Die Wildente - Residenztheater München
Fundamentalistischer Idealismus
18. Oktober 2024. Lebt diese Familie eine Lebenslüge? Diese Frage wirft in Henrik Ibsens Drama "Die Wildente" der junge Gregers Werle auf, als er auf die Familie Ekdal trifft. Und produziert eine Katastrophe. Mit seiner Sicht auf den Stoff gibt jetzt der norwegische Starregisseur Johannes Holmen Dahl in München sein Debüt.
Von Leonard Freitag
18. Oktober 2024. Am Ende dann doch ein bisschen Ausbruch aus der ewigen Distanz: Die Familie auf der Bühne starrt fassungslos, nach Worten ringend ins Publikum. Die Tochter, um die es die ganze Zeit irgendwie ging, aber um die sich niemand wirklich gekümmert hat, hat sich erschossen. Und plötzlich, zum ersten Mal sind die Augen auf sie, auf die Leere, die sie hier hinterlässt, gerichtet.
Zum ersten Mal inszeniert der norwegische Regie-Star Johannes Holmen Dahl am Residenztheater in München. Doch bedeutet dieser Abend nicht nur das deutsche Debüt des 1985 in Oslo geborenen Regisseurs, sondern auch die Rückkehr der Schauspielerin Anna Drexler nach München, die, nachdem sie 2018 die Stadt Richtung Bochum verließ, nun ins Ensemble des Residenztheaters gewechselt ist.
Lügenfassade und Illusionen
"Die Wildente“ wurde 1884 in Bergen / Norwegen, uraufgeführt. Nur wenig später zog Henrik Ibsen nach München, in die Maxmilianstraße 32, gegenüber der Residenz, in dessen Cuvilliéstheater die Premiere des Familiendramas stattfindet. Darin kommt Gregers Werle (Florian Jahr), ein junger Mann aus sehr wohlhabendem Hause, nach vielen Jahren in seine Heimatstadt zurück. Er trifft dort auf eine Welt, die trotz vieler Lügen und Illusionen, die er als Idealist im "Rechtschaffenheitsfieber“ verurteilt, funktioniert. Oder vielleicht gerade deswegen.
Er vermutet, dass die Tochter seines verträumten, mittellosen Freundes Hjalmar Ekdal (Simon Zagermann) eigentlich das Kind seines eigenen Vaters, des Konsuls Werle (Oliver Stokowski), ist. Dies versucht er unter dem Vorwand des guten Vorsatzes aufdecken: Er möchte der Ehe seines Freundes zu einem wahrhaftigeren Fundament verhelfen. Doch schlussendlich reißt er die zuvor im Familienidyll lebenden Ekdals in eine Tragödie. Und behauptet dann, so habe er das nicht gewollt.
Regisseur Johannes Holmen Dahl möchte "Die Wildente" auch zeitgenössisch lesen und als Kritik am Umgang mit der jungen Generation verstanden wissen. Und ja, die junge Ekdal-Tochter Hedvig (Naffie Janha) kann als ein Symbol für die vor großen Katastrophen warnenden jungen Menschen verstanden werden, die durch mangelnde Lobby kein ernsthaftes Gehör finden. Sie ist ja schlussendlich die, die zwar eine zentrale Rolle im großen Konflikt des Dramas einnimmt, von den älteren aber immer aufs Zimmer geschickt wird.
Das Zentrum des Stücks liegt allerdings schon in seiner Originalfassung woanders. So auch in der hier verwendeten Übersetzung von Peter Zadek und Gottfried Greiffenhagen aus dem Jahr 1975, an der sich der Abend strikt entlang hangelt. Die Hauptthese, die Ibsen durch die Figur des Psychologen Doktor Relling (Max Mayer) thematisiert, scheint doch die zu sein: Die Idealisten machen alles kaputt, weil sie die Leute ihrer Illusionen berauben, die sie zum Überleben aber dringend brauchen. Soll das Stück zeitgenössisch gelesen werden, müsste auch deutlich werden, worauf dieses Motiv heute zielt.
