Ausland / Fampitaha, fampita, fampitàna - Tanz im August
Das Kraftwerk als Kathedrale
17. August 2024. Zwei Abende beim internationalen Berliner Festival "Tanz im August": Jefta van Dinther zeigt seine neueste Arbeit an einem spektakuären Ort. Soa Ratsifandrihana geht unter anderem den Formatierungen des Kolonialismus nach und entwirft humorvoll-klug eine kreolische Kultur
Von Elena Philipp
17. August 2024. Eine Kunstanbetung mit Club-Vibes in der Industriekathedrale: Jefta van Dinther hat sich nichts Geringes vorgenommen. Der Choreograph schwedischer Herkunft, der seit langem schon in Berlin produziert, hat seine Premiere beim Festival Tanz im August im ehemaligen Heizkraftwerk in der Köpenicker Straße angesiedelt. Ein atemberaubender Betonkoloss, dreischiffig wie eine Kirche, eine fast 30 Meter hohe Halle, im Keller darunter mit dem Tresor einer der traditionsreichsten Clubs der Stadt. Enorme Aura umgibt mithin das Kunstereignis.
Kontemplatives Seegras und brutaler Würgegriff
Innig umarmen sich neun Performer*innen im goldenen Licht, wobei einem Kuss auf den Nacken ein harter Würgegriff folgt, einem brutalen Wurf auf eine der fleckigen Matratzen der sehnend ausgestreckte Arm einer Fortgetragenen. Nackt und wie ein schlecht konfigurierter Androide ins Leere starrend erkundet Louise Dahl den Körper von Roger Sala Reyner, der mit geschlossenen Augen John-Dowland-Lyrics singt. Mal nimmt sie seine Augenpartie in den Mund wie ein Säugling sein Spielzeug, dann fährt sie mit der Handkante über seinen Oberschenkel als sei dieser ein Stück Bauholz. Zwischen Kopulation und Kampfsport oszillieren die Bewegungssequenzen, die van Dinther an verschiedenen Stellen im riesigen Raum ansiedelt und in wechselnden Konstellationen ausführen lässt, vom Duett bis zur Gruppenchoreographie. Intim bis irritierend muten sie an, und das ist vermutlich, was der selbst mitwirkende Tänzer-Choreograph mit seinem Ausflug ins Unbehagliche anstrebte.
Das gesamte fast dreistündige minimalistische Geschehen untermalt Billy Bultheel, Tonkünstler auch bei Anne Imhof, mit Dauersound – sanften Streichern und elektronischen Beats, schrillem Sirren oder überweltlichem Blechbläsertuten. Loops und morphende Klänge herrschen vor, einmal singen die Performer*innen gefühlt 20 Minuten lang "Wicked Game" von Chris Isaak in Slow-Mo-Dauerschleife, während ihre Kolleg*innen einander zu Boden drücken oder die Hand unbeteiligt in ein anderes Gesicht legen wie auf ein technisches Bedienelement.
Hohepriester der Zeitgeist-Deutung
Kalt und distanziert wirkt diese Suche nach Nähe und Austausch. Alle Zeichen bleiben äußerlich in der ortsspezifischen Durational Performance – seien es die Anlehnungen an flämische Malerei im Kurzfilm, der zwei nackte Männer in zärtlichem Beieinander zeigt; die mittelalterlich sakral tönenden Gesänge von Mette Nadja Hansen und Gyung Moo Kim, die das Kraftwerk als Kathedrale der Industriekultur adressieren; oder die ansatzweise an Susanne Kennedy erinnernde esoterische Folter-Massage mit Bluetooth-Lautsprechern, aus denen während der intensiv-gewaltvollen Handhabung als heilpraktisches Gerät silbenreicher Singsang tönt.
Zum grandios angesetzten Finale, das sich mit Trommelschlägen vom Anfang der geschätzt 120 Meter langen Halle her ankündigt, hat sich van Dinther "Flow, my tears" des englischen Renaissancekomponisten John Dowland geborgt. Ruckenden Gangs, wie ungelenke Avatare, durchschreiten die Tänzer*innen den grau-lichten Mittelgang. Über ihnen endloser Luftraum, um sie dämmrige Weite. "Hark! you shadows that in darkness dwell, / Learn to contemn light", singt Leah Marojević mit ihrer tiefen Stimme. "Happy, happy they that in hell / Feel not the world's despite", stimmen die übrigen ein. Und neben einem erhebenden Gefühl kulturvollen Menschseins steigt das Unbehagen über die pathosgeneigt einander metzelnde Spezies Homo sapiens mit ihren Falschheiten auf. Künstler als Hohepriester der Zeitgeist-Deutung: ist das nicht verlogen?
