Herzallerliebst und inhaltsleer

2. Oktober 2022. Das Berliner Maxim Gorki Theater wird 70 Jahre alt! Zur Feier inszeniert Christian Weise ein Reenactment des Kassenschlagers von Thomas Langhoff aus dem Jahr 1979 – und präsentiert einen Abend ohne Eigenleben.

Von Gabi Hift

"Drei Schwestern" nach Anton Tschechow und Thomas Langhoff am Maxim Gorki Theater Berlin in der Regie von Christian Weise © Ute Langkafel

2. Oktober 2022. "Nach Moskau! Nach Moskau!" Der berühmte Sehnsuchtsschrei der Tschechow'schen drei Schwestern kommt an diesem Abend aus dem Mund von grünen Männchen in Ganzkörpertrikots. Dass sie alle männlichen Geschlechts sind, weiß man nur aus der Besetzungsliste. Sie sehen aus wie austauschbare, einfärbig grüne Spidermen.

Das Ganze soll ein kleines Feierstündchen werden. Angesetzt im stickigen Studio R statt im großen Saal, damit man gleich sieht: das hier will keine große Sache sein, sondern irgendwas Lässiges, Cooles, Unehrfürchtiges. Der damit beauftragte Christian Weise hat sich dazu einen Rückblick auf Tschechows "Drei Schwestern" von Thomas Langhoff, Premiere 1979, ausgesucht. Diese Inszenierung war nun allerdings schon eine große Sache. Sie lief acht Jahre lang am Gorki Theater, unzählige Menschen haben ihre Sehnsüchte und ihre Verzweiflung darin gespiegelt gesehen. Noch nach Jahrzehnten sprechen viele Theaterleute mit Bewunderung über diese Aufführung nach der 1984 auch ein Fernsehfilm gedreht wurde. Und der wird hier nun fast zu Gänze abgespielt und dient als Folie für das Treiben der grünen Männchen.

Die Bühne ist ein knallgrüner Kubus mit einer Rückwand aus unterschiedlich großen Fernsehmonitoren. Zu Beginn schiebt der erste Grüne eine uralte Videokassette in einen Recorder und der Film beginnt zu laufen. Dann tritt der Rest der "Green Man Group" auf – insgesamt sind es sieben. Nach einer Weile begreift man, dass sie akribisch genau die Bewegungen der Figuren im Film kopieren und auch deren Texte lippensynchron mitsprechen. Dies ist also dieses Modeding von vor ein paar Jahren: ein Reenactment. Und das wird von Anfang bis Ende durchgezogen.

Gescheiterte Mission

Die Hauptrollen im Film haben einen fixen "Re-enacter" vorne auf der Bühne, kleine Rollen werden von den Hauptakteuren im Wechsel mitübernommen. Auch die Kamerafahrten werden mitgespielt, indem die grünen Männer wahlweise in die Knie gehen, sich verschrauben, aus dem Bild des Zuschauerauges ab- und wieder in es hinauftauchen. Was immer im Film passiert, kopieren sie, und das ganz allerliebst. Sie werfen sich Bälle zu, machen Zaubertricks und schieben Blumen ins Bild. Das ist eine Zeitlang ziemlich lustig. Aber der Witz am Reenactment ist, dass es nicht funktioniert. Es zeigt sich, was Theatermenschen ohnehin wissen: äußerliches Nachmachen kann niemals zu lebendigen Figuren führen. Schauspieler:innen entwickeln Figuren in der Probenarbeit mit ihrem eigenen Körper als Instrument. Und in diesen Körpern ist ihre gesamte, einzigartige Lebenserfahrung eingeschrieben, ebenso wie alle Einflüsse des gegenwärtigen Augenblicks. Deshalb ist Theater auch immer wieder neu und immer gegenwärtig und eigentlich eine wunderbare Sache. Hier hingegen sieht man nur hohles Nachmachen, das im Vergleich zum Schauspiel im alten Film direkt dahinter absurd, leer und unverständlich ist.

