder hätte seit Büchner an Berechtigung verloren? Ist die Losung simpler als die in die Form von Behauptungen gegossenen uneingelösten Postulate "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren" oder "Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung (der Menschenrechte von 1948) verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand"?

Frieden mit dem Unrecht gemacht

Es gehört heute zum guten bürgerlichen Ton, Sätze wie den von Büchner oder Brechts "Und weil der Mensch ein Mensch ist, / drum hat er Stiefel ins Gesicht nicht gern./ Er will unter sich keinen Sklaven sehn / und über sich keinen Herrn" als "allzu simpel" oder gar überholt zu belächeln und somit zu entsorgen. Was aber ist an ihnen falsch? Verrostet sind nicht Büchner oder Brecht, sondern jene, die ihren Frieden mit dem Unrecht auf dieser Welt gemacht haben. Ihre Blasiertheit gegenüber den "simplen" Wahrheiten ist Ausdruck ihrer Anpassungsfähigkeit.

Der Schweizer Regisseur Zino Wey hat Erfahrungen mit Stuttgart und Büchner. 2020 hat er am Ort "Woyzeck" inszeniert, und die Titelrolle spielte damals Sylvana Krappatsch, die auch jetzt wieder dabei ist. Der Dramatiker Björn SC Deigner hat einen langen Dialog angefertigt zwischen zwei Frauen, Lena, vermutlich die Prinzessin vom Reiche Pipi, und Julie, dem Namen nach die Gattin Dantons, zu denen sich en passant ein König, ein Bäcker, eine "wutige" Bürgerin, ein Nachbar, ein talentiertes Pferd, das sich als die Revolution ausgibt, "die Betz" und eine "Ärztlerin" gesellen. Eine Ärztlerin? Bei Büchner wurde ich nicht fündig. Wohl aber bei Jacob Balde, einem Jesuitendichter des 17. Jahrhunderts.

Büchnerworte für die Gegenwart: Sylvana Krappatsch (Lena) und Paula Skorupa (Julie) © Björn Klein

"Zeit wie im Fieber" vermittelt einen guten Eindruck davon, was mit "Postdramatik" gemeint sein könnte. Zwar treten Figuren auf, aber, anders als bei Büchner, handeln sie nicht und erleiden keine Bühnenaktion, sondern reden nur. Anders wiederum als bei den Textflächen von Elfriede Jelinek und ihren Nachahmer*innen, ist hier die Rede Figuren zugeordnet. Worüber sie reden, enthält ein kunterbuntes Gemisch von Büchnerschen Motiven, die unaufdringlich in die Gegenwart transportiert werden, ist durchsetzt mit assoziationsträchtigen Begriffen, nicht nur von Büchner, wie "Natur", "Volk", "Revolution", wird aber zusammengehalten durch den Büchnerschen Ton. Ort der Nicht-Handlung ist nach der Angabe im Textbuch "in der enge eines kessels. am hang einer stadt. und an deren ränder" (sic!). Wer würde da nicht an Stuttgart denken?

Nicht den Vereinfachungen hingeben

Auch Lena und Julie haben den Verdacht, dass die bloße Gegenüberstellung von Hütten und Palästen zu simpel sein könnte. "JULIE und doch, lena: die welt ist nicht nur aus einsen und zweien gemacht. es kommt mir vor, das wär zu simpel, meinst du nicht. LENA ich weiß es ja: es reicht so nicht, es hält nicht stand. wir dürfen uns den vereinfachungen nicht hingeben. die welt besteht aus ungradheit und brüchen. es endet nie, es hört nicht auf." Bertolt Brecht lässt seinen Zweifler fragen: "Immer wieder vor allem andern: wie handelt man/ Wenn man euch glaubt, was ihr sagt? Vor allem: wie handelt man?" Auch Lena hat ihre Zweifel: "im denken weiß ich, wie die welt zu sein hat. aber wenn es dran geht, danach zu handeln, dann lauern überall die haken."

Doch bei allem Zweifel findet Lena zu einer Antwort: "wir können die welt zu einer hölle machen, wir sind auf dem besten wege dazu. (…) wir können sie aber auch ins gegenteil verwandeln. (…) der weg ist nicht zu ende, auch wenn das ziel explodiert. ich will dabei sein, wenn es unseren kopf erreicht und das denken von innen nach außen stülpt. schrapnelle in die synapsen schneiden und die gedanken in neue bahnen werfen. ich denke, irren ist keine sünde: es ist der gleichmut, der alles zuschanden gehen lässt."

Kein Lenz, nirgends

Deigner ist auch Musiker, und wie ein Musiker komponiert er seinen Text, rhythmisiert, stellenweise metrisch: "manchmal überkommt es mich und dann mit aller macht. und dann will auch ich eine kerbe in diese welt schlagen, auf dass sie zittert." Es ist diese fast archaische Sprache, ihre prosodische Schönheit und ihr Kontrast zur anhaltenden Aktualität der Motive, aber auch die gewagten Bilder sind es, was den ästhetischen Reiz von Deigners Stück ausmacht.

Gabriele Hintermaier (Arztlerin), Sylvana Krappatsch (Lena) © Björn Klein

In der Sprache hat Büchners Schrapnell keine Spuren hinterlassen. Ob das der Grund ist, weshalb der Autor zwei Frauen sprechen lässt und die Männer an den Rand drängt? Kein Woyzeck, kein Danton, kein Robespierre, kein Leonce, kein Lenz, nirgends. Die langen Dialoge stellen die Regie vor eine schwierige Aufgabe. Was soll man mit so viel Text anfangen? Wo bleibt da Platz fürs Auge? Björn SC Deigner ist auch Hörspielautor. Dies aber ist ein Bühnenstück. Was also fällt dem Regisseur dazu ein?