Leere ist das Stichwort des Abends …
Doch an diesem Abend wird kaum ein Hier und Jetzt erkennbar. Alles scheint eher einem zeitlosen Anspruch zu folgen. Der Bühnenraum ist leer bis auf ein schwarzes Schlagzeug links vorne an der Bühnenkante. Die gesamte Inszenierung bleibt, bis auf wenige kurze Ausreißer, minimalistisch distanziert. Diese Leere, diese Lücken halten auch die Spielenden untereinander ein. Meist stehen sie mehrere Meter voneinander entfernt, die Figuren wirken ebenso entfremdet voneinander wie von sich selbst.
Die Leere könnte ein Potenzial sein, ein Potenzial für die Bedeutung der Lücke, für großes Schauspiel, wo nichts den Blick ablenkt. Doch das Spiel in "Die Wildente" orientiert sich am minimalistischen Gesamtkonzept, so dass die Dialoge meist seltsam blass und holprig wirken. Die Entfremdung geht soweit, dass sie sich auch auf das Verhältnis der Schauspieler:innen zu ihren Rollen auszuwirken scheint.
Aus dieser Dynamik ragen ab und zu einige Passagen heraus. Anna Drexler spielt in einem zentralen Moment eine innerlich zusammenbrechende Mutter, die alles tut, die Fassung zu behalten, während ihr die Tränen übers Gesicht laufen. Ein Moment, in dem sie die besagten Lücken durch ihr detailreiches, emotional greifbares Spiel füllt. Auch Max Mayer, der die ausufernde Rolle des verrückten Psychologen Relling hat, sticht heraus.
Der unweigerlichen Distanz zum Geschehen auf der Bühne trotzt auch dieser kurze, große, Luft- und Grippehuster anhaltende Moment am Ende: Wenn die um sich selbst kreisenden Erwachsenen ihre Selbstversessenheit erst bemerken als es zu spät ist. Das zumindest kann man dann auch zeitgenössisch lesen.
Die Wildente
von Henrik Ibsen
Aus dem Norwegischen von Peter Zadek und Gottfried Greiffenhagen
Inszenierung: Johannes Holmen Dahl, Bühne und Kostüme: Nia Damerell, Komposition: Alf Lund Godbolt, Licht: Verena Mayr, Dramaturgie: Hege Randi Tørressen, Almut Wagner.
Mit: Oliver Stokowski, Florian Jahr, Oliver Nägele, Simon Zagermann, Anna Drexler, Naffie Janha, Max Mayer, Nicola Kirsch, Teresa Müllner.
Premiere am 17. Oktober 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.residenztheater.de
Kritikenrundschau
Egbert Tholl ist in der Süddeutschen Zeitung (19.10.2024) nicht mitgerissen: "Wenn man spüren will, wie alt Ibsens 'Wildente' ist, nämlich 140 Jahre, dann ist man bei Johannes Holmen Dahl sehr gut aufgehoben. Er verlässt sich auf den Text in Originalgestalt, ein wenig gekürzt, unbedeutende Nebenfiguren sind eliminiert. Für sein Vorhaben hat ihm das Residenztheater auch das dafür passende Personal zur Verfügung gestellt, man sieht sehr überzeugende Schauspielerinnen und Schauspieler, die allerdings reden, als wehte ein Wind aus vergangenen Zeiten vorüber. Wobei, und das ist dann vielleicht doch ein kleines Kunststück, die Aufführung an sich nie museal wirkt. Dafür ist sie in ihrer Kargheit viel zu konzentriert."
Johannes Holmen Dahl gelinge bei seinem Deutschland-Debüt ein "Theater-Wunder früherer Zeiten: eine Werk immanente, rein auf Sprache konzentrierte Aufführung" von Ibsen und ein "Abend großer Schauspieler", so Barbara Reitter im Donaukurier (19.10.2024). Es handele sich um eine "Inszenierung eines Klassikers", die "ohne jegliche Aktualisierung oder Modernisierung auskommt" und "keine Probleme der Gegenwart integriert" oder den "Text sprachlich auf Zeitgeist" trimme.
"Der Inszenierung fehlt ein eigener Zugriff, vor allem aber fehlt ihr das Tempo – gerade im ersten Teil. Der ist schon sehr gediegen und getragen. Wirklich sehr", winkt Michael Schleicher im Münchner Merkur (19.10.2024) ab.
Von einem "gut gespielten, dicht inszenierten, aber aus der Zeit gefallenen" Abend, berichtet Michael Stadler in der Abendzeitung (19.10.2024)
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