Der Kopf ist ab

31. Oktober 2022. Früher war wenigstens noch klar, von wem das Volk betrogen wird: Peter Jordan und Leonhard Koppelmann haben jetzt das Vorzeigepaar des französischen Absolutismus vom Schafott geholt. Anna Thalbach und Alexander Simon brillieren als Marie-Antoinette und Louis XVI. an einem Abend zwischen Türenklapp und Castorf-Volksbühne.

Von Georg Kasch

"Marie-Antoinette oder Kuchen für alle!" in der Inszenierung von Peter Jordan und Leonhard Koppelmann © Franziska Strauss

31. Oktober 2022. Wo sollen sie bloß mit dem Kopf der Dubarry hin? Eben gab es einen Guillotine-Unfall, jetzt steht völlig ungelegen Robespierre auf der Matte. Wenn dem Ex-König und der Ex-Königin ein Mord nachgewiesen werden könnte, wären sie selbst ihren Kopf los, und das nicht als Opfer politischer Willkür, sondern als verurteilte Täter. Also machen sie dem ungebetenen Gast vor, sie probten Theater. Zeitgenössisches, klar – in Doppelregie. 

Versammlung der Endzeitgesellschaft

Was, wenn Ludwig XVI. und Marie-Antoinette nicht schon vier Jahre nach der französischen Revolution 1789 hingerichtet worden wären, sondern 20 Jahre später immer noch auf ihre Enthauptung warteten? Das ist die Ausgangslage in Peter Jordans und Leonhard Koppelmanns schwarzer Komödie "Marie-Antoinette oder Kuchen für alle!". Bei ihnen leben Ex-König und -Königin vollkommen weltfremd in ihrer Versailles-Filterblase dahin, betreut von den beiden letzten Diener:innen. Wenn draußen das Volk vor Hunger brüllt, schließen sie schnell das Fenster. Nur hin und wieder tauchen ehemalige Weggefährt:innen auf, mit denen sie ihre alten Intrigen und Verschwörungstheorien weiterspinnen (Spoiler: an allem sind die Juden und die Freimaurer schuld). Zwischendrin spotten sie über ihr nahendes Ende.

Kommt einem irgendwie bekannt vor? Die Vertreter:innen einer Endzeitgesellschaft, die sich beim Warten auf die längst eingepreiste Katastrophe von den alten Gewohnheiten nicht lösen mag und sich dabei noch immer leidlich amüsiert, sitzen ja auch in der Berliner Komödie am Kurfürstendamm (das vorübergehend im Schillertheater residiert), wo Jordan und Koppelmann ihr Stück selbst inszeniert haben. Den spontansten Applaus gibt es gleich zu Beginn, als sich der Vorhang teilt und den Blick freigibt auf Säulen, Spiegel, Putten. Alles Fototapete natürlich, aber doch so geschickt mit dreidimensionalen Elementen verschränkt, einem Prunkbett, einem Fake-Cembalo, mehreren Globen, dass man eine Weile was zu gucken hat.

Im Ornat des Spätabsolutismus

Hier versichern sich die beiden Häupter ohne Krone, aber im vollen Ornat des Spätabsolutismus – Turmperücken, Jabots, ausladende Kleider – einander ihrer Wichtigkeit und wundern sich über die Demokratie. O-Ton Louis: "Das Volk wird betrogen! Bei uns war immer klar, von wem, und jetzt ist es einfach nur – komplizierter!" Zwischendrin erweist sich die Halsbandaffäre als Running Gag, und natürlich sind hier alle sehr viel klüger als die historischen Figuren. Hübsch auch, dass Philipp Hagen als letztes Mitglied des königlichen Orchesters am getarnten Keyboard von der "Schönen blauen Donau" übers "Ave Maria" bis zur französischen "My way"-Version "Comme d'habitude" jedem Auftritt einen ironisch gefütterten Klangteppich webt.

marie antoinette 05 franziska strauss uBlick vom Balkon: Anna Thalbach als Marie-Antoinette © Franziska Strauss

Das ist oft komisch, manchmal auch grob kalauernd. In seinen besten Momenten pumpt es schamlos die Klassiker des Genres an, die Morbidität von "Arsen und Spitzenhäubchen", die Enthemmungs-Dramaturgie von "Der nackte Wahnsinn", die politische Doppelbödigkeit von "Sein oder Nichtsein". Um deren Flughöhe zu erreichen, reißt es vielleicht etwas zu viele Schubladen auf.

Was auch für die Inszenierung gilt, die ästhetisch sehr locker zwischen Türenklapp-Dramaturgie und den Bühnenorgien der Castorf-Volksbühne pendelt; zwischendrin gähnt das ein oder andere Spannungsloch, zumal die vielen Nebenrollen bei Max von Pufendorf und Annika Kuhl sehr verschieden ausfallen. Allerdings hält die Inszenierung eine echte Überraschung bereit: Nach der Pause sind Louis und Marie-Antoinette auf einmal ihre Machtinsignien los, tragen nicht viel mehr als Leibwäsche zur Splatterorgie. Und wirken plötzlich volksnah.