Funky ist die Hybrid-Kultur: Soa Ratsifandrihana
Mit diesen Gedanken geht es weiter ans HAU2. Dort zeigt Soa Ratsifandrihana, wie wahrer Austausch gelingen kann. Über 90 Minuten entfaltet sie in "Fampitaha, fampita, fampitàna", zu deutsch in etwa: Vergleich, Überlieferung und Wettstreit, die Erzählung kolonial Geprägter, die ihr eigene Kreolkultur entwerfen. Soa Ratsifandrihana im rosa Prinzessinnenkleid, die zwei Tänzer*innen Audrey Merilus und Stanley Ollivier, höfisch mit Wams und Hosen angetan, und der Musiker Joël Rabesolo im frackartigen Gewand (Kostümbild: Harilay Rabenjamina) stellen sich als Einwanderer Frankreichs in erster, zweiter oder dritter Generation mit familiären Wurzeln in Madagaskar, Haïti oder Martinique und Gouadeloupe vor. Rabesolo, virtuos an Gitarre, Schlagzeug und Synthesizer, spielt auf der E-Gitarre höfische Tänze, die die anderen drei in einer modernisierten Fassung schreiten, hüpfen, drehen. Doch während Rabesolo immer kompliziertere Variationen spielt, bleiben die Bewegungen gleich – diese Körper sind durch das rigide Regime einer kolonialen Kulturalisierung geformt, den ein oder anderen Freestyle-Freeze oder widerständen Akzent unbenommen.
Erst als Joël Rabesolo seine Gitarre nach Rock und Metal klingen lässt, finden Soa Ratsifandrihana, Audrey Merilus und Stanley Ollivier zu freieren, selbstbestimmteren Bewegungen. Irgendwann hören die Tänzer*innen auf, immer wieder Marshmallows aka "weißes Zeug" in sich hineinzustopfen, entledigen sich der unbequemen Kostümteile und ziehen glitzernde Stiefel an. Zu einem funky Beat fügen sie ihrem eckigen Marschschritt schließlich eine lässige, rhythmisch komplexe urbane Footwork-Choreo von Jérémie Polin Razanaparany aka Raza bei. Mühelos gelingt es Soa Ratsifandrihana so, das soziopolitische Faktum der Hybridisierung von Kultur im Tanz als alltäglichen, lebenspraktischen Prozess darzustellen – ernsthaft, aber voll Humor und Leichtigkeit.
Sanfter Widerstand
Joël Rabesolo kontert Audrey Merilus' quälende Sprachunterweisung in Französisch und Englisch via Zungenbrecher-Sätzen mit einer Malagasy-Version, die ihm Soa Ratsifandrihana in lächelndem Einverständnis nachspricht, während die anderen beiden beim Lehrplan bleiben. Äußert sich Widerstand hier auf sanfte Weise, erinnern die Tänzer*innen an die gewaltvollen Unabhängigkeitskämpfe mit der Ausrufung von Straßennamen, denen jeweils eine kurze Spielszene folgt. Die Rue Gallieni, benannt nach dem französischen General und hart gegen Aufständische durchgreifenden Gouverneur Madagaskars, Joseph Gallieni, ist eine Folge gestischer Tritte und Auspeitschungen; in der Rue Toussaint Louverture, nach dem General der haitianischen Revolution, deutet Audrey Merilus eine mitreißende Ansprache ans Publikum an.
Der Text des afrodiasporischen Autors Sékou Semega wird dabei teils übertitelt, teils nicht – ein produktiver Umgang mit Verstehen und Unverständnis, der die Message von "Fampitaha, fampita, fampitàna" nicht schmälert, sondern verstärkt. Soa Ratsifandrihana, die in Paris ausgebildet wurde und in Brüssel bei Anne Teresa de Keersmaekers Kompanie Rosas tanzt, versteht ihr Handwerk und hat etwas zu sagen, ohne darauf lautstark hinzuweisen. Und am Schluss gibt es erst einmal untereinander Umarmungen, bevor sich das Quartett dem Applaus zuwendet. So unverkrampft wie hier kann die viel beschworene Gemeinschaft in der Kunst gelingen.
Ausland
von Jefta Van Dinther
Choreographie: Jefta van Dinther, Musik: Billy Bultheel, Kostüme und Bühne: Cristina Nyffeler, Lichtdesign: Jonatan Winbo, Video: Jefta van Dinther, Max Vitali, Stimmtrainerinnen: Mette Nadja Hansen, Doreen Kutzke, Dramaturgische Beratung: Maja Zimmermann, Outside Eye: Thiago Granato, Voice-over: Chrysa Parkinsson, Technische Leitung: Fabian Bleisch, Andrea Parolin, Koproduktion: Tanz im August Berlin / HAU Hebbel am Ufer, Dansens Hus Stockholm.