Querliegende Gesten, verdreichfachte Nebenfiguren

Zino Wey überträgt das Visuelle den Nebenfiguren, die er jeweils verdreifacht. Gabriele Hintermaier, Marco Massafra und David Müller spielen oder tänzeln vielmehr, begleitet von einem mechanischen Klavier, alle Rollen von der Ärztlerin bis zum talentierten Pferd, mal in Arztkitteln mit bekränzten Perücken, mal als groteske Könige, mal mit Bäckermützen und Riesenbrezeln, mal als angedeutete Zirkuspferde. Die "wutige Bürgerin" sieht aus wie eine Karikatur von Rudi Dutschke und erkennt: "ein volk, das kann nicht herrschen. ein volk, das schläft. es kann sich im schlaf lümmeln und rekeln. es kann schön träumen und schinken fressen in seiner fantasie."

Sylvana Krappatsch als Lena und Paula Skorupa als Julie hingegen liefern ihre ausufernden Dialoge wie ein Zwillingspaar in schwarzen Rollkragenpullovern, engen Hosen und Stiefeletten. Sie sprechen teils zu einander, teils zum Publikum. Dabei fasziniert die wunderbare Sylvana Krappatsch einmal mehr mit Gesten, die zum Text eher quer liegen als ihn zu verdoppeln.

Minimalistisches Bühnenbild

Auf einem Gerüst im Hintergrund hängt ein Transparent mit einem Vers des expressionistischen Dichters Alfred Lichtenstein, der wie eine Antwort auf Hölderlins klirrende Fahnen anmutet: "Im Wind-Brand steht die Welt. Die Städte knistern." Die Darsteller schieben eine Windmaschine in die Mitte der Spielfläche und erledigen auch die unaufwändigen Umbauten des minimalistischen Bühnenbilds. Stellenweise neigt die Regie dazu, das Thema zu verulken und zu verjuxen. Das ist bei Björn SC Deigner angelegt. Insgesamt freilich scheint es ihm ernst zu sein mit der dichterischen Nachempfindung von Büchners revolutionären Gedanken.

Gleich zu Beginn sagt Deigners Lena, die politischer denkt als Büchners Prinzessin: "nix hat sich verändert. der adel ist geldadel jetzt und die welt noch immer die gleiche. sie nehmen das wasser, das doch aus steinen fließt, die jeder und keinem gehören, zapfen es ab und stellen es zu hohen preisen auf die theke. nehmen die arbeit, die doch unsere hände tun, und sagen: die arbeit selbst hat ja gar keinen wert, solange man nicht mit ihr spekuliert. wenn man aber mit ihr spekuliert, dann steigt der wert bis zum himmel und deshalb machen sie sich daraus ein leben wie im paradies".

Allzu simpel?

Zeit wie im Fieber. Büchner-Schrapnell
von Björn SC Deigner
Uraufführung
Regie und Bühne: Zino Wey, Kostüme: Pascale Martin, Musik: Lukas Huber, Licht: David Sazinger, Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger.
Mit: Sylvana Krappatsch, Paula Skorupa, Gabriele Hintermaier, Marco Massafra, David Müller, Harald Schmidt.
Premiere am 11. November 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

Kritikenrundschau

Regisseur Zino Wey finde "stimmige Bilder", schreibt Björn Hayer in der taz (13.11.2023): "Mal reißen die Frauen ein überdimensioniertes Banner mit Versen Alfred Lichtensteins ('Im Windbrand steht die Welt. Die Städte knistern') herunter. Denn die bloße Diagnose einer kranken Zeit genügt wohl nicht. Mal begehren sie gegen den buchstäblichen Takt der phlegmatischen Mehrheitsgesellschaft auf." Die Inszenierung sei "philosophisch ambitioniert und unterhaltsam überspitzt in den Figurenzeichnungen" und lade ein zu einem "intellektuellen Diskurs abseits der Freund-Feind-Logik".

"Mehr als erhöhte Temperatur" erreiche die Uraufführungsinszenierung von Zino Wey "selten", gibt Nicole Glombek in den Stuttgarter Nachrichten (13.11.2023) zu Protokoll. Oft wirke das "mäandernde Gedankenspiel, als wäre es lieber ein Hörspiel denn ein Theaterabend". Immerhin: "Die Glitterhosen und Puschel an den Beinen, die orangeroten Mähnen, die Vollbärte und rot-weißen Mützen, die blumenumkränzten, zuckerwatteartigen Perücken der Nebenfiguren (Kostüme: Pascale Martin) sind durchaus effektvoll." Den "Angriff" von Autor Björn SC Deigner und Regisseur Zino Wey habe Georg Büchner dennoch "gut überstanden".

Trotz einiger Abstriche gelinge dem Abend "ein nachdenkliches Ineinander", schreibt Otto Paul Burkhardt in der Südwestpresse (14.11.2023): "hier ratlose Debatten über politische Apathie, dort gespenstische Schattenfiguren nicht nur aus dem Büchner-Fundus. Vor allem: Keine Besserwisserei. Eher ein Stück, das auch nicht weiterweiß. 'Nix hat sich verändert, der Adel ist Geldadel jetzt, und die Welt noch immer die Gleiche.' Woher rührt diese Trägheit der Herzen, fragt Deigner, diese Unfähigkeit, die Verhältnisse wirklich zu ändern. Und das geht alle an."

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