Mit erstaunlicher Eigentlichkeit

Dass man bei dieser wilden Volte mitgeht, liegt an Alexander Simon und Anna Thalbach, die einen als Louis XVI. und Marie-Antointette völlig um den Finger wickeln. Schnell ist es einem egal, dass es sich bei ihren Rollen um keine psychologischen Charaktere handelt, sondern um royale Karikaturen, die je nach Situation dummdreist und zynisch, aber auch clever und zupackend sein können. Simon grundiert seinen Ex-König mit erstaunlicher Eigentlichkeit, Thalbach ihre Ex-Königin mit göriger Divenhaftigkeit.

Dass sie, je länger der Abend dauert, desto knuffiger und zugänglicher wirken, hat schon seine Richtigkeit: Wenn gegen Ende Robespierre auf Putins langem Konferenztisch Shakespeares Brutus-Monolog spricht und sich Napoleon schon die marschierenden Truppen ausmalt, wirken die alten Herrscher nämlich plötzlich ziemlich lässig. Da gönnt man ihnen auch ihre wundersame Rettung. Schade nur, dass dieses Happy End eine reine Theaterlösung ist. Für unsere eigene Endzeitgesellschaft müssen wir uns ein anderes Finale ausdenken.

Marie-Antoinette oder Kuchen für alle! 
von Peter Jordan und Leonhard Koppelmann
Uraufführung
Regie: Peter Jordan und Leonhard Koppelmann, Bühne: Stefanie Bruhn, Kostüm: Barbara Aigner, Musik: Philipp Haagen.
Mit: Anna Thalbach, Alexander Simon, Max von Pufendorf, Annika Kuhl, Philipp Haagen.
Uraufführung am 30. Oktober 2022
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.komoedie-berlin.de

 

Kritikenrundschau

Oliver Kranz berichtet im Inforadio des rbb (1.11.2022) über eine "schräge Komödie", der es weniger um die historische Wahrheit als "um die Gags" gehe. "Es ist schwarzer Humor, aber die Gags werden so müde serviert, dass trotz dieser absolut irrwitzigen Handlung der Humor nicht zündet. Es fehlt Timing, Tempo, Energie, die Handlung wird im Verlauf des Stücks immer absurder, aber man kann es trotzdem noch irgendwie vorausahnen und das ist für die Komik tödlich."

"'Marie Antoinette' ist kein Krachboulevard. Es versagt sich, von der Blutsuhlerei mal abgesehen, grobe Schenkelklopfer, der Humor ist viel feiner, ironischer, auch böser, wenn unsere heutigen Werte von der saturiert-verkommenen Elite von einst in Frage gestellt werden", schreibt Peter Zander in der Berliner Morgenpost (1.11.2022). Der sehr angetane Kritiker wünscht dem Stück großen Erfolg auch auf weiteren Bühnen.

"'Marie Antoinette‘ zeigt, wie man Gegenwartstheater mit historischen Kostümen für ein breites Publikum machen kann, ohne auf Unterhaltung zu verzichten", schreibt Jakob Hayner von der Welt (1.11.2022). Jordan und Koppelmann zögen alle Register des Komödiantischen. Es gehöre zudem zu den Stärken der Inszenierung, zahlreiche Assoziationen zur gegenwärtigen Weltlage zu wecken, ohne sich auf eine festzulegen. "Während das Diskurstheater unserer Zeit durch übertriebenen Ernst oft unfreiwillig komisch wirkt, zeigt der Boulevard hier, dass ernste Dinge manchmal nur durch Komik ausgedrückt werden können."

Kommentare  
Marie Antoinette, Berlin: Tortenwelt von Versailles
Mit dem unverwechselbaren, leicht kratzigen, lautstarken Organ, mit dem die gesamte Thalbach-Familie gesegnet zu sein scheint, legt Anna Thalbach einen großen Auftritt als Marie Antoinette hin. Blitzschnell kann sie umschalten zwischen nölender Langeweile, die Krallen ausfahren und ihren Louis-Schnucki um den Finger wickeln.

Die neue Komödie des Duos Peter Jordan/Leonhard Koppelmann hat während der ersten Stunde viel von dem zu bieten, was gutes Boulevard-Theater ausmacht: starke Darsteller*innen, die die Komik ihrer Figuren auskosten, ohne sie zu Knallchargen werden zu lassen, ein Gespür für Timing und natürlich eine Reihe schöner Gags, die um die zentrale Idee der Inszenierung kreisen: der sichtlich überforderte Louis XIV. und seine immer wieder zum Fenster rennende und hinausbrüllende Gattin warten – entgegen der tatsächlichen Historie – seit zwanzig Jahren auf ihre Hinrichtung, die die Revolutionäre angekündigt, aber immer wieder verschoben haben.