Von und mit: Juan Pablo Cámara, Louise Dahl, emeka ene, Mette Nadja Hansen, Leah Katz, Gyung Moo Kim, Leah Marojević, Roger Sala Reyner, Jefta van Dinther.
Premiere am 16. August 2024
Dauer: 3 Stunden, Pausen nach eigenem Bedarf
Fampitaha, fampita, fampitàna
von Soa Ratsifandrihana
Idee & Konzept: Soa Ratsifandrihana, Originalmusik: Joël Rabesolo, Dramaturgie: Lily Brieu Nguyen, Künstlerische Zusammenarbeit: Jérémie Polin Razanaparany aka Raza, Amelia Ewu, Thi Mai Nguyen, Lichtdesign: Marie-Christine Soma, Sounddesign: Chloé Despax, Guilhem Angot, Kostümbild: Harilay Rabenjamina, Unterstützung bei Fragen zu Tradition & Identität: Prisca Ratovonasy, Text: Sékou Semega, Footwork-Choreografie: Raza, Video: Valérianne Poidevin, Technik: Blaise Cagnac, Licht: Diane Guérin, Tontechnik: Guilhem Angot, Entwicklung, Produktion, Distribution: ama brussels – Babacar Ba, Clara Schmitt, France Morin, Outside Eye: Marie Dogahe.
Von und mit: Audrey Merilus, Stanley Ollivier, Joël Rabesolo, Soa Ratsifandrihana.
Deutschlandpremiere am 16. August 2024
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.tanzimaugust.de
Kritikenrundschau
Sandra Luzina vom Tagesspiegel (19.8.2024). schreibt zu "Fampitaha, fampita, fampitàna": "Mit großer Leichtigkeit erzählt Soa Ratsifandrihana von diasporischen Identitäten und der Suche nach einer eigenen Sprache." Und zu "Ausland": "Es geht um die Sehnsucht, einmal in einen anderen Körper zu schlüpfen, und um verschiedene Formen der Entgrenzung." Jefta van Dinther spiele mit Ambivalenzen, die Lust an Trangression und Selbstüberwindung sei durchaus spürbar.
"Absolut beeindruckend" findet Frank Schmid vom Inforadio (19.8.2024) die Arbeit "Ausland": "Das ist ein bombastischer, pathetischer, emotional hochaufgeladener Performanceparcours.“ Noch stärker fand er die Produktion von Soa Ratsifandrihana. "Die junge Choreographin muss man unbedingt im Auge behalten!"
"Ratsifandrihana hat bei der großen Schrittschleiferin Anne Teresa De Keersmaeker in Brüssel studiert und offenbar auch gelernt, wie sich eine Geschichte ohne Chichi erzählen lässt", schreibt Dorion Weickmann in ihrem "Tanz im August"-Auftaktbericht für die Süddeutsche Zeitung (22.8.2024). "Das Wunder dieser Aufführung sind die Chiffren, die sich wie von selbst dechiffrieren. Da enthüllt ein französischer Zungenbrecher die Demütigung forcierter Assimilation, weil ihn zwar die tanzenden Migrantinnen der zweiten und dritten Generation herunterhaspeln können, nicht aber der unlängst zugezogene Gitarrist." Jefta van Dinthers "Ausland" wird nur en passant abgehandelt.
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nachtkritikvorschau
Ebenso schnell wie sich Audrey Merilus, Stanley Ollivier und Soa Ratsifandrihana zur Live-Musik von Joël Rabesolo (E-Gitarre, Percussion) um die eigene Achse drehen, kreist auch „Fampitaha, fampita, fampitàna“ um die Themen kulturelle Aneignung, Aufoktroyieren kolonialer Strukturen und Suche nach eigener Identität. Viel länger als die Liste der Performer*innen ist die Aufzählung all der Menschen, die als Outside-Eye oder mit fachlicher Expertise an der Produktion mitgewirkt haben, die im Mai beim Brüsseler Kunstenfestival herauskam. Dort lebt auch Regisseurin und Hauptakteurin Ratsifandrihana, die seit 2016 Mitglied der Compagnie von Rosas von Anne Teresa De Keersmaeker ist.
Hin- und herspringend zwischen französischen Zungenbrechern im Stil von „Fischers Fritz“ und Straßennamen, die auf koloniale Gewalt anspielen, ist der Abend so facettenreich und spielt auf so viele Motive der französischen, haitianischen oder madagassischen Kultur an, dass er erst mit Beipackzettel verständlich wird.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/08/18/fampitaha-fampita-fampitana-tanz-kritik/