Die Schauspieler können nichts dafür, sie sind zu Hochleistungspapageien degradiert. (Höchstens, dass sie einverstanden waren, sich für so einen Versuch gebrauchen zu lassen, kann man ihnen anlasten). Im zweiten Akt tragen die Männchen blaue Eisenherzfrisuren. Aus den Filmszenen werden jetzt Loops herausgeschnitten und teilweise zu 80er Jahre Dudelmusik vertont. Im dritten Akt bekommen die drei Schwestern bei ihren langen Monologen ein winziges bisschen Eigenleben und man könnte sie sich alle sehr gut als die drei Schwestern in einer "richtigen" Aufführung des Stücks vorstellen.

Emre Aksızoğlu, Karim Daoud, Tim Freudensprung, Kinan Hmeidan, Oscar Olivio, Falilou Seck inDrei Schwestern VONAnton TschechowREGIEChristian WeiseBÜHNEJeeyoung ShinKOSTÜMEPina StarkeMUSIKFalk EffenbergerDRAMATURGIEMaria Viktoria LinkeLICHTDESIGNErnst SchießlNachahmung des Filmmaterials in Green Screen Suits von Emre Aksızoğlu, Karim Daoud, Tim Freudensprung, Kinan Hmeidan, Oscar Olivio und Falilou Seck © Ute Langkafel

Aber wozu das Ganze? Soll gezeigt werden, dass die alten Kamellen von Tschechow, Langhoff und Konsorten heutzutage völlig unverständlich sind? Das wird aber durch den wunderbaren, lustigen und traurigen Film widerlegt. Er funktioniert immer noch ausgezeichnet. Nur ist er vierzig Jahre alt und unter völlig anderen gesellschaftlichen Umständen gemacht. Heute sähe man ihm gern etwas Neuem entgegengesetzt. So, wie Langhoff der Uraufführung am Moskauer Künstlertheater, über die er alles gelesen hatte, etwas Neues für seine Zeit gegenübergestellt hat. Dafür hat er mit seinen Schauspieler:innen neue Spielformen entwickelt, um möglichst genau und wahrhaftig etwas über ihre damalige Zeit zu sagen. Die scheinbar neuen Spielformen hier sind hingegen nur leeres Schnickschnack.

Ein kleiner Moment

Endgültig unangenehm wird es, als in einer Zwischeneinspielung ein Interview von heute mit den Schauspielerinnen von damals, Ursula Werner, Ruth Reinecke und Monika Lennartz gezeigt wird. Die drei, nun fast vierzig Jahre älter, dürfen ein paar Anekdoten beisteuern und sprechen darüber, wie damals alle die Sehnsüchte der drei Schwestern als ihre eigenen verstanden haben. Und über ihre Enttäuschung über das, was nach dem Fall des Eisernen Vorhangs passiert ist. Ärgerlicher Weise werden diese aufrichtig gegebenen Interviews nun ebenfalls von den Schauspielern des Abends lippensynchron mitgesprochen und damit ironisiert. Direkt danach gibt es wenigstens einen kurzen Ausstieg aus der Rolle von Kinan Hmeidan. Er sagt, dass er als einer, der aus dem mittleren Osten kommt, gut verstehen kann, was die Schauspielerinnen über die Zeit nach dem Mauerfall sagen. Auch er hat die Euphorie einer Revolution erlebt und die Ernüchterung, als es danach noch schlechter wurde. Genau da horcht man auf, jetzt würde es anfangen interessant zu werden, da könnte ein Dialog zwischen den Generationen beginnen. Aber es bleibt bei diesem einen kurzen Moment.

"Wenn wir doch wüssten"

Über die Aufführung von Langhoff schrieb 1979 eine Zeitung: "Diese Inszenierung lebt durch einen unbezähmbaren Willen zum Widerstand." Das kann man hier wahrlich nicht sagen. Zentrum der Uraufführung im Künstlertheater 1900 war "Sehnsucht nach einem besseren Leben". Das Regieteam der Gorkiaufführung von 1979 machte dagegen die Suche nach einer bestimmten Wahrheit zum Hauptantrieb der Figuren. Sie versuchten in die Geheimnisse der eigenen Existenz einzudringen und daraus eine neue Lebensaufgabe abzuleiten. "Wenn wir es doch wüssten" ist der letzte Satz des Stücks.

Diese Inszenierung will hingegen gar nichts wissen, nichts von Sehnsucht, nichts von Wahrheit, nichts von Tschechow, nichts von Thomas Langhoff, nichts vom Engel der Geschichte, der durchs Gorki geweht wird, nichts von den großartigen Schauspielerinnen, die damals dabei waren und auch heute bereit sind, ihre Gedanken für uns, fürs Theater, zur Verfügung zu stellen – und die dadurch viel jünger und nützlicher sind als die Verfasser dieses blasierten, überflüssigen Pseudospaßes.

Drei Schwestern
Von Anton Tschechow
Regie: Christian Weise, Bühne: Jeeyoung Shin, Kostüme: Pina Starke, Musik: Falk Effenberger, Dramaturgie: Maria Viktoria Linke, Lichtdesign: Ernst Schießl.
Mit: Emre Aksızoğlu, Karim Daoud, Tim Freudensprung, Kinan Hmeidan, Oscar Olivo, Falilou Seck, Falk Effenberger.
Premiere am 1. Oktober 2022
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.gorki.de

Kritikenrundschau

"In einem kaltherzigen und gleichzeitig mitleiderregend verfummelten Reenactment-Verfahren sollte nach den geplatzten Utopien im Studio offenbar wenigstens die Erinnerung festgehalten werden," stellt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (2.10.2022) fest. Das schmerze weil durch den Rückblick das Original leide: "Im Ergebnis färbt das technische Gehampel und das tote Nachsprechen auf die zerfledderte und aus dem Zusammenhang gerissene Vorlage ab, die nun selbst lächerlich und pathetisch wirkt."

Regisseur Christian Weise habe mit diesem Abend bewiesen, dass er sich weder für Theater- noch für Zeitgeschichte interessiere, findet Barbara Behrendt im rbb (2.10.22). Technisch sei es "bewundernswert, wie genau die Schauspieler die Texte und Gesten einstudiert haben und wie präzise sie sie mit dem Rücken zum Fernsehbild synchron performen", urteilt die Kritikerin. Doch einen Mehrwert habe es nicht. "Denn die Schauspieler treten hier nicht als denkende und fühlende Menschen einer anderen Generation auf, die sich mit dem Film, mit seiner Geschichte, mit der Geschichte der DDR oder des Gorki-Theaters auseinandersetzen, sondern als Kaulquappen in grünen Catsuits, jeder Individualität beraubt." In der taz (4.10.2022) ergänzt sie: "Am 29. Oktober soll es nach der Aufführung anlässlich des Jubiläums ein Gespräch mit Mitwirkenden der Langhoff-Inszenierung geben. Spannender als die Aufführung könnte das allemal werden."

Nicht nur, dass der Abend nicht funktioniere – für ihn werde er sogar "zunehmend ärgerlich", weil er "keine Haltung entwickeln" könne zu Langhoffs "Drei-Schwestern"-Inszenierung, berichtet André Mumot auf Deutschlandfunk Kultur (1.10.22). Die "verkürzten Ausschnitte" aus dem Interview mit den drei Schauspielerinnen des damaligen Abends, die "ganz bestimmt viel Substanzielles zu sagen" gehabt hätten, wirkten "zusätzlich desolat".

"Der Abend weiß genauso wenig über die Gegenwart zu erzählen wie über die Vergangenheit. Weder erfährt man etwas über die Tschechow-Figuren vor den verschiedenen gesellschaftshistorischen Hintergründen, noch über die Spielerinnen und Spieler, die sie sich damals oder heute angeeignet haben“, schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (11.10.2022).

"Diese 'Drei Schwestern' sind ein großer Spaß. Und eine große Hommage an die hauseigene Geschichte", schreibt Peter Zander in der Berliner Morgenpost (2.10.2022).

 

Kommentare  
Drei Schwestern, Berlin: Das hat schon Witz
Das Gorki Theater wird 70., Christian Weise, der Regisseur hat sich ein wichtiges Stück vorgenommen, „Drei Schwestern“ von Tschechow, inszeniert 1979 von Langhoff. Die Verfilmung stammt aus dem Jahr 1982. Es war ein wichtiges Theaterstück. Ich hatte es, wie auch die Übergangsgesellschaft in Zeiten des absoluten Corona-Lockdowns im Stream gesehen.
Was macht nun Weise? Er nimmt 7 Schauspieler und lässt sie parallel zum Film, der auf den Monitoren läuft, das Stück parallel spielen. Das hat schon Witz. Da wedren die drei Schwestern Ursula Werner, Monika Lennartz und Swetlana Schönfeld, aber auch Ruth Reiniecke von Schauspielern mit Migrationshintergrund Emre Aksizoglu, Oscar Olivo, Karim Daoud oder auch Falilou Seck gespielt. Wer versteht von der eigentlichen Inszenierung was? Da war etwas in einem Land, das es nicht mehr gibt. Das waren die Sehnsüchte der Menschen dieses Landes. Und diese manifestierten sich in dieser Inszenierung, die insgesamt 157 Mal mit großem Erfolg am Gorki Theater, aber auch in Westdeutschland gezeigt wurde. Damals war es noch eine zur Schaustellung der Sehnsüchte der Brüder und Schwestern im Osten, später dann der Ossis. Und heute? Man kann mit diesem Theater der Zone kaum etwas anfangen, zumindest nicht die Kritiker. Doch das Publikum zumindest am dritten ausverkauften Abend ist hellwach, versteht den Witz, die Ironie und nimmt auch die moderne Gestaltung des zweiten Teils dankbar auf. Am Ende gibt es viel berechtigten Beifall für die Schauspieler*innen.
Drei Schwestern, Berlin: Was soll das?
Wenn das Theater nicht mehr weiter weiss, dann nimmt es sich alte Inszenierungen vor. Selbstreferenz. Wenn es sich dabei auch noch um eine gelungene Inszenierung aus einer politisch brisanten zeit handelt und dann respektlos und weit unter dem damaligen künstlerischen Niveau geblieben wird, dann muss man von einem Komplettversagen sprechen.
Wenn die verantwortliche Intendantin auch noch den Namen des damaligen Regisseurs trägt, ist das einfach traurig. Traurig für Thomas Langhoff.
Drei Schwestern, Berlin: Erkenntnisgewinn gering
Während auf den krisseligen Bildern Ruth Reinecke, Monika Lennartz und Ursula Werner seufzen und leiden, sich voller Pathos „Nach Moskau!“ sehnen, imitieren die meist jungen Gorki-Spieler in froschgrünen, hautengen Ganzkörperanzügen vorne ihre Gesten und Tonlage. Der hohe Ton und feinfühlige Realismus, mit dem damals Peter Stein an der Schaubühne in Berlin-West oder Thomas Langhoff am Maxim Gorki Theater in Berlin-Ost zelebrierten, wirkt aus heutiger Sicht vier Jahrzehnte später gewöhnungsbedürftig. Die Theatermoden sind über die damaligen Spielweisen hinweggegangen, es dauert seine Zeit, sich in den Duktus einzuhören. Aber dieses Live-Reenactment auf der Gorki-Bühne gibt die damalige Inszenierung, die zwischen 1979 und 1993 sage und schreibe 157 mal auf dem Spielplan stand, der Lächerlichkeit preis und veralbert sie. Wenn sich die VHS-Kassette zwischendurch aufhängt, flitzen alle Froschmänner zum Recorder und pusten den Staub weg, bis das Gerät wieder funktioniert.

Der interessanteste Teil der Reenactment-Persiflage ist das Video-Interview mit den drei prägenden Spielerinnen der Gorki-Theater-Geschichte. Sie dürfen einige nachdenkliche Sätze zur damaligen Situation, zu den enttäuschten Hoffnungen, zu Sehnsuchtsorten und zum Kristallisationspunkt Moskau sagen. Aber nicht mal diese Sätze lässt Regisseur Christian Weise für sich wirken, auch diese Passagen werden von den Gorki-Spielern, die mittlerweile keine Frosch-Anzüge, sondern Frauenkleider im Stil des 19. Jahrhunderts tragen, nachgesprochen und ironisch gebrochen, wie Gabi Hift zurecht kritisierte.

Der Erkenntnisgewinn der Unternehmung bleibt sehr gering, ihr Unterhaltungswert ist Geschmackssache.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/10/30/drei-schwestern-christian-weise-gorki-studio-kritik/
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