Aus diesem Warten auf das bevorstehende Ende bezieht die erste Hälfte ihre Komik. Schwarz und morbide ist oft der Humor.

Nach der Pause verliert das Duo Jordan/Koppelmann, das sich Text und Regie teilte, den roten Faden. Mit viel Türengeklapper tauchen diverse Nebenfiguren wie Robbespierre oder Napoleon in der bonbonbunten Tortenwelt von Versailles auf, die Stefanie Bruhn gestaltete. Statt feiner Dialoge gibt es nun mehr Humor der gröberen Sorte: ausgiebigen Slapstick mit klemmender Guillotine, die dann ausgerechnet doch funktioniert, als sich die lästige Mätresse hinlegt, Ausrutschen über Blutlachen und Kalauern. Das ergibt dann für die zweite Hälfte Boulevardtheater der schwächeren Sorte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/11/05/marie-antoinette-oder-kuchen-fuer-alle/
Marie Antoinette, Berlin: Plump, überdreht
Offen gestanden kann ich die Kritik von „Kunstexperten“ nicht nachvollziehen. Das Stück und die Regie gehen voll an dem Zuschauergeschmack vorbei.Ich war bis auf gelegentliche Ausnahmen immer der Meinung, man inszeniert für das Vergnügen der Zuschauer oder dafür, dass es sich sich das Stück finanziell trägt, um das Überleben des Theaters und der Schauspieler zu finanzieren. Auch Satire ist eine feine Sache, wenn sie klug vorgetragen wird. Aber dieses Stück wurde wohl nur zum Selbstzweck entwickelt. Das Stück ist sehr gut im Bühnenbild und der Maske, auch die schauspielerische Leistung sollte mehr gewürdigt werden, aber das ist bei der Plumpheit und Überdrehtheit des Stückes kaum möglich. Kein Wunder, dass ein großer Teil des Publikums in der Pause das Theater verlassen hat. Bedauerlich ist nur, dass man sich vorher nur auf die nicht nachvollziehbaren Kritiken verlassen kann, aber hinterher sein Geld nicht zurückfordern kann. Ich bin gespannt, ob sie auch „Volkes Stimme“ veröffentlichen.
Marie-Antoinette, Berlin: Unzulässig daneben
Wir wussten worauf wir uns einlassen, lustiges Boulevard-Theater. Aber das war es nicht! Gut, ich versuche es für Sie zu sortieren.
Die Bühne ist schön und opulent, wie es zum Thema passt.
Die Schauspieler*innen haben alle wunderbar gespielt und gesungen. Es liegt wahrscheinlich in der Natur der Sache, dass das Spiel und die Stimme von Anna Thalbach uns sehr an ihre Mutter erinnert hat.
Der Musiker und auch die Musikauswahl und der Umgang damit waren nett.

Aber was wurde von den Autoren- bzw. Regiemännern Jordan/ Koppelmann fabriziert? Der Belustigungswert der vermeintlichen Aktualisierungen verfehlte völlig der Zweck. Das war einfach nur flach eingestreut.
In der Annahme, dass die Regie auch auf die Ausstattung Einfluss genommen hat, ist zu fragen, wie der Putin-Tisch und die Ukraine-Fahne in dieses Stück kommen!?
Total unsensibel, nicht zum Zusammenhang und schon gar nicht in einen Komödienabend passend, kamen diese Ausstattungsgegenstände auf die Bühne um nicht wirklich bespielt zu werden. Angesichts der Tagespolitik kann das jeder auf seine Art interpretieren. Für uns wurde jedenfalls die Ukraine-Fahne als Kostüm verunglimpft und lächerlich gemacht. Oder wie kann man glänzendes Tuch in hellblau und gelb mit goldenen Fransenrand interpretieren? Der klein nachgebaute Putin-Tisch scheint für die Regie der Gewinnertisch zu sein, wenn am Ende der kleine Napoleon sich darauf präsentiert und die Weltherrschaft anstrebt. Oder was soll das? Ein Zusammenhang des aktuellen Krieges und Ihrer angeblichen Komödie ist einfach unzulässig daneben! Es ist nicht nur peinlich, sondern disqualifiziert die Regie!
Ich persönlich bin sehr verwundert, dass Anna Thalbach sich hat vor diesen Karren spannen lassen.
Zur Dramaturgie kann ich Ihnen berichten, dass wir nicht gebannt waren, eher Kopf schüttelnd uns wunderten.
Ein schöner, lustiger Abend war das für uns nicht! Schade, wir zahlen gern einmal 32 €, wenn es uns Freude macht. Leider ist das bei Marie-Antoinette alles andere als zutreffend.
Insofern schließe ich mich auch den Ausführungen von Frau Thieslack an